Tilman Tarach möchte in seinem Buch „Teuflische Allmacht“, erschienen 2022, „Wesen und Wirkmächtigkeit des christlichen Antisemitismus“ aufzeigen. Francesco Pagagni erläutert, warum sein Vorhaben scheitert.
Das zu besprechende Buch ist von Tilman Tarach: Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus. Berlin Freiburg 2022, 224 Seiten. Es will eine Geschichte des Antisemitismus (in der Folge A.) sein und vertritt zwei starke Thesen: der A. ist durch das Christentum erst richtig in die Welt gekommen; der moderne, pseudobiologisch begründete A. ist im Kern der alte christliche. In der Debatte um Kontinuität/Diskontinuität zwischen antikem, mittelalterlichem und modernem A. ist Tilman Tarach ein entschiedener Verfechter der Kontinuitätsthese. Nach dieser Rekonstruktion beginnt jener mit dem Neuen Testament und bleibt im Wesentlichen gleich bis zum heutigen Antizionismus.
Der Antisemitismus machte eine Entwicklung durch
Wendepunkte des Antisemitismus sind die Aufklärung, wo der vorchristliche Antisemitismus über die Lektüre römischer Autoren reaktiviert wird, der Nationalismus des 19. Jahrhunderts und das Aufkommen biologistischer Vorstellungen. Die einseitige Betonung der Kontinuität im Buch lässt die Veränderungen unterbelichtet und führt zu einem unterkomplexen A.-Begriff.
Der christliche A. beginnt nach Tarach im Neuen Testament. Die schrecklichen Worte, die gegen jüdische Gruppen oder gegen ‚die Juden‘ fallen, werden im Kontext einer innerjüdischen Auseinandersetzung ausgesprochen. Die Tragik besteht darin, dass sie später in völlig dekontextualisierter Form verwendet wurden, wo die ursprüngliche Situation vergessen war. Der Autor hat aber kein historisches Bewusstsein und kann in jenen Textstellen nur den Beginn des ‚ewigen A.‘ sehen.
Wir aber sollten das Hermeneutikdefizit auf der Ebene der Rezeption nicht mit einem Hermeneutikdefizit auf der Ebene der Interpretation beantworten.
Die christliche Haltung gegenüber Jüdinnen und Juden war ambivalent
Der Autor erwähnt Augustinus nicht, obwohl seine Position massgebend wurde für die christliche Einstellung gegenüber den Juden. Die Juden seien schuld am Tod Jesu, andererseits bezeugten sie das Alte Testament. Deswegen seien sie zu schützen und gleichzeitig in Abhängigkeit zu halten (Kammerknechtschaft). Diese Ambivalenz prägte die Politik gegenüber den Juden sowohl von kirchlicher als auch von kaiserlicher Seite während des Mittelalters und in den katholischen Gebieten auch in der frühen Neuzeit. Die katastrophalen Pogrome während der Kreuzzüge und während der Pestepidemien waren nicht von Kaiser und Papst initiiert, vielmehr Phänomene ‚von unten‘, was die Kirche aber nicht aus der Verantwortung entlässt.
Bei solchen Gewaltausbrüchen geht es in der historischen Forschung darum, sozioökonomische und kulturell-religiöse Faktoren zu berücksichtigen. An diesem Beispiel wird die Schwäche der vorliegenden Rekonstruktion offenbar, denn sozioökonomische wie auch politische Faktoren spielen in diesem Buch eine untergeordnete Rolle.
