Anneliese Felber zeichnet nach, wie die Einladungsgeste Jesu aus dem Gastmahl-Gleichnis (Lk 14,23) bei Augustinus zur Begründung religiösen Zwangs wurde und welche fatale Wirkungsgeschichte sich daraus entwickelte.
Thomas von Aquin
Thomas von Aquin bringt in seiner Summa theologiae (II,2 q.10 a.8) die klassischen Argumentationsstellen für Toleranz und Intoleranz: „Lasset beides wachsen bis zur Ernte“ aus dem Unkraut-Gleichnis (Mt 13,30), wodurch Gott das Letzturteil überlassen wird, und „Nötige sie einzutreten“ aus dem Gastmahl-Gleichnis (Lk 14,23), womit körperliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Häretikern gerechtfertigt werden. Thomas selbst bringt auch die für die Folgezeit maßgebliche Diskussion ein: Heiden und Juden sind nicht zum Glauben zu zwingen; die Häretiker aber sind mit körperlichen Mitteln zu nötigen, damit sie erfüllen, was sie versprochen haben.
Compelle intrare wird als Zwang zum Bleiben bzw. zur Rückkehr in die katholische Kirche interpretiert. Das Unkrautgleichnis steht dem nicht entgegen. Mt 13 erlaubt in augustinischer Interpretation die Anwendung von gutem Zwang, wenn es möglich ist, Gut und Böse zu unterscheiden. Rainer Forst nennt dies in seinem Buch „Toleranz im Konflikt“ das Janusgesicht christlicher Toleranz, dass nämlich Toleranz selbst zum Vergehen wird, wenn man nicht handelt, sobald das Unkraut identifizierbar ist.
Augustins Bemühen um Toleranz
tolerantia bedeutet im klassischen Latein nicht Duldsamkeit gegenüber anders denkenden Menschen, sondern Ertragen von Unrecht, Leid, Ausharren in Schicksalsschlägen. Augustin (354-430) hat daraus einen gemeinschaftsstiftenden Begriff gemacht, der ein Verhalten beschreibt, das MitchristInnen in ihrer Andersheit erträgt. Toleranz verpflichtet auch zur Duldung von Schismatikern, Häretikern und Juden um der Einheit und des Friedens der Kirche willen. Augustin meidet Häretiker nicht, sondern stellt sich ihnen in Wort und Schrift und würdigt sie sogar als große Geister.
Alles, was Augustin zur Toleranz, die bei ihm den Charakter einer sozialen Grundtugend annimmt, geäußert hat, hat keine vergleichbare Nachwirkung gezeigt wie sein Gedanke der Gewaltanwendung gegenüber kirchlichen Nonkonformisten.
Sein situationsbezogenes Plädoyer für Zwangsausübung gab Späteren, vor allem den mittelalterlichen Kanonisten und Theologen, die Gelegenheit, aus einer spezifischen Handlungsweise eine allgemeine Handlungsmaxime kirchlicher und staatlicher Religionspolitik zu machen. In der theologischen Gesamtorientierung Augustins stellt coge intrare (so die Form bei Augustinus) einen Fremdkörper dar, wurde aber im Mittelalter und der frühen Neuzeit mit Vorliebe aufgegriffen.
Im Kampf gegen die DonatistInnen[1] hat Augustin mehrmals von der Bibelstelle Lk 14,23 Gebrauch gemacht. Augustin bemüht sich in vielen Briefen um friedliche Verständigung mit ihnen, bemüht sich um theologisch-argumentative Überzeugungsarbeit und lehnt die Anwendung von Zwangsmitteln durch den römischen Kaiser und seinen Beamten und die sofortige Aburteilung bei Unruhestiftung ohne ordentliches Prozessverfahren ab, selbst als die Gewalttaten des terroristischen Zweigs dieser Gruppierung Überhand nehmen.
Die staatlichen Zwangsmaßnahmen gegen die Donatisten aus dem Jahr 405[2] gehen deutlich über die „Schutzbitte“ des nordafrikanischen Episkopats hinaus. Als auch diese Maßnahmen nicht greifen, wenden sich die katholischen Bischöfe an den Kaiser um ein Religionsgespräch, das 411 stattfindet. Nach einer Phase heftigsten Widerstandes treten die Donatisten massenhaft zur katholischen Kirche über und lösen sich auf. Auch nach 411 mahnt Augustin zur Milde in der Anwendung der kaiserlichen Gesetze und lehnt Folter, Verstümmelungen und Todesstrafe grundsätzlich ab.
Augustins Rechtfertigung staatlicher Zwangsmaßnahmen gegen die DonatistInnen
Die Belege finden sich gänzlich nach 411, dem Religionsgespräch in Karthago, wo die katholische Seite triumphiert hatte. Einzige Ausnahme ist Brief 93 aus dem Jahr 408 an Vincentius von Cartenna, einen Anhänger des milden Flügels der DonatistInnen. Augustinus schreibt, dass er ursprünglich der Auffassung gewesen sei, niemand dürfe zur Einheit Christi gezwungen werden. Man müsse vielmehr mit dem Wort handeln, den Irrtum auf dem Wege der Disputation bekämpfen und durch Einsicht besiegen, damit nicht aus aufrichtigen Häretikern gezwungene Katholiken würden. Durch seine Mitbischöfe und durch Beispiele des Erfolgs und durch Tatsachen sei er aber in seiner Ansicht bekehrt worden: Nicht nur einzelne Menschen, ganze Städte seien katholisch geworden, das alles auf Veranlassung der kaiserlichen Gesetze und der damit verbundenen Furcht.
Der Erfolg also spricht für die Anwendung staatlicher Gewalt und rechtfertigt ein Vorgehen mit Schrecken und Gewalt als legitime Mittel der Besinnung und Bekehrung. Viele freuen sich, durch staatliches Eingreifen vom Irrtum befreit worden zu sein. Sie sagen selber: Wir wären nicht eingetreten, wenn man uns nicht gezwungen hätte. Augustin geht aus vom Nutzen der Angst und der Erzwingbarkeit des Guten. Die Strafe, die zur Besserung eingesetzt wird, wird als Werk der Barmherzigkeit und als Form der Liebe verstanden. Der Prozess der Besserung werde durch staatlichen Druck unterstützt. Wie begründet aber Augustin seinen Gesinnungswandel theologisch?
Augustin führt die Bekehrung des Paulus, das sog. Damaskuserlebnis (Apg 9,3-18), an und interpretiert es unter der Perspektive des Zwanges. Wie Paulus durch Verlust des Augenlichts von Christus zur Annahme des Glaubens gezwungen wurde, so versuche es Gott bzw. die staatliche Gewalt bei den DonatistInnen durch Verlust des Vermögens, das weniger wertvoll als das