In Österreich ist plötzlich das Christentum wieder in. Der Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen Partei (SPÖ) betont in einem Wahlkampf-Fernsehduell, er sei Ministrant gewesen. Der Spitzenkandidat der Volkspartei (ÖVP) bringt den Heiligen Martin aufs Tapet und der Spitzenkandidat der Freiheitlichen Partei (FPÖ) wirbt mit „Euer Wille geschehe“ vom Wahlplakat herab um Stimmen. Von Elisabeth Birnbaum.
Der Ministrant und der Hl. Martin
In einer Fernseh-Wahlkonfrontation zweier politischer Parteien, die sich beide als Parteien der Mitte sehen, kommt wie aus dem Nichts plötzlich und immer betonter, das Thema „christlich“ auf. Der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten (SPÖ) lässt aufhorchen mit der Aussage, sein Programm sei mit den Zielen der Caritas völlig konform. Der Spitzenkandidat der Volkspartei (ÖVP) wirft daraufhin immer häufiger ins Gespräch ein, seine Partei sei christlich-sozial, während er seinen Gegner (SPÖ), der gerade versucht, sich als Schutzherr der Kinder und der Unterprivilegierten darzustellen, als Sozialisten oder Kommunisten einordnet. Als Höhepunkt bringt der ÖVP-Kandidat den „Heiligen Martin“ aufs Tapet, der seinen Mantel geteilt habe, um ihn den Armen zu geben. Wohlgemerkt in einer Debatte, in der er sich gerade rechtfertigen muss, warum den Ärmsten der Armen nicht geholfen wird.
Interessant war die Reaktion des SPÖ-Kandidaten, der ja vom Gegner in die Nähe des Kommunismus gestellt wurde. Er betonte im Gegenzug, er sei selbst auch katholisch sozialisiert: als Ministrant, Sternsinger und in der Jungschar usw.
Christentum als Gegenargument
Eigentlich könnte ich mich als Katholikin ja geschmeichelt fühlen: Versucht man hier mit allen Mitteln, christliche bzw. katholische (Hl. Martin!) Wähler und Wählerinnen zu gewinnen? Wieso ist es in einem Land, in dem die Kirche einen galoppierenden Relevanzverlust des Christentums beklagt, plötzlich „in“, sich zum Christentum zu bekennen? Ist das ein Hoffnungszeichen? Aber stattdessen steigt mein Unbehagen, wenn ich auf die Kontexte und Nebengeräusche der Christentum-Bekenntnisse blicke:
Der Spitzenkandidat der SPÖ versucht zu zeigen, dass seine Partei in ihrem Bemühen um Minderprivilegierte auf der gleichen Ebene wie die Caritas handelt. Das ist schön. Doch im Kontext des Gesprächs geht es eigentlich darum, die ÖVP in ihrem Selbstverständnis als christlich-soziale Partei zu desavouieren.
Der Spitzenkandidat der ÖVP rückt den Heiligen Martin in den Vordergrund. Das ist schön. Leider verrät die Betonung des Satzes: „Der Heilige Martin hat seinen Mantel zerteilt“, dass er damit nicht das barmherzige Teilen von Ressourcen einfordert. Vielmehr liegt der Fokus darauf, dass die SPÖ seiner Meinung nach zu wenig für die Wirtschaft tut und bitteschön nur das verteilen soll, was sie besitzt. Also ebenfalls ein „Gegen“-Argument.
Gleichzeitig berührt er damit (wohl nicht unbeabsichtigt) eine heikle Diskussion, die nicht nur in Österreich immer wieder die Gemüter erregt. Die Frage nämlich, ob in Kindergärten ein Martinsfest gefeiert werden soll oder stattdessen ein (religiös offenes) Laternenfest.
Die Frage ist deshalb so prekär, weil das offizielle Österreich in der Praxis christlich bzw. katholisch geprägt ist, sodass viele christlichen Werte, Feste und Riten als „österreichische Tradition“ wahrgenommen werden. So kommt es, dass etwa in Wien, wo sich nicht einmal mehr die Hälfte der Bevölkerung zum christlichen Glauben bekennt, viele Menschen den Wegfall des Martinsfestes mit einem Kniefall vor fremden Kulturen gleichsetzen.
