Manuela Klauser würdigt das architekturtheoretische Werk von Johannes van Acken, dessen Schrift „Christozentrische Kirchenkunst“ vor 100 Jahren erschien.
Nicht nur das architektonische Aussehen, auch die liturgische Ordnung der abendländisch-christlichen Kirchen haben sich im 20. Jh. radikal verändert. Warum eigentlich? Warum waren diese tiefgreifenden Umbrüche und Neuinterpretationen traditioneller Raummuster mittelalterlicher Basiliken, Kathedralen und barocker Kuppelbauten notwendig und warum waren sie möglich? Ganz so einfach, wie es rückblickend scheint, war es sicher nicht. Jeder Neubau wurde – so wie heute jede erweiterte Nutzung von Kirchenräumen – einzeln und ausführlich verhandelt, geplant, verworfen und neu durchdacht, bis sich allmählich das Muster einer Neuinterpretation immer klarer abzuzeichnen begann: mit modernen Stilmitteln, Materialien und Konstruktionen sollten sowohl urchristliche als auch neuzeitliche Werte der Versammlung, Verehrung, der gemeinschaftlichen liturgischen Feier sowie der Seelsorge und der Caritas in der Gestaltung des Gotteshauses einen zeitgemäßen Ausdruck finden.
Sowohl urchristliche als auch neuzeitliche Werte sollten in der Gestaltung des Gotteshauses einen zeitgemäßen Ausdruck finden.
Um dieses Ziel zu erreichen, brauchte es ein ganzes Netzwerk von Akteur*innen, die sich miteinander austauschten, Lösungsansätze diskutierten und weiterentwickelten – kurzum, damals wie heute war es mühsam und dem Engagement sowie der Expertise vieler zu verdanken, dass sich etwas in Bewegung setzte und innerhalb weniger Jahrzehnte eine tiefgreifende Erneuerung eines jahrhundertelang in seinen Entscheidungshierarchien unangetasteten Bereichs öffentlicher Kulturbauten durchsetzen konnte.
eine tiefgreifende Erneuerung eines jahrhundertelang in seinen Entscheidungshierarchien unangetasteten Bereichs öffentlicher Kulturbauten
Einer dieser unermüdlichen Akteure war der Priester Johannes van Acken (*19. Dez. 1879–17. Mai 1937), dem die Katholische Akademie Berlin in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Liturgischen Institut und der Zeitschrift das münster im Herbst 2022 eine Tagung widmete.[1] Sein Buch „Christozentrische Kirchenkunst – Ein Entwurf zum liturgischen Gesamtkunstwerk“ ist 1922 – also vor 100 Jahren erschienen und wurde nun als kommentierte Ausgabe neu aufgelegt. Anlässlich dieses Jubiläums diskutierten Theolog*innen, Kunsthistoriker*innen und Architekt*innen die Bedeutung und Wirkung seiner Schrift sowie van Ackens lebenslanges Engagement für Kirche, Caritas und Kunst, über das letztlich noch immer viel zu wenig bekannt ist.
Die Tagungsbeiträge behandelten nicht nur sein persönliches Wirken für den Kirchenbau und das Krankenhauswesen des 20. Jh., sondern erörterten darüber hinausgehend theologische und architekturtheoretische Fragestellungen rund um den Begriff Christozentrik, um die Zusammenhänge zwischen Liturgie und Sakralraum und die Auswirkungen dieses Diskurses auf das künstlerische Schaffen jener Jahre – als Einzelbeispiele konkreter Kirchenausstattungen, aber auch als bedeutsamer Teil der innovativen Lehre an den damaligen Kunstgewerbeschulen. Die Tagungsbeiträge werden im Frühjahr 2023 als Sonderheft der Zeitschrift das münster publiziert.
Gemeinde wurde zunehmend als handelnd und nicht als einer Handlung beiwohnend begriffen.
Bei der bis heute im Kirchenbau der Moderne gerne und vielfach zitierten „Christozentrische(n) Kirchenkunst“ handelt es sich um eine programmatische Schrift, die in ihrer Neuauflage von 1923 wegweisende Entwürfe zum neuen sakralen Bauen von den Architekten Dominikus Böhm, Martin Weber, Josef Franke und Carl Moritz enthielt. Ihr Autor befasste sich kritisch mit den zu Beginn des 20. Jh. sichtbar werdenden Aufbrüchen tradierter Ansichten zum Kirchenraum auf liturgischer, pastoraler und nicht zuletzt auf gestalterischer Ebene.
Die Gemeinde wurde zunehmend als handelnd und nicht als einer Handlung beiwohnend begriffen. Das Gebäude bildet nicht die Kirche, sondern es repräsentiert die Kirche und ihr Selbstverständnis. Dreh- und Angelpunkt der versammelten Gemeinde in der Christus- und Gottesbegegnung ist der Altar als Kulminationsort der Eucharistiefeier. Konkret formulierte van Acken ein neues Verständnis, nach dem Altarraum und Gemeinderaum nicht mehr als Gegenüber, sondern als miteinander verbundene Einheit verstanden werden sollen und er schlussfolgerte die Notwendigkeit einer zeitgemäßen architektonischen und künstlerischen Gestaltung derselben.
Altarraum und Gemeinderaum nicht mehr als Gegenüber, sondern als miteinander verbundene Einheit
Basierten van Ackens Gedanken wesentlich auf Lehren Papst Pius X. sowie auf sozialreformerischen, pastoraltheologischen und liturgiereformerischen Positionen jener Jahre (Franz Hitze, Heinrich Swoboda, Ildefons Herwegen, Romano Guardini, Odo Casel u.a.), so nahmen sie in ihren architektonischen Konkretionen wesentliche Aspekte der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962 vorweg.
