Martin M. Lintner (Brixen) ist derzeit einer der bekanntesten Vertreter der Moraltheologie, nicht zuletzt aufgrund von Lehr-Differenzen mit Rom. Angelika Walser (Salzburg) rezensiert sein neuestes Buch „Christliche Beziehungsethik“.
1. Ein neues Standardwerk
Jetzt ist sie also erschienen: Die mit Spannung erwartete „Christliche Beziehungsethik“ von Martin M. Lintner, Professor für Moraltheologie und Spirituelle Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen sowie Mitglied des Servitenordens. Die Verweigerung des Nihil Obstat zu seiner Wahl zum Dekan hatte weltweit Schlagzeilen gemacht und sämtliche großen wissenschaftlich-theologischen Gesellschaften zu scharfem Protest veranlasst. Schon sein 2011 erschienenes Buch „Den Eros entgiften“ sorgte für Anzeigen bei der Glaubenskongregation, avancierte zur Pflichtlektüre an vielen katholisch-theologischen Fakultäten und erreichte darüber hinaus eine breite Leser:innenschaft. Lintner hatte für eine behutsame Reform traditioneller katholischer Sexualmoral, insbesondere für eine Neubewertung von Homosexualität, plädiert.
Lintner geht es nicht mehr in erster Linie darum, die katholische Sexualmoral zu retten, sondern sie ernsthaft zu reformieren.
Von diesem Plädoyer rückt Lintner auch in seinem neuen Werk nicht ab, im Gegenteil: Sein Stil ist pointierter, die Forderungen noch deutlicher. Auf stolzen 615 Seiten entfaltet er seinen Vorschlag zu einer Grundsatzreform der katholischen Sexualmoral hin zu einer christlichen Ethik der Beziehungen, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Ehelehre. Die Zielsetzung, den Eros zu entgiften, ging an manchen Stellen noch spürbar Hand in Hand mit einer gewissen Defensivhaltung, welche die dunklen Seiten katholischer Sexualmoral gerne mit Verweisen auf sexualpositive Bibelstellen und leibfreundliche (aber in der Tradition weitgehend wirkungslos gebliebene) Frauen-Mystik kaschierte.
Im soeben erschienen Werk geht es Lintner nicht mehr in erster Linie darum, die katholische Sexualmoral zu retten, sondern sie ernsthaft zu reformieren. In akribischer Detailarbeit durch 2000 Jahre Schrift und Tradition benennt er daher nüchtern und äußerst differenziert Misogynie und Homophobie, die eben auch zum Erbe der katholischen Kirche gehören. Bezüglich Homosexualität bleibt er unbeirrt bei seinem ursprünglichen Urteil: „Kirche und Theologie müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Homosexualität eine in der Natur vorkommende Variante sexueller Orientierung ist“ (580) und dass auf der Grundlage heutiger Exegese sowie Erkenntnissen aus den Humanwissenschaften keine prinzipielle Verurteilung von homosexuellen Handlungen mehr begründet werden könne.
Lintner steht für eine theologische Ethik, die leidempfindlich und berührbar ist.
Anders als im vorigen Werk erfolgt im neuen Werk nun auch eine längst fällige wenn auch recht kurze Auseinandersetzung mit den Grundanliegen von Feminismus und Gender Studies, inklusive einem Exkurs zum hochaktuellen Thema Transgeschlechtlichkeit. Insgesamt spricht sich Lintner eindeutig für die Anerkennung sexueller Vielfalt aus: „Die Forderung, dass jeder Mensch in seinen individuellen Besonderheiten und in seinem jeweiligen So-Sein, das auch seine unter Umständen prekäre sexuelle Identität einschließt, einen unbedingten Anspruch auf Anerkennung, Wertschätzung und Respekt besitzt, ist ein normatives Postulat der allgemeinen Ethik, dem auch die christliche Moral vor dem Hintergrund des biblischen Menschenbildes nur zustimmen kann.“(484) Solche Sätze sind charakteristisch und zeugen vom Freimut und der wohltuenden Klarheit eines engagierten Seelsorgers und Hochschullehrers. Er steht für eine theologische Ethik, die leidempfindlich und berührbar ist – frei nach AL 310 eine Förderin der Gnade und nicht ihre Kontrolleurin. Die 600 Seiten vereinen kompakt Fakten und Einsichten. Einzelne Abschnitte können auch losgelöst vom Rest studiert werden, das Werk eignet sich daher auch zum Nachschlagen für alle theologisch Interessierten sowie insbesondere für die Verantwortlichen einer zeitgemäßen Jugend- und vor allem Ehepastoral. Alles in allem und zweifellos ein lang erwünschtes und umfassendes neues Standardwerk, das in den nächsten Jahrzehnten nicht nur als Lehrbuch, sondern auch als Grundlage weiterer Forschungsaktivitäten dienen wird.