Der Heilige Martin wird dadurch zu einem doppelten Gegenargument: Gegen die Politik der SPÖ und gegen die Bedrohung der österreichischen Identität. Das Christentum ist dabei wieder nur Chiffre.
Legitimation für Fremdenfeindlichkeit
Im schlimmsten Fall dient die Verteidigung des Christentums zur Legitimation für Fremdenfeindlichkeit. Der ausgerufene Kulturkampf wird in einem Land, in dem immer mehr Menschen den christlichen Kirchen den Rücken kehren, mit der Waffe des Christentums geführt. Die oft berechtigten Ängste der Menschen angesichts gesellschaftlicher Umbrüche und veränderter Mehrheitsverhältnisse werden so zur Glaubensfrage stilisiert. Diese Strategie sieht man besonders häufig bei der dritten großen Partei in Österreich, der Freiheitlichen Partei (FPÖ).
Das Bild des Spitzenkandidaten der FPÖ prangt von einem Wahlplakat mit der Aufschrift: „Euer Wille geschehe!“ Die Anspielung auf das Vater Unser ist kein Einzelfall in dieser Partei. Schon vor Jahren (2013) bediente sich die FPÖ biblischer Zitate: Damals war auf einem Wahlplakat zu lesen: „Liebe deinen Nächsten! – für mich sind das unsere Österreicher!“ Daneben machte ein weiteres Plakat den Kontext klar: „Asylbetrüger müssen gehen …“.
Gilt tatsächlich die Formel: Je christlicher, desto ausgrenzender?
Der Umgang mit der Bibel
Nicht nur, dass hier wie in den beiden anderen Fällen christliche Werte für Wahlkampfrhetorik instrumentalisiert werden. Es handelt sich auch um eine Verdrehung der biblischen Botschaft in ihr Gegenteil.
Beim Vater Unser-Zitat wird „nur“ Gottes Wille, den Gott selbst geschehen lassen soll, in den Willen des Volkes verwandelt, den die FPÖ quasi an Gottes Stelle verspricht geschehen zu lassen.
Beim Wahlplakat: „Liebe deinen Nächsten! – Für mich sind das unsere Österreicher!“, ist die Verdrehung noch eklatanter. Hier wird aus einem Gebot der Liebe ein Gebot der Ausgrenzung. Aus: „Liebe deinen Nächsten (indem du ihm nichts Böses antust)!“ wird: „Liebe (nur) deinen Nächsten (und niemanden sonst)!“ Von der weit offeneren Definition des „Nächsten“, wie Jesus sie gibt (im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, Lk 15), einmal ganz abgesehen.
Hier wird Christentum in einem Ausmaß gegen seine eigentliche Botschaft gebraucht, die atemberaubend ist.
Aus der Frohbotschaft für alle wird eine Drohbotschaft gegen andere.
Christentum als Dagegen-Religion?
Diese Nebengeräusche senken meine Freude über die Bekenntnisse zum Christentum beträchtlich. Gilt tatsächlich die Formel: Je christlicher, desto ausgrenzender? Es macht mich unendlich traurig zu sehen, wie Christentum zu einer Dagegen-Religion gemacht wird. Aus der Frohbotschaft für alle wird eine Drohbotschaft gegen andere.
Ich finde es schlimm, das Christentum zur eigenen Profilierung gegen andere zu verzwecken. Ich finde es schlimmer, christliche Traditionen als Waffe im Kulturkampf gegen Fremde zu instrumentalisieren. Ich finde es am schlimmsten, biblische Kernbotschaften ins Gegenteil zu verkehren und so den Eindruck zu erwecken, Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung, Hass und das Schüren von Ängsten gingen mit dem Christentum konform.
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Elisabeth Birnbaum, Wien, ist promovierte Alttestamentlerin und seit 2017 Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks.
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