Nicht Konservatismus und Liberalität, nicht einmal Soziales stehen an erster Stelle des christdemokratischen Gedankens, sondern die tägliche Auseinandersetzung mit der Frage: Was ist eine christliche Haltung im demokratischen Politikbetrieb in einer pluralisierten, säkularen Gesellschaft? Ein Plädoyer von Benedikt Groß, Marius Menke, Gabriel Rolfes und Lars Schäfers.
Es ist Zeit für einen Aufschrei, eine Anklage, einen „cri de coeur“: Die Führungsspitze der Christlich Demokratischen Union sorgt in diesem Jahr immer wieder für Schlagzeilen durch Äußerungen, die Annäherungsversuche an die Wählerschaft der rechtspopulistischen Partei „Alternative für Deutschland“ offenbaren. Dabei lässt sie sich von populistischer Rhetorik und agenda setting der Neuen Rechten leiten, indem etwa klar besetzte Begriffe und talking points aus diesem Milieu für christdemokratische Politik übernommen werden und dadurch die Gefahr einer Normalisierung dieser verwerflichen Positionen besteht.
Dieses Vorgehen des CDU-Führungspersonals traf innerhalb der Partei auf deutlichen Widerspruch. Es verstößt nämlich nicht nur gegen die geltende Beschlusslage der Partei, die sich auf eine „Brandmauer gegen rechts“ festgelegt hat. Mehr noch zeigt es die Notwendigkeit einer grundlegenden Vergewisserung der Unionspartei über die Ursprünge der in Deutschland lange politisch wirkmächtigen christdemokratischen Idee. Gemeint sind die Erfahrungen mit der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus und der daraus erwachsenden anti-faschistischen und anti-extremistischen Stoßrichtung. Das heißt für heute: Gründend auf zeitgenössischen Ansätzen der christlichen Soziallehre und dem ihr zugrundeliegenden Menschenbild braucht es eine geistig-weltanschauliche Brandmauer nach rechts.
Die CDU ist eine christdemokratische, keine konservative Partei
Auf welchem Fundament muss die Brandmauer errichtet und fortlaufend instandgehalten werden? Das „C“ weist als wertegebundener Kompass die Richtung: In Reaktion auf die Herrschaftspraxis des nationalsozialistischen Unrechtsregimes hatten sich katholische und evangelische Christ:innen mit zahlreichen anderen Vertreter:innen aus den verschiedenen gesellschaftlichen Lagern in einer neuen Partei zusammengefunden. Auf Grundlage des christlichen Menschenbildes sollten künftig menschliche Würde und Freiheit gegen einen neuerlichen Umsturz der Demokratie sowie gegen jedwede Ansteckung des Staates mit Ideologien gesichert sein, die von Ungleichwertigkeit und Verachtung von Menschen oder Menschengruppen ausgehen.
Dieser historische Auftrag besteht für die Union fort. Vor diesem Hintergrund droht die Gegenwarts-CDU unter Friedrich Merz ihren Anspruch als eine sich aus dem Widerstand gegen die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts und dem Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie verstehende anti-extremistische Partei zu verlieren – oder vielmehr: aktiv aufzugeben. Es ist falsch, sich einer Partei anzunähern, die sich immer offenkundiger in enger geistiger Verbindung mit den Erben des weltanschaulichen Denkens des historischen Nationalsozialismus bewegt. Das kann für die CDU keine tragfähige Richtung sein, denn das „C“ erinnert die CDU daran, stets dem Leitbild gemeinwohlorientierter Politik zu folgen, dazu immer den sich durch Überwindung von Lagern auszeichnenden Ausgleich zwischen „links” und „rechts” sowie zwischen divergierenden Interessen in der Gesellschaft zu suchen.
Die Partei droht auch ideenpolitisch nach rechts zu kippen, Schlagseite zu bekommen und zu kentern, wenn das „Konservative“ überbetont und a-historisch nachträglich in den Gründungsgedanken der CDU eingeschleust werden soll. Wie Hendrik Wüst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung jüngst in Erinnerung rief, müsste etwa im aktuellen Grundsatzprogrammprozess der Partei wiederholt und unmissverständlich deutlich gemacht werden, dass das Konservative nie Kern der Partei gewesen war und es bis heute nicht geworden ist. In der gegenwärtigen Orientierungskrise der Partei verspricht die invented tradition einer angeblich seit Gründung konservativen CDU keinerlei Halt. Vielmehr sollte eine Besinnung auf die Kernüberzeugungen aus der Gründungszeit leitend sein, nämlich eine „auf dem unerschütterlichen Fundament des Christentums“ (Kölner Leitsätze, Schlussappell) gründende Politik.