2) Zur kritischen Würdigung im Einzelnen
a) Sexualmoral – eine ewige Baustelle
Lintner versteht sein Buch als Einladung zu einem „offenen, kritisch-konstruktiven Dialog zwischen Lehramt und Moraltheologie“ (19), wie er in seinem Vorwort schreibt. Dabei beginnt er mit der traditionellen Lebens- und Beziehungsform innerhalb der katholischen Tradition, nämlich der Ehe. 240 Seiten lang spürt er der Entwicklung der kirchlichen Ehelehre nach, unter besonderer Berücksichtigung der Einflüsse des römischen Eherechts, des Judentums und der Stoa. Akribisch werden die Schriften der Kirchenväter der östlichen und lateinischen Tradition zu Ehe und Jungfräulichkeit, zu Sexualität im Allgemeinen und Frauen und Geschlechterverhältnissen im Besonderen ausgewertet, wobei sich ein differenziertes Bild ergibt: Neben der durchgehenden und bedrückenden Misogynie, der Lust- und Sexualfeindlichkeit des kirchlichen Erbes blitzen auch helle Momente auf, so beispielsweise eherechtliche Schutzbestimmungen für Frauen im 12. Jahrhundert und die Betonung des freien Konsens beider Ehepartner. Der in manchen aktuellen feministischen Bestsellern erhobene Vorwurf, die Institution der christlichen Ehe habe stets die Unterdrückung von Frauen zum Ziel gehabt (so beispielsweise Emilia Roig in „Das Ende der Ehe“[1]), lässt sich mit Lintner eindeutig widerlegen. Der weitere Blick auf das Mittelalter über die sakramententheologischen Weichenstellungen des Konzils von Trient bis hin zu den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils und schließlich eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Sexualmoral sämtlicher Päpste bis zum aktuellen Pontifikat von Papst Franziskus zeigt, dass das Ringen um ein angemessenes Verhältnis zu Sexualität und Leiblichkeit im Katholizismus stets eine Baustelle war und wohl noch lange Zeit bleiben wird.
Lintner bereitet mit seiner Analyse der biblischen Schöpfungserzählungen im Hinblick auf Gleichheit und Differenz der Geschlechter das Fundament für die Auseinandersetzung mit den Gender Studies.
Nach dem geschichtlichen Teil folgt der zweite, biblische Teil, ebenfalls breit angelegt auf 180 Seiten. Hervorzuheben ist hier im alttestamentlichen Teil die längst fällige Rezeption einschlägiger großer Exegetinnen (z.B. Helene Schüngel-Straumann), die leider in der eindeutig männlich dominierten Disziplin der traditionellen Moraltheologie nach wie vor keine Selbstverständlichkeit darstellt. Außerdem bereitet Lintner mit seiner Analyse der biblischen Schöpfungserzählungen im Hinblick auf Gleichheit und Differenz der Geschlechter das Fundament für die Auseinandersetzung mit den Gender Studies. Das Kapitel über die „Normen zur Humanisierung von sexuellen Beziehungen und der Ehe“ stellt dabei ein wichtiges und m.E. in diesem Umfang neues Kompendium von alttestamentlichen normativen Texten zu Sklavenrecht, Ehebruch, Inzest sowie kultischen Reinheitsvorschriften dar. Es folgt das Neue Testament mit einem Schwerpunkt auf den paulinischen Aussagen über Ehe (losigkeit), Sexualität und Homosexualität.
b) Von einer Gebots- und Verbotsmoral hin zu einer Befähigungsmoral
Im dritten, systematischen Teil (nochmals über 180 Seiten) werden in einer Zusammenfassung die bislang gelegten Schienen zusammengeführt. In Weiterentwicklung des personalen Ansatzes des Zweiten Vatikanums sucht Lintner nach notwendigen Kriterien einer erneuerten Beziehungsethik. Er findet sie in der Achtsamkeit auf Vulnerabilität, in der relationalen Autonomie im Sinne einer Verantwortungsethik und schließlich im Primat der Liebe. Personale Kategorien wie das Gewissen des/der Einzelnen sowie die Tugend der Epikie stehen deutlich im Vordergrund. Anstöße zur Kriterienfindung liefert das bemerkenswerte zweite Kapitel mit einer Darstellung des Skandals sexualisierter Gewalt im Kontext der Kirche (mit hilfreichen begrifflichen Präzisierungen) sowie ein Rekurs auf Anliegen und Strömungen der Frauenrechtsbewegung und der Gender Studies. Die beiden letzteren wurden bislang in Standardwerken der Moraltheologie bestenfalls am Rande kurz erwähnt, wodurch längst bestehende innovative Ansätze von Vertreterinnen der theologischen Ethik wie beispielsweise Regina Ammicht Quinns Arbeiten marginalisiert wurden.
