Tanja Eisenach weiß lange nicht, welcher Partei sie bei der Bundestagswahl ihre Stimme geben soll. Sie entdeckt in Nürnberg eine Plakataktion des Bundes der Katholischen Jugend. Hilft mir diese Botschaft bei meiner Entscheidung, fragt sie sich – und wagt einen Selbstversuch.
Mittagspause in meinem Seelsorge-Intensivkurs. Am Nürnberger Hauptmarkt entdecke ich ein großes Banner an der Frauenkirche mit einem Statement der deutschen Bischöfe: „Rechtsextreme Parteien und solche, die am Rande dieser Weltanschauung wuchern, sind für Christinnen und Christen nicht wählbar.“ Der Satz macht mich ratlos. Wenn ich Christin wäre – wüsste ich jetzt, was ich wählen soll oder nicht?
Das Banner lässt mich nicht mehr los. Ich spüre in mir den Wunsch, dass die Zivilgesellschaft beim Thema Rechtsextremismus noch mehr zusammenrückt und noch stärker jenseits von Glaubenszugehörigkeiten daran arbeitet, die Demokratie zu fördern. Das wiederum bringt mich zu der Frage, ob es mir als Nicht-Christin gelingen kann, ausgehend von dem Satz auf dem Banner zu einer konkreten Wahlentscheidung zu kommen. Schön wäre es, denn ich schwanke seit Wochen zwischen zwei Parteien hin und her.
Für alle. Mit Herz und Verstand.
Am Montag, 17.02.2025, recherchiere ich den Kontext des Statements. Auf der Webseite des Bundes der Katholischen Jugend Nürnberg (BDKJ) finde ich Informationen zur Kampagne Christ*innen wählen kein Rechts! Von dort komme ich auf eine Erklärung mit dem Titel Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar, die die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) im Februar 2024 veröffentlicht hat. Darin identifizieren die Bischöfe den Rechtsextremismus als „die größte Bedrohung extremistischer Art für unser Land und für Europa“ und warnen vor rechtsextremen Ideologien. Hier findet sich auch die Vorlage für den Satz auf dem Banner.
Zugleich unterstützen die Bischöfe das Engagement für Menschenwürde, Menschenrechte und Demokratie. Für sie besitzt jeder Mensch eine unantastbare und unverfügbare Würde, die die Basis der Menschenrechte bildet. Diese Ansicht teile ich. Jetzt interessiert mich noch, welche Haltung die evangelische Kirche dazu hat. Im Zuge meiner Recherchen stoße ich auf „Für alle. Mit Herz und Verstand“. Es ist eine ökumenische Initiative zur Bundestagswahl, die ebenfalls Bannermotive sowie weitere Materialien zum Download anbietet. Sie arbeitet mit den Schlagwörtern Menschenwürde, Nächstenliebe und Zusammenhalt. Die Schlagworte werden auf der Webseite kurz erklärt. Menschenwürde wird hier ähnlich erläutert wie in der Erklärung der DBK.
Suche nach Werten in den Wahlprogrammen.
Ich beschließe, die Programme der 17 in Bayern zur Wahl zugelassenen Parteien nach den Schlagworten Menschen, Menschenwürde und Zusammenhalt zu durchsuchen. Nächstenliebe scheint mir zu spezifisch. Ein großer Haken bei dieser Methode: Die Wahlprogramme haben einen sehr unterschiedlichen Umfang, der von ca. zwei Seiten (Die Partei) bis 177 Seiten (AfD) reicht. Häufigkeit ist also kein Indiz dafür, dass viel von diesen Werten in den Texten steckt. Ich lese den Kontext der Schlagworte mit, mehrere Absätze davor und danach, und hüpfe so durch das gesamte jeweilige Dokument.
Je nach Position der Schlagworte passiert es mir, dass ich nicht zu den Sachthemen komme, die mich besonders interessieren. Ich kombiniere also die Suche nach Werten mit dem gezielten Nachschlagen von Sachthemen – was das Projekt deutlich aufwändiger macht. Zugleich bin ich sehr erstaunt darüber, wie schnell ich mir auf diese Art einen tragbaren Eindruck über meine Nähe zu einer Partei verschaffen kann, ohne das komplette Wahlprogramm lesen zu müssen. Manchmal reicht nur eine einzige Aussage, um die Partei für mich als nicht wählbar zu klassifizieren. Nämlich dann, wenn diese fundamental meinen Überzeugungen widerspricht.
Werteunabhängige Auffälligkeiten.