Politische Liebe statt Christianismus
Eine entsprechende christdemokratische Perspektive auf politisches Handeln unter dem eschatologischen Vorbehalt wirkt bändigend auch auf ideologische Ansprüche in den mitunter wechselvollen Gewässern der Politik. Sie kann so verstanden immer nur das Vorletzte in der Hoffnung auf das Letzte gestalten. Als äußerer Ausdruck – Politik zielt auf Gerechtigkeit – der inneren Form – Moral zielt auf Liebe – sollte die Christdemokratie ihr Fundament der Unbedingtheit des einzelnen menschlichen Daseins jenseits von kulturkämpferischen Strategien bewahren. Stattdessen scheinen heute einige in der CDU in verzweifelte Löschversuche einzelner Brandherde eingebunden zu sein oder zündeln nicht selten selbst mit. Dieser Versuch, ein Gegenfeuer mit demselben Brandbeschleuniger zu legen, muss scheitern.
Nach christlichem Ideal sollte nur ein Feuer in den Herzen der Menschen brennen, nämlich das Feuer der Liebe – nicht nur in den privaten zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch auf dem Feld der Politik. Liebe ist der christliche Zentralwert schlechthin und auch als „Hauptweg der Soziallehre der Kirche“ (Papst Benedikt XVI., Caritas in veritate Nr. 2) ein Markenzeichen von Politik aus christlicher Verantwortung: Politische Liebe, nach Papst Franziskus „geistiges Herzstück der Politik“ (Fratelli tutti Nr. 187), heißt, aufrichtig das Wohl der Mitmenschen als Gemeinwohl im Blick zu behalten. Nach christlicher Weisheit führt Liebe im Inneren somit zu Gerechtigkeit im Äußeren. Eine solche Haltung christlicher Liebe verbietet es, Ressentiments politisch zu instrumentalisieren, in politischem Hass herabwürdigend von Menschen und Menschengruppen zu sprechen und die konkrete Politik gar in dieser Weise auszurichten. Denn, so der Pontifex weiter: „Die politische Nächstenliebe drückt sich auch in der Offenheit für alle aus. […] Sie hilft bei der Schaffung jenes schönen Polyeders […], in dem alle Platz finden“ (Nr. 190).
Christliche Liebe als geistiges Fundament politischen Handelns ermutigt auch angesichts komplexer und herausfordernder Debattenlage sowie rechtsideologischer Rhetorik maßvoll zu bleiben und Zuversicht in die eigene Position zu behalten. Angela Merkels von ihrem persönlichen Glauben getragenes „Wir schaffen das“ kann insofern als eine christdemokratische Kerndevise gelten.
Politische Liebe ist keinesfalls trivial, sie ist vielmehr das Gegenstück des Christianismus (Rémi Brague) der Neuen Rechten, die das Christentum liebesbefreit, versatzstückartig und verformt für bestimmte politisch-ideologische Ziele verzwecken.
Das „C” macht den Unterschied
Die CDU muss dabei stets wachsam sein: Als Partei der Christdemokratie muss ihr jede – auch religiöse – Symbol-, Identitäts- und Klientelpolitik fernliegen. Müsste im Mittelpunkt der Sorge um das gemeinsame Haus der Christdemokratie nicht die explizite Abgrenzung zu völkisch-nationalistischer und rassistischer Rhetorik stehen? Deswegen geht es ohne Rückbesinnung auf das Eigene und Ursprüngliche nicht: Ohne einen solchen Prozess wird die CDU nicht aus ihrer hausgemachten Krise kommen. Man möchte ihr zurufen: „Ad fontes! Besinne dich auf deine wertpolitischen Wurzeln!“
Zusammengefasst: Populistische Anbiederungen in Sprache und Sache sind für die CDU inakzeptabel. Was meint der keinesfalls selbstverständliche Begriff der politischen Liebe also konkret? Gefordert ist auf individueller Ebene eine Absage an Stolz, Arroganz und Intoleranz, eine „Purifikation“ der inneren Haltung, eine Hinwendung zu Ernsthaftigkeit und Bürgernähe, eine glaubwürdige Auseinandersetzung mit dem christlichen Erbe und seiner sichtbaren Verortung im neuen Grundsatzprogramm. Nicht Konservatismus und Liberalität, nicht einmal Soziales stehen an erster Stelle des christdemokratischen Gedankens, sondern eine tägliche Auseinandersetzung mit der Frage: Was ist eine christliche Haltung im demokratischen Politikbetrieb gerade in einer pluralisierten, säkularen Gesellschaft?
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Benedikt Groß, Dr. Marius Menke, Gabriel Rolfes und Lars Schäfers engagieren sich im „Netzwerk Christliche Sozialethik” der Jungen CDU-Sozialausschüsse.