Nikolaus Nonn ist Benediktiner und Kirchenmusik-Experte. Er führt in die gregorianischen Gesänge der Fastenzeit ein – mit Fokus auf Introitus und Communio-Vers.
Während meines Gregorianik Studiums habe ich noch gelernt, dass fränkische Kantoren von römischen Kantoren den altrömischen Stadtchoral gelernt und in das, was wir heute Gregorianischen Choral nennen, umgeformt hätten. Inzwischen hat die Forschung aber gezeigt, dass der Gregorianische Choral von fränkischen und römischen Kantoren gemeinsam entwickelt worden ist. Wie ist es dazu gekommen?
Diese Begegnung brachte eine neue „Gesangsgattung“ hervor, … die richtiger „fränkisch-römischer Choral“ genannt werden müsste.
Als Papst Stephan II. Mitte des 8. Jh. den byzantinischen Kaiser Konstantin V. um Hilfe gegen die Langobarden bat, und dieser ihm die erbetene Hilfe versagte, wandte sich Stephan an den Frankenkönig Pippin und bat ihn um ein Treffen auf französischem Gebiet. Tatsächlich trafen sich Stephan und Pippin Anfang des Jahres 754 und verhandelten ausführlich die Sachlage. Pippin versprach, dem Volk von Rom zu helfen, woraufhin Stephan im Gegenzug Pippin und seine Familie salbte und ihm und seinen Nachfahren den Titel „patricius romanorum“ verlieh.
Da der Papst nicht alleine, sondern mit einem großen Teil seiner Kurie ins Frankenreich gereist war, kam es natürlich zum Austausch zwischen fränkischen und römischen Kantoren. Diese Begegnung brachte eine neue „Gesangsgattung“ hervor, die wir heute „Gregorianischen Choral“ nennen, die richtiger aber „fränkisch-römischer Choral“ genannt werden müsste.
Die (alttestamentlichen) Gesänge in der Fastenzeit weisen eine starke Christuszentrierung auf.
Auffällig dabei ist, dass gerade die (alttestamentlichen) Gesänge in der Fastenzeit eine starke Christuszentrierung aufweisen. Dies verwundert nicht, denn schon die Kirchenväter haben gerade die Psalmen, aber auch viele andere Bücher des Alten Testaments, aus christologischer Sicht gelesen und gedeutet. So haben sie selbstverständlich, wenn von dem Herrn („Dominus“) die Rede war, diese Christusbezogenheit hergestellt.
So fleht der Eingangsgesang zu Aschermittwoch programmatisch zu Christus um sein Erbarmen: „Misereris omnium, Domine“ – „Du erbarmst dich aller, Herr, … Du siehst über die Sünden der Menschen hinweg aufgrund ihrer Buße. Du schonst sie; denn du bist der Herr, unser Gott.“, zitiert der Choral das Buch der Weisheit (11,24-25.27). Dabei fällt auf, dass die alten Manuskripte aus dem 10. Jh. das erste Wort „misereris“ mit einer Spezialneume[1] versehen, die das Flehen unterstreicht.
Und auch der Kommuniongesang am Aschermittwoch, der Psalm 1 zitiert, muss nach den Kirchenvätern christologisch gesehen werden: „Qui meditabitur in lege Domini“ – „Wer über das Gesetz des Herrn nachsinnt Tag und Nacht, der wird seine Frucht bringen zu seiner (= zur rechten) Zeit.“
Communio-Antiphonen der Fastenzeit
Vor allem diejenigen Communio-Antiphonen, die an Tagen der Fastenzeit gesungen werden und nicht dem Psalter, sondern dem Neuen Testament entnommen sind, weisen auf diese Christusbeziehung hin. Der Innsbrucker Liturgiewissenschaftler Liborius Olaf Lumma hat in seiner Dissertation im Jahr 2006 unter anderem diese Besonderheit herausgearbeitet.[2]
So wird nach der ursprünglichen Ordnung (also zur Zeit der Entstehung des Gregorianischen Chorals) am Donnerstag der 1. Fastenwoche zur Communio ein Vers aus dem Johannesevangelium gesungen: Panis, quem ego dedero, caro mea est pro saeculi vita. „Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt.“ (Joh 6,52). Dem diese Communio singenden Beter wird nach dem Empfang des Abendmahls mit diesem Vers die Bedeutung der Eucharistie und die Bezogenheit auf Christus hin vor Augen geführt. In der nachkonziliaren Liturgie erklingt diese Antiphon in der 19. Woche im Jahreskreis.
Genau eine Woche später erklingt abermals ein Vers aus der Rede Jesu über das Himmelsbrot: Qui manducat carnem meam, et bibit sanguinem meam… „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm, spricht der Herr.“ (Joh 6,57). Auch hier besingt der Kommunikant die innige Verbindung zwischen Christus und sich selbst. Diese Antiphon wird nun am Hochfest des Leibes und Blutes Christi gesungen.
Enge Verbindung vom Sakrament des Altares mit dem Sakrament des Wortes.