Die Nazi-Weltanschauung ist antichristlich
Die Argumentation läuft konsequenterweise auf die Kulmination des A. im ‚Dritten Reich‘ zu. Die Nazis bedienten sich auch aus dem Fundus christlicher Vorstellungen. So schreibt der Autor z.B., dass die Selbstbezeichnung des NS-Regimes als „tausendjähriges Reich“ „direkt der Offenbarung des Johannes entnommen“ (S. 191) sei. Das stimmt, aber Tarach zieht daraus den falschen Schluss, dass das NS-Regime irgendwie christlich gewesen sei oder sich als christlich verstanden habe. Wenn ich mich gewisser Bilder bediene, heisst das noch lange nicht, dass ich mich mit der Tradition identifiziere, aus denen die Bilder stammen. Auch der Hinweis, dass Himmler „stark katholisch sozialisiert“ (S. 195) gewesen sei, heisst nicht, dass er ein Katholik war: viele, die eine religiöse Sozialisation erfahren, wenden sich später gegen die jeweilige Religion. Gerade Himmler mit seinen wirren Versuchen, eine ‚germanische Religion‘ wiederzubeleben, ist ein gutes Beispiel dafür.
Die Tatsache, dass das Nazi-Regime sich christlicher Bilder bedient hat, sagt etwas über die propagandistische Geschicklichkeit seiner Exponenten aus. Timothy Snyder hat in „Black Earth“ die Weltanschauung der Nazis rekonstruiert: Wenn Hitler und die führenden Nazis an einen Gott glaubten, dann war es bestimmt nicht der christliche. Der Begriff „gottgläubig“, den Tarach zitiert, um die christliche Prägung der führenden Nazis zu belegen, galt in diesen Kreisen als Codewort, um sich vom christlichen Glauben abzusetzen.
Der christliche Antisemitismus bereitete dem eliminatorischen den Boden
Die These, die Kontinuität zwischen christlichem und rassischem Antisemitismus werde in der Antisemitismus-Debatte „noch immer verschleiert“ (so der Klappentext), stimmt für die akademische Diskussion nicht. Raul Hilberg, der Nestor der Shoah-Forschung, hat auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht. Tarach hat aber insofern Recht, als in der gesellschaftlichen Debatte dieser Umstand wenig präsent ist. Für ein adäquates Verständnis des Phänomens muss Kontinutität und Diskontinuität in den Blick genommen werden. Die Verantwortung des Christentums wird dadurch nicht kleiner, denn der eliminatorische A. (Daniel Goldhagen) konnte sich nur deshalb durchsetzen, weil der christliche A. – ohne es zu beabsichtigen – den Boden dafür bereitet hat.
Vom grossen deutsch-jüdischen Historiker Dan Diner können wir lernen, dass Geschichte nicht vom Ende her zu verstehen ist. So sollte man die zwei Jahrtausende jüdisch-christlicher Beziehungen auch nicht von der Shoah her denken.
Aufklärungsarbeit an der Basis tut not
Fazit: Tilman Tarach scheitert mit seinem Vorhaben, eine Geschichte des A. zu schreiben. Zuerst einmal scheitert er methodisch, denn er beherrscht die Quellenkritik, Grundlage jeder seriösen historischen Forschung, nicht. Zweitens scheitert er, weil er die Forschungsliteratur nur selektiv wahrnimmt. So führt er den Klassiker der A.-Forschung Léon Poliakov auf. Gerade Poliakov führt jedoch einige Belege für den vorchristlichen A. auf, was die These, der A. sei mit dem Christentum in die Welt gekommen, unhaltbar macht.
Dennoch trifft Tarach einen Punkt, denn es stimmt, dass die Frage des Zusammenhangs zwischen christlichem und modernem A. fast nur in Spezialistenkreisen diskutiert wird. Auf katholischer Seite macht man es sich mit dem Verweis auf Nostra Aetate zu einfach. Ja, die Konzilskonstitution Nostra Aetate ist ein Meilenstein und Wendepunkt des katholischen Verhältnisses zum jüdischen Volk, aber Jahrhunderte antijüdischer Vorurteile verschwinden nicht einfach so. Aufklärungsarbeit in den Gemeinden täte not, aber geschieht viel zu wenig.
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Francesco Papagni hat Philosophie, Geschichte und Theologie in Zürich und Luzern studiert. Er ist als freier Journalist tätig.
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