Eine psychische Entlastung und Befreiung für all diejenigen, die bis heute unter einer rigiden Verbotsmoral leiden.
Vertreter:innen der Gender Studies hätten von der Terminologie her vielleicht manches einzuwenden und der derzeit für die Forschung so produktive Aspekt der intersektionalen Geschlechterforschung wird nicht erwähnt. Doch ist die Grundaussage sehr klar: Die theologische Ethik wird um der Dimension der Leiblichkeit willen radikal konstruktivistischen Entwürfen stets kritisch begegnen müssen. Doch kommt sie nicht darum herum, die Inkongruenzen der biopsychosozialen Ebenen von Geschlechtsidentität und sexuellem Begehren wahrzunehmen und in ihre Einsichten zu integrieren. Natur- Human- und Sexualwissenschaft gelten Lintner zu Recht als „unverzichtbare Gesprächspartner für die Normfindung und ethische Urteilsbildung“ (500). Theologisch-ethische Einsichten dürfen nicht hinter wissenschaftliche Einsichten zurückfallen, wenn das alte Motto des „Fides quaerens intellectum“ noch Gültigkeit haben soll und die katholische Kirche sich nicht weiter in ein moralisches und pastorales Ghetto verabschieden möchte. Mithilfe einer sexualwissenschaftlich fundierten und ganzheitlichen Sicht können bis heute tabuisierte und verpönte Sexualpraktiken wie beispielsweise Self-sex-Praktiken (Masturbation) neu bewertet werden – eine psychische Entlastung und Befreiung für all diejenigen, die bis heute unter einer rigiden Verbotsmoral leiden und der eigenen Lebenslust überwiegend mit Skrupeln und Verdrängung begegnen müssen.
Zwar ist Lintners Weg auch von anderen theologischen Ethiker:innen längst eingeschlagen worden: Von einer Verbots- und Gebotsmoral hin zu einer Moral, welche die Befähigung des/der Einzelnen in den Vordergrund rückt und damit zu einer Tugendethik, welche hilft, in jeder Lebensphase und in jeder Lebensform – auch außerhalb der traditionellen Ehe – einen verantwortlichen Umgang mit Sexualität einzuüben. Selbstverständlich werden traditionalistische Kreise wegen angeblicher „Verwässerung der Lehre“ erneut toben und schäumen, aber angesichts derart penibel recherchierter und nüchtern präsentierter Fakten werden sie es zumindest schwer haben. Dem derzeit vielbeschworenen Prinzip der Synodalität folgend, bleibt jedenfalls zu hoffen, dass Rom die Einladung zu einem Dialog auf Augenhöhe mit Lintner annimmt.
c) Eine offene Frage am Ende
Am Ende schließt sich der Kreis mit dem Blick auf den Wert und die Würde der Ehe als Sakrament. Lintner greift hier seinen im Vorwort geäußerten Vorschlag auf, den kirchlichen Trauungssegen viel stärker zu gewichten und damit die in der Praxis der Kirche bestehende Verknüpfung der Unauflöslichkeit der Ehe mit dem ersten Beischlaf weiterzuentwickeln – vom „matrimonium ratum et consummatum“ hin zum „matrimonium ratum et benedictum“ (28). Der Vorschlag ist der Notwendigkeit geschuldet, dem Phänomen so vieler gescheiterter Ehen nicht ausschließlich mit der von Papst Franziskus ausgerufenen Pastoral der Barmherzigkeit zu begegnen, sondern auch kirchenrechtliche Lösungen zu finden und in Anlehnung an die orthodoxe Tradition endlich über die Möglichkeit der Wiederheirat nachzudenken. Im Detail geht es darum, die Kriterien für die Unauflöslichkeit neu zu bedenken und damit die Lehre des Zweiten Vatikanums ernst zu nehmen, wonach die Familiengründung nicht der erste Ehezweck ist. Die damit ebenso im Raum stehende Frage, ob das Sakrament der Ehe mit dieser Formel eventuell auch Personen mit nichtbinärer sexueller Orientierung offen stehen könnte, bleibt allerdings vorerst unbeantwortet. Noch ist die Zeit für diese Diskussion nicht gekommen.
Martin M. Lintner: Christliche Beziehungsethik. Historische Entwicklungen. Biblische Grundlagen. Gegenwärtige Perspektiven, Herder: Freiburg i. Br. 2023.
[1] Vgl. Emilia Roig: Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe, 2023.
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Angelika Walser ist seit 2015 Universitäts-Professorin mit dem Lehrstuhl für Theologische Ethik und Spirituelle Theologie in Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Beziehungs- und Familienethik; Bioethik; Gender Studies und Feminismus.