Veränderungsprozesse bestimmen die katholische Kirche in Deutschland in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Wer sie begleitet, braucht Kraft und innere Freiheit. Von Marion Schwermer.
Wandel bestimmt die Kirche mit einer Dynamik, die das – vielleicht typisch deutsche – Denken in Kategorien, Polaritäten und Bewertungsrastern hinter sich lässt und die Entscheidungsformate der Bistümer an die Grenzen bringt. Das betrifft die kirchliche Verwaltung, die beruflich Tätigen in der Seelsorge, die Gläubigen in der Pfarrgemeinde, die Diözesen als episkopale kirchliche Grundstruktur sowie die ganze deutsche Kirche durch den synodalen Weg.
Dynamischer Wandel
Nun gibt es kirchliche Entwicklungsprozesse, die von einem Ausgangszustand zu einem bestimmbaren Endzustand führen. Neues Wissen und neue Abläufe werden implementiert, wenn zum Beispiel das Rechnungswesen der Diözesen auf moderne Buchführung umgestellt wird.
Andere Entwicklungsprozesse sind ergebnisoffen angelegt. Ausgehend von einem bestehenden Zustand wird der Entwicklungsprozess geplant und gesteuert, wie zum Beispiel der Aachener Bistumsprozess „Heute bei Dir“. Hier kommen externe Prozessexpertinnen und -experten ins Spiel; wissenschaftlich angebundene Institute setzen ihre standardisierten Prozessdesigns ein.
Spannend und hier zum Thema wird eine dritte Form von Prozessen. Ausgehend von einem nicht bestimmbaren Anfangszustand besteht Entwicklungsbedarf oder es passieren Veränderungen, ohne dass absehbar ist, welches Szenario wann erreicht werden könnte. Hier wird Kirche mit sich selbst konfrontiert, dem Spannungsfeld zwischen Traditionsabbruch und Transformationswillen ausgesetzt, noch gut gebettet in einer finanzstarken, gesellschaftlich anerkannten Institution, aber schon geängstigt von der Auflösung überkommener Sozialformen und divergierenden Glaubensvorstellungen.
Kirche wird mit sich selber konfrontiert
Diese kirchlichen Veränderungsprozesse werden intern und unsystematisch gestaltet als lokale Kirchenentwicklung, im Provinzkapitel, in Klausurtagungen bischöflicher Gremien, in Supervisionsgruppen für die Personen, die an den oben genannten Prozessen teilhaben, in der Auswertung von Exkursionen zu Orten, an denen kirchliche Transformation exemplarisch gelebt wird. Hier wird die Kirche selbst aktiv, richtet Stabsstellen zu Strategie und Kirchenentwicklung ein und greift gerne auf theologisch gebildete und glaubenserprobte Menschen zurück. Hier geht es ums Ganze, um das Fundament und die Sendung, um Kirche als Zeichen und Werkzeug des verheißenen Heils. Kirche im Wandel wird inzwischen nicht als Übergangsphänomen, sondern als Selbstzuschreibung verstanden.
Doch wer sich in diese Prozesse hereinbegibt, um sie zu moderieren, zu supervidieren oder beratend zu begleiten, braucht viel Kraft und eine hohe Ambiguitätstoleranz. Dort findet man Buntmenschen und schwarze Löcher, integre, kompetente, zugewandte und glaubenserfüllte Personen und von denselben Menschen Beziehungslosigkeit, Inkongruenz, entpersonalisierte Verantwortung und Kontingenz. Hier seien einige Erfahrungen benannt.
Notwendig: Viel Kraft und Ambiguitätstolereanz
Begegnungen in der katholischen Kirche sind geprägt von Freundlichkeit, Zugewandtheit und Rücksichtnahme. Gastfreundlich wird man eingeladen, alle werden ins Gespräch eingebunden. Doch gibt es Regeln, die unausgesprochen gelten und unbekanntes Terrain sind. Wer etwa beim Essen in einer Ordensgemeinschaft lebhaft mit seinem Auftraggeber ins Gespräch kommt und sich freut, dass alle interessiert zuhören, kennt nicht die Regel, dass alle sitzen bleiben, bis der Ordensobere das Essen durch Gebet beendet. Oft bleibt dann ein Gefühl zurück, etwas falsch gemacht zu haben. Beziehung und Beziehungslosigkeit stehen nebeneinander. So kann es auch nach längerer Prozessbegleitung passieren, dass der Folgeauftrag anderweitig vergeben wird, wenn interne Terminverschiebungen nicht direkt nachvollzogen und bestätigt werden.
Formale Machtausübung findet sich selten in kirchlichen Entwicklungsprozessen. Es gibt eine achtsame Gesprächskultur, in der verschiedene Meinungen ausgesprochen, angehört und akzeptiert werden. Diese Offenheit untereinander ist vertraut und dient der Sache, da der Diskurs mit den immer gleichen Personen über Jahrzehnte in wechselnden Konstellationen eingeübt ist. Doch solange die Menschen ihre verschiedenen Statements nicht in Beziehung bringen und gegeneinander abwägen und einordnen, beginnt kein Prozess der Auseinandersetzung und der Weiterentwicklung.
Achtsame Gesprächskultur, aber wenig Auseinandersetzung
Macht hat, wer den Zeitpunkt und die weitere Richtung bestimmt. Wie und wann Entscheidungen getroffen werden, ist für den Prozess unzugänglich und nicht transparent. Machtausübung wird dadurch verschleiert, Inkongruenzen werden nicht angesprochen und nicht zur Klärung bzw. zum vertieften Verstehen genutzt. So spricht ein Konvent über ein Jahr hindurch in der Supervision über die Frage, ob und wie die Zukunft des Ordens aussehen könnte. Entscheidungen bis hin zur Auflösung der kontemplativen Gemeinschaft werden aber erst nach Ende dieses Reflexionsprozesses getroffen und umgesetzt.