Mich wundert, dass parteiübergreifend bei vielen Themen kein Gesamtkonzept erkennbar ist. Die Partei „Mensch Umwelt Tierschutz“ (Tierschutzpartei) fordert beispielsweise „das Recht aller Kinder auf die bestmögliche Entwicklung, Entfaltung und Bildung“.1, S. 26.] Was das genau bedeutet, welche Ziele sich die Partei diesbezüglich für unser Bildungssystem gesetzt hat, mit welchen Maßnahmen sie diese erreichen will und wie diese finanziert werden sollen, konnte ich nicht herausfinden.
Bisweilen lässt sich viel aus der Sprache, in dem die Programme geschrieben sind, auf deren Inhalt schließen. So konstatiert beispielsweise die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), dass „erst durch den Sturz der kapitalistischen Herrschaft und den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung […] alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung der werktätigen Massen abgeschafft [werden].2, S. 5.] Viele Programmpunkte, wie die Leitlinien gegen die globale Umweltkatastrophe, können daher „nur im entschlossenen Kampf durchgesetzt werden.“3
Gleiche Begriffe – unterschiedliches Verständnis.
Ebenfalls auffällig finde ich, dass nahezu alle Parteien mit Werten und Begriffen wie Demokratie, Menschenwürde oder Zusammenhalt, mit Gerechtigkeit, Frieden, o.ä. argumentieren, sich dahinter jedoch teils völlig unterschiedliche Konzepte verbergen. Beispiel Freiheit: Die Partei Volt will bestehende Geschlechterungleichheiten gezielt abbauen und „Frauen* echte Entscheidungsfreiheit“4, S. 149.] geben. So sollen zum Beispiel verbindliche Frauen*quoten von 50 Prozent in Aufsichtsräten und Führungspositionen für Diversität sorgen.5 Für die AfD hingegen kann es „in einem freiheitlichen Rechtsstaat niemals legitimes Ziel staatlichen Handelns sein, in willkürlich abgegrenzten gesellschaftlichen Teilbereichen eine ebenso willkürlich festgesetzte ‚Geschlechterquote‘ zu erzwingen.“6, S. 133.] Ich merke, wie mich die Verwendung identischer Begriffe aus völlig unterschiedlichen Werteverständnissen heraus verunsichert und ich mich immer wieder meines eigenen Standpunkts vergewissern muss.
Am Wahlsonntag, 23. Februar 2024, um 11.30 Uhr bin ich mit dem letzten Programm durch. Und habe mich tatsächlich entschieden. Auf den ersten Platz ist eine Partei geklettert, die ich zuvor zwar kannte und sympathisch fand, aber nicht direkt im Visier hatte. Platz zwei und drei nehmen die beiden Parteien ein, die vor meinem Selbstversuch gleichauf lagen. Die Reihenfolge ist jetzt eindeutig, weil ich nun klarer sehe, welche Parteien meinem Werteverständnis am ehesten entsprechen, was sie unter Werten wie Menschenwürde verstehen und wie sie diese in verschiedenen Sachthemen priorisieren und umsetzen. Mit diesem Wissen mache ich mich auf ins Wahllokal.
Fazit: Christliche Initiativen als Wahlentscheidungshilfe? Jein.
Rückblickend kann ich die Frage, ob christliche Initiativen wie „Für alle. Mit Herz und Verstand“ oder die Kampagne des BDKJ eine Wahlentscheidungshilfe sein können, mit einem klaren Jein beantworten. Zur BDKJ-Aktion: Meine Wahlentscheidung ist das Ergebnis eines Prozesses, den es ohne meinen Selbstversuch und damit ohne das Banner nicht gegeben hätte. Insofern: Ja. Allerdings war der Prozessstart mühsam, weil mir das Banner-Statement selbst keine Orientierung geben konnte. Denn das Wissen, was nicht zu tun ist, hat mich nicht direkt zu dem Wissen geführt, was stattdessen getan werden könnte. Das musste ich mir selbst zusammensuchen. Insofern: nein.
Zur ökumenischen Initiative „Für alle. Mit Herz und Verstand“: Hier hatte ich den Eindruck, dass ich die Quintessenz des christlichen Werteverständnisses in wenigen Schlagworten auf den Punkt gebracht bekommen habe. Für mich als Außenstehende, die gerade dabei ist, sich ein Grundverständnis vom Christentum zu erwerben, war das besonders hilfreich. Ich konnte meine eigene Position mit den Schlagworten und ihren Erläuterungen abgleichen und nachschärfen. Dadurch fiel es mir leichter, die Parteien hinsichtlich ihrer Wählbarkeit zu bewerten und in eine Reihenfolge zu bringen. Insofern: Ja.