Die erneuerte Liturgie liest am Samstag der zweiten Fastenwoche das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,1-3.11-32). Gerade an diesem Tag wird ein Grundsatz der Gregorianik erkennbar. Wenn nämlich in einem der vorgetragenen Schrifttexte ein markanter Satz steht, wird dieser als Textgrundlage für die Communio genommen, um die enge Verbindung vom Sakrament des Altares mit dem Sakrament des Wortes deutlich zu machen. Und so erklingt nach dem oben genannten Gleichnis: Oportet te fili gaudere. „Du musst dich freuen, mein Sohn, denn dein Bruder war tot, und lebt wieder; er war verloren und wurde wiedergefunden.“ (vgl. Lk 15,32). Liborius Lumma weist auf eine signifikante Abweichung zwischen Vulgata und Communio-Antiphon hin: „Während die Vulgata im Präteritum oportebat und noch dazu unpersönlich, also nur gaudere oportebat („es geziemt sich, sich zu freuen“) lautet, sagt die Antiphon oportet te fili gaudere („es geziemt sich für dich, Sohn, dich zu freuen“).[3]
Eine weitere Communio-Antiphon wurde ursprünglich am Freitag der 3. Fastenwoche gesungen und erklingt heute am 3. Fastensonntag im Lesejahr A: Qui biberit aquam. „Wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, spricht der Herr zur Frau aus Samaria, wird in der Quelle sprudelnden Wassers bleiben, deren Wasser ewiges Leben schenkt.“ ( Joh 4,13.14). Im Dialog mit der samaritischen Frau thematisiert Jesus etwas Endzeitliches, das uns allen verheißen ist, nämlich ewiges Leben.
Wer also die Eucharistie empfängt, dem ist Vergebung gewährt.
Ursprünglich am 3. Fastensonntag erklang die Antiphon Nemo te condemnavit, mulier? „Keiner hat dich verurteilt, Frau? Keiner, Herr. Dann verurteile ich dich auch nicht! [Geh, und] sündige von nun an nicht mehr!“ Die Antiphon, die im Zusammenhang mit dem Kommunionempfang erklingt, erinnert an 1 Joh 1,7 „das Blut seines Sohnes Jesus reinigt uns von aller Sünde.“ Wer also die Eucharistie empfängt, dem ist Vergebung gewährt.
Der urspüngliche Ort der nächsten Evangeliums-Antiphon war der Freitag der 4. Fastenwoche und ist nun am 5. Fastensonntag im Lesejahr A: Videns Dominus flentes sorores Lazari ad monumentum. „Als der Herr die weinenden Schwestern des Lazarus am Grab sah, da weinte er vor den Juden und rief: ‚Lazarus, komm heraus!‘. Und er kam heraus, mit gebundenen Händen und Füßen, der seit vier Tagen tot gewesen war.“ Der Text stellt eine Kompilation von verschiedenen Versen aus dem 11. Kapitel des Johannesevangeliums dar. Die Antiphon hat keine Verbindung zur Eucharistie, und doch assoziiert sie das ewige Ostern in der Herrlichkeit Christi.
Zwei weitere Antiphonen erklingen in der Karwoche: Pater, si non potest. „Vater, wenn es nicht möglich ist, dass dieser Kelch an mir vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke: So geschehe dein Wille!“ (Mt 26,42) und Dominus Iesus. „Der Herr Jesus, nachdem er mit seinen Jüngern gegessen hatte, wusch er ihre Füße und sagte zu ihnen: Ihr wisst, was ich euch getan habe, ich, der Herr und Meister? Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit auch ihr so handelt.“ (vgl. Joh 13,12-15). Beide Antiphonen zitieren Christusworte und erinnern den Betenden damit an seine Verpflichtung in der Nachfolge.
Die hier nur kurz skizzierten Antiphonen verdeutlichen die Intention der römisch-fränkischen Kantoren, nämlich – wie oben schon ausgeführt – den engen Zusammenhang zwischen dem Sakrament des Wortes und des Altares herzustellen und den Singenden in eine engere Christusbeziehung zu bringen.
[1] Neumen (griech. to neuma: der Wink, das Handzeichen) sind die Vorläufer unserer heutigen Notation.
[2] Vgl. zum Folgenden: Liborius Olaf Lumma, Qui manducat carnem meam et bibit sanguinem meum. Theologische Implikatonen der Gregorianischen Communio-Antiphonen de evangelio im Messproprium des Temporale = Liturgica Oeniopontana, hg.v. Reinhard Meßner, Bd. 5 (Wien/ Münster 2009)
[3] Liborius Lumma, a.a.O, S. 85.
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Nikolaus Nonn OSB, geb. 1956, seit Mai 2012 in der Cella Sankt Benedikt (Hannover), seit 2013 Superior. 2014 bis 2016 Leitender Referent für Liturgie im Bischöfl. Generalvikariat Hildesheim. Derzeit Dozent für theol. Grundlagen, Liturgik, Gregorianik und Deutschen Liturgiegesang (Hannover,Lübeck). Seit Nov 2021 Präses des Diözesan-Caecilien-Verbands Hildesheim.
Beitragsbild: Ausschnitt aus dem Codex Einsiedeln 121, geschrieben zwischen 960 und 970, p. 127. Es enthält die Sankt Galler Neumen zur Communio-Antiphon Qui manducat carnem meam.