Die Überlegungen nahmen in ihren architektonischen Konkretionen wesentliche Aspekte der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962 vorweg.
Bereits 1914 hatte er im Zusammenhang mit dem Neubau zweier Pfarrkirchen in seinem langjährigen Wirkungsort Gladbeck erste „Gedanken zum Neuzeitlichen Pfarrkirchenbau“ niedergeschrieben, die bereits in dieselbe Richtung wiesen.[2] 1919 veröffentlichte der Architekt Otto Bartning die wegweisende architekturtheoretische Schrift „Vom neuen Kirchbau“, in der er die mangelhaften formalen Zusammenhänge zwischen sakraler Architektur und liturgischer Nutzung anprangerte.[3] Er forderte eine Gestaltung, die den Kirchenraum klar und deutlich als religiösen Handlungsraum auswies. Bartnings Schrift bezog sich primär auf den evangelischen Kirchenbau, während van Acken sich zum katholischen Sakralraum äußerte, doch die beiden Schriften bilden gemeinsam eine wichtige Basis für die nachfolgende kritische Auseinandersetzung in Architektur, Theologie und Kunstgeschichte.
Van Acken zog sich zunächst aus dem aktiven Diskurs um den Kirchenbau in der Weimarer Republik zurück und wandte sich anderen Tätigkeiten zu. 1924 wurde er in Berlin zum Caritas-Direktor ernannt, wo Pläne für die Errichtung eines zentralen Ausbildungsinstituts entstanden, für das er 1930 von Berlin nach Köln wechselte. Dort wurde ab 1930 das Caritas-Krankenhaus St. Elisabeth Hohenlind errichtet. An den konkreten Planungen war er erneut beteiligt und zog für den Kirchenbau Dominikus Böhm hinzu, mit dem er gemeinsam sein Lebenswerk vollendete. Van Acken starb überraschend 1937 und ist in der Krypta der Kirche beigesetzt.
Die beiden frühen Gladbecker Kirchen Heilig Kreuz in Butendorf und Herz Jesu in Zweckel sind selbst Fachleuten kaum geläufig – und gefährdet.
Die Kirche St. Elisabeth in Hohenlind ist heute eine überregional bekannte Architekturikone, doch die beiden frühen Gladbecker Kirchen Heilig Kreuz in Butendorf und Herz Jesu in Zweckel sind selbst Fachleuten kaum geläufig. Im Zusammenhang mit dem Pfarreientwicklungsprozess des Bistums Essen, zu dem sie heute gehören, werden beide Kirchen mittelfristig geschlossen. Für Herz Jesu ist eine Nutzung als Kinderbetreuungsstätte in Planung, doch das Schicksal des wegweisenden Zentralbaus von Heilig Kreuz – ein eindrucksvolles Dekagon, das zugunsten eines engeren Zusammenschlusses von Gemeinderaum und Altar bereits 1914 fast vollständig auf einen eigenständigen Chor verzichtete – ist ungewiss. Ihr Erbauer, der Kölner Architekt Otto Müller-Jena hatte in enger Abstimmung mit van Acken einen Raum entworfen, der Tradition, Innovation und Funktion in ein harmonisches Verhältnis zu bringen verstand. Damit steht Heilig Kreuz in einer Reihe moderner Kirchenbauten, die von der Bedeutung des Dialogs und des gemeinschaftlichen Muts zur Veränderung zeugen und nicht den Anspruch erheben, das genialische Werk eines Einzelnen zu sein.
Dr. Manuela Klauser ist Kunsthistorikerin und forscht zu Sakralarchitektur des 19 bis 21. Jh. Sie betreut redaktionell das Internetprojekt www.strasse-der-moderne.de des Deutschen Liturgischen Instituts.
2022 erschien von Manuela Klauser gemeinsam mit Ralph Eberhard Brachthäuser bei LIT: Johannes van Acken. Christozentrische Kirchenkunst – Ein Entwurf zum liturgischen Gesamtkunstwerk (= Bd. 74 der Reihe Ästhetik – Theologie – Liturgik). Mit einem Geleitwort von Albert Gerhards, Münster 2022.
Bild: Kath. Kirche St. Bonifatius (1926-1927) in Frankfurt-Sachsenhausen von Martin Weber, ehem. Partner von D. Böhm. Seit 2005 wird die Kirche auch als Jugendkirche JONA genutzt. Dazu wurde der Raum mit einer variablen Bestuhlung, neuen Prinzipalien und einem Vorhang zur Abtrennung des Chorbereichs ausgestattet. 2014 rundete ein neues Beleuchtungskonzept die erweiterten Nutzungsmöglichkeiten ab. Bildrechte: Wikimedia Commons (DXR)
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[1] https://www.katholische-akademie-berlin.de/veranstaltung/johannes-van-acken-leben-werk-rezeption/ (Abruf 29.11.2022).
[2] Johannes van Acken, Gedanken zum neuzeitlichen Pfarrkirchenbau, in: Ders. (Hrsg.), Festschrift zur Einweihung der Kirchen Zum hl. Herzen Jesu und zum Hl. Kreuze in Gladbeck, Gladbeck 1914, Faksimilierter Nachdruck Gladbeck 2022, S. 5-16.
[3] Otto Bartning, Vom neuen Kirchbau, Berlin 1919.