Verantwortliche in der Kirche sind inzwischen zum großen Teil davon überzeugt, dass der Blick von außen durch Beratung, Supervision und Moderation sinnvoll und weiterführend ist. Waren es anfangs meist kirchlich beauftragte männliche Kräfte – Frauen waren höchstens durch Ordensfrauen vertreten –, so werden inzwischen auch Frauen als Externe angefragt.
Entpersonalisierung der Verantwortung
Wenn allerdings ein Kontraktgespräch vermieden wird oder sich über drei Stunden hinzieht, wenn das Ziel der Klausurtagung bis zum Beginn der Veranstaltung nicht transparent ist und wenn alle Vorschläge ohne Diskussion freudig durchgewunken werden, dann heißt es: Aufpassen! Die Verantwortung für die Inhalte des Prozesses liegt wie heiße Kartoffeln im Raum. Die Entpersonalisierung der Verantwortung reißt schwarze Löcher auf, und die Versuchung ist groß, als Moderatorin das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Beraterinnen und Berater tun gut daran, auf die Verantwortlichkeit Einzelner zu bestehen und konkrete Handlungsweisen einzufordern.
So etwa, wenn in einem mehrtägigen Provinzkapitel über eine kontrovers diskutierte Stellenbesetzung entschieden werden soll. Bei der Planungsrunde am Vorabend erklärte der Ordensobere, dass er just am Tag der Entscheidung 400 km entfernt eine Spende entgegennehmen müsse und nicht anwesend sein könne. Erst die Intervention, dass bei so einer gravierenden Änderung des Programms eine externe Moderation nicht mehr erforderlich wäre, sorgte für ein Einlenken.
Kirchliche Entwicklungsprozesse leben von charismatischen Personen, die Frauen und Männer begeistern und an Kirche beteiligen. Daneben bestehen formal-bürokratische Machtstrukturen sowie ein Machtsystem, das auf Hierarchie, Loyalität und Standesdenken beruht. Alle drei Gestaltungsweisen haben eigene Machtmechanismen und im System Kirche ihre Berechtigung. Schwarze Löcher entstehen dann, wenn der Wechsel von einer Machttechnik zur anderen unerwartet und willkürlich erfolgt.
Problematische Wechsel der Machttechniken
Dies geschieht zum Beispiel, wenn der Gesamtverantwortliche ein Dokument partizipativ erarbeiten lässt, dann aber kurz vor der Veröffentlichung den Passus zur Verbindlichkeit aus dem Text streicht mit der Begründung: Das verstehe sich von selbst. Auf den Hinweis, dass damit die Beteiligten übergangen und die Partizipation unglaubwürdig würde, wird die Änderung rückgängig gemacht mit den Worten: Ja, wenn Sie als Moderatorin das meinen, dann lassen wir den Passus drin. Der doppelte Wechsel von personaler Macht und formal-partizipativer Gestaltung konterkariert Prozesse und bringt auch Prozessbegleitende in Erklärungsnot.
In kirchlichen Kontexten findet sich überraschend wenig Prozesskompetenz. Oft kommt es zu Entscheidungen, die unberührt bleiben vom Vorher und Nachher, unverbunden bleiben mit den handelnden und betroffenen Personen und dem, was durch diese Entscheidungen an Haltung ausgedrückt und an Emotionen ausgelöst wird.
Die sensible Begleitung von Kirchenentwicklungsprozessen kostet daher viel Kraft. Die ausgelösten Gefühle reichen von wütend, hilflos, enttäuscht, verletzt bis zum Zweifel, ob solche Prozessbegleitung überhaupt Sinn macht. Der Umgang mit dem Unbesprechbaren, nicht Reflektierbaren, dem So-tun-als-ob und dem Weitermachen-wie-vorher fordert einen hohen Einsatz und entschiedenes Handeln. Nur für eine Emotion bietet die Kirche genügend Platz: für die Angst.
Systemische Dynamiken männlich dominierter Machtspiele
Als psychologisch und supervisorisch geschulte Frau bin ich mit systemischen Dynamiken und männlich dominierten Machtspielen sehr vertraut. Für diese Wahrnehmung braucht es einen inneren Freiheitsraum, den sich Menschen leichter erhalten können, wenn sie nicht in Kirche angestellt sind bzw. kein Amt ausüben. Doch wer sich der christlichen Freiheit verpflichtet weiß, fragt sich, inwieweit das Vertrauen auf die Führung des Heiligen Geistes in der Kirche wirklich gelebt wird. Spirituell gesehen kann Kirchenentwicklung auch am praktischen Atheismus der Verantwortlichen scheitern.
Notwendig: Integrität, Kompetenz und Spiritualität
Fachlich sind die schwarzen Löcher als Übertragungsphänomene zu bearbeiten. Sie spiegeln die Gefühle wider, die der Kirche als Institution und in ihren Akteuren zu eigen sind und nicht sein dürfen oder keinen Raum finden. Sie werden die Kirche bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und geistlichen Missbrauchs und bei ihren Entwicklungsprozessen weiter begleiten. Es wäre an der Zeit, mit Buntmenschen, die integer, kompetent und spirituell Kirche der Zukunft gestalten wollen, darüber ins Gespräch zu kommen.
Marion Schwermer ist promovierte Theologin und Psychologin, www.wertimpuls.de, Organisationsberatung Bonn
Von der Autorin: Bestimmt handeln. Entschiedenheit aus christlicher Existenz im pastoralen Feld der Gegenwart. Eine empirische Untersuchung, Würzburg 2018
Photo: S. Hofschläger; pixelio.de