Das Schlagwort „Nächstenliebe“ ist mir fremd.
Schwierig fand ich das Schlagwort „Nächstenliebe“. Es ist mir fremd und dank der zugehörigen Erläuterungen auf der Homepage konnte ich zwar erahnen, was gemeint sein könnte, aber es nicht konkret fassen. Zudem hat sich mir seine Anschlussfähigkeit im Hinblick auf politische Fragestellungen nicht erschlossen. Deshalb hat der Begriff im weiteren Verlauf meines Selbstversuchs keine Rolle mehr gespielt. Insofern: nein.
Ob das BDKJ-Banner mich anders hätte orientieren können, wenn ich Christin wäre? Ich weiß es nicht. Es hätte aber vielleicht anders gewirkt, gerade dann, wenn ich tatsächlich überlegt hätte, eine rechtsextreme Partei zu wählen. Einseitig vermutlich oder unvollständig: Analysen vergangener Wahlen und Umfragen haben zwar gezeigt, dass beispielsweise Wähler*innen der in Teilen als rechtsextrem geltenden AfD ein „deutlich antiliberales und anti-emanzipatorisches Einstellungs-Set“7. aufweisen und die Partei gewählt wird „nicht trotz, sondern wegen ihrer migrationsfeindlichen Positionen“8. Zugleich zeigen die Studien auch, „dass Erfahrungen mangelnder sozialer und demokratischer Teilhabe, vor allem im Kontext von Erwerbsarbeit, ebenso wie materielle Sorgen mit der Wahl der AfD in Zusammenhang stehen“.9
Es seien zahlreiche soziale Themen vorhanden, „mit denen die demokratischen Parteien durchaus Chancen hätten, zumindest einen Teil der nach rechts Gedrifteten zurückzugewinnen: Es gelte, sie jedoch unbedingt mit […] Positionen [anzusprechen], die geeignet sind, ihre sozialen und finanziellen Sorgen zu adressieren.“10 Für mich fühlt sich das stimmig an, auch jenseits vom politischen Kontext. Ich glaube, wenn ich Betroffene wäre, dann würde ich mir von meiner Kirche wünschen, dass sie mich in meiner Gesamtheit wahrnimmt. Dass sie diese soziale und finanzielle Seite meiner Wahlüberlegung stärker in den Blick nimmt. Dass sie mir zeigt, dass sie auch die Not sieht, die sich darin ausdrückt. Und mir aus dieser Position heraus die Hand zum Gespräch reicht.
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Bilder: privat
- PARTEI MENSCH UMWELT TIERSCHUTZ– Tierschutzpartei, Wähle Mitgefühl. Unser Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2025, https://www.tierschutzpartei.de/wp-content/uploads/2025/02/Tierschutzpartei-BTW-Programm-2025.pdf [08.03.2025 ↩
- Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), Positionspapier der MLPD zur Bundestagswahl 2025, https://www.mlpd.de/broschueren/wahlprogramm-bundestagswahl-2025, [08.03.2025 ↩
- Ebd. S. 45. ↩
- Volt Deutschland (Hg.), Holen wir uns die Zukunft zurück. Programm Volt Deutschland zur Bundestagswahl 2025, https://voltdeutschland.org/storage/assets-btw25/volt-programm-bundestagswahl-2025.pdf [01.03.2025 ↩
- Vgl. ebd. S. 151. ↩
- AfD Bundesverband (Hg.), Zeit für Deutschland. Programm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum 21. Deutschen Bundestag, https://www.afd.de/wp-content/uploads/2025/02/AfD_Bundestagswahlprogramm2025_web.pdf [01.03.2025 ↩
- Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Radikalisiert und etabliert: Neue Studie zur AfD, Stand: 19.7.2023, https://www.wzb.eu/de/news/radikalisiert-und-etabliert-neue-studie-zur-afd, [18.03.2025 ↩
- Hans-Böckler-Stiftung, Schlechte Arbeitsbedingungen, Ablehnung von Migration und Misstrauen: Studie leuchtet Anstieg der AfD-Wahlbereitschaft aus, Stand: 30.11.2023, https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-studie-leuchtet-anstieg-der-afd-wahlbereitschaft-aus-54087.htm, [18.03.2025 ↩
- Ebd. ↩
- Ebd. ↩