Im Kontext der Missbrauchskrise und der dazu erschienenen Beiträge wendet sich eine Leserin, die aufgrund ihrer Situation anonym bleiben möchte, mit einem offenen Brief an die deutschen Bischöfe. feinschwarz.net veröffentlicht diesen Brief einer „Überlebenden“ als Leserinnenbrief von „Madame Survivante“.
Sehr geehrte Herren Bischöfe,
ich schreibe Ihnen, ich kann nicht anders! Warum dieser Brief und warum ausgerechnet von mir? Weil ich angehende Theologin bin? Vielleicht, denn die Missbrauchskrise der Kirche ist so tiefgreifend, dass die Problematik auch theologisch aufgearbeitet werden muss. Oder weil mir das Evangelium vom Dienstag (Mk 9,30-37) nicht mehr aus dem Kopf geht, das sowohl Spiegel für als auch potentielle Antwort auf die momentane Krise bietet: Während die Jünger noch darum streiten, „wer von ihnen der Größte sei“, stellt Jesus „ein Kind in ihre Mitte“. Braucht es noch mehr ‚Kopernikanische Wende‘?! Vielleicht schreibe ich Ihnen aber auch, weil ich in Sachen Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche eine ‚unfreiwillige Expertin‘ bin. Menschen wie mich nennt man auch ‚Opfer‘, ‚Betroffene‘ oder ‚Überlebende‘. Ich bevorzuge Letzteres, da diese Bezeichnung auf einen Kampf schließen lässt, aus dem man verwundet aber nicht vernichtet hervorgegangen ist.
verwundet aber nicht vernichtet
Ich weiß, dass es hart ist, „dem Monster in die Augen zu sehen“. Ich kann mir vorstellen, dass es desillusionierend bis furchtbar für Sie ist, zu erfahren und zu begreifen, dass es Priester – also Menschen die das gleiche Amt wie Sie innehaben, die ihr Leben der gleichen Institution, dem gleichen Evangelium gewidmet haben – gibt, die unfassbare Schuld auf sich geladen haben. Ich habe diesen Prozess schon hinter mir: Ich habe schon mit elf Jahren lernen müssen, dass es Priester gibt, die nicht (wie man mir beigebracht hat) mehr Gott als Mensch sondern mehr Tier als Mensch sind… Und ich verstehe auch, dass Sie sich angesichts dieser Abgründe am liebsten abwenden und innerlich die Flucht ergreifen würden. Auch ich musste für einige Zeit die Flucht (aus der katholischen Kirche) ergreifen, um Abstand zu den Geschehnissen zu bekommen – eigentlich um nie wieder mit ‚diesem Verein‘ und seinen Vertretern in Berührung zu kommen. Wie Sie meinem Brief schon entnehmen konnten: Es ist anders gekommen. Ich habe den Weg zurück zum Glauben und sogar zur katholischen Kirche gefunden. Ich habe sehr lange mit diesem Prozess gehadert, habe meinem eigenen Glauben misstraut, ihn für eine seltsame Form von Stockholm-Syndrom gehalten. Paradoxerweise hat mir ausgerechnet die Theologie auf diesem Weg und bei der Aufarbeitung meiner Vergangenheit sehr geholfen, weil ich mir dadurch eine eigene Deutungshoheit zurückerkämpfen konnte: Dass das Evangelium Ihrer und meiner Kirche eine Frohe Botschaft ist, die ein Kind in die Mitte stellt, in der es um die Freiheit des Menschen, seine unantastbare und gottesebenbildliche Würde geht.
Das Evangelium ist eine Frohe Botschaft, die ein Kind in die Mitte stellt, in der es um die Freiheit des Menschen, seine unantastbare und gottesebenbildliche Würde geht.
Auch für mich war die Veröffentlichung der MHG-Studie geradezu traumatisierend: Ich habe mich aus Selbstschutz jahrelang sowohl von der Kirche als auch von der ganzen Missbrauchsthematik so gut es ging ferngehalten. Die Veröffentlichung hat mich endgültig gezwungen, mich diesem Thema und somit auch meiner Vergangenheit zu stellen. In einem sehr schmerzhaften Aufarbeitungsprozess habe ich „dem Monster in die Augen gesehen“, habe mich ganz auf die Emotionen und die Erinnerungen eingelassen, gelernt sie auszuhalten, zu ordnen – und sie schließlich zu überwinden. Und nicht nur das, sondern es ist mir auch gelungen, gestärkt und mit viel Kampfgeist und Veränderungswillen daraus hervorzugehen. Diesen Prozess kann ich Ihnen nur ans Herz legen: Blicken Sie in die Abgründe, suchen Sie einen ehrlichen und direkten Kontakt zu den Betroffenen, stellen Sie sich dieser Situation, lassen Sie sich emotional darauf ein, lassen Sie sich verwunden, ordnen Sie Ihre Gedanken hierzu – und wandeln Sie schließlich alles in die Kraft, für eine auch fehlbare aber dadurch menschlichere, glaubwürdigere, erneuerte Kirche zu kämpfen.
Denn Ihre Kirche ist jetzt auch wieder meine Kirche und ich will nicht, dass sie mir ein zweites Mal genommen wird – durch Untätigkeit, durch mangelnden Veränderungswillen, durch einen erneuten Glaubwürdigkeitsverlust.
Ihre Kirche ist jetzt auch wieder meine Kirche und ich will nicht, dass sie mir ein zweites Mal genommen wird.
Natürlich können Sie sich jetzt in ideologische Grabenkämpfe verwickeln, diverse Agenden mit Missbrauchs-Bekämpfung verwechseln. Für diesen Fall möchte ich Ihnen aber zwei Erkenntnisse aus der MHG-Studie mit auf den Weg geben: 1. Der Missbrauch hält an (weniger Fälle aber proportional auch weniger Priester) 2. Der Missbrauch fand und findet in allen katholischen Lagern und Milieus statt.
Und während Sie noch diskutieren und sich gegenseitig blockieren, laufen Ihnen Zeit und Mitglieder davon!
Deshalb: Raufen Sie sich zusammen! Machen Sie sich bewusst, dass es eventuell schon fünf nach 12 ist! Halten Sie sich an die Fakten (Sie haben das ‚Glück‘, dass es eine wissenschaftliche Studie inklusive dem Kapitel Empfehlungen zu diesem Thema gibt!)! Lassen Sie sich erschüttern und schöpfen Sie Kraft daraus! Wagen Sie mehr Augenhöhe mit den Gläubigen, mehr Gewaltenteilung, mehr Kinderschutz, mehr ‚Frau‘, mehr Eintracht um der Sache willen – sprich: Mehr Evangelium!
Mit freundlichen Grüßen
Ihre
J. B.
PS: Eine Synode wäre doch schon mal ein guter Anfang…
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Name und Anschrift der Leserin liegen der Redaktion vor. (ergänzt am 4.3.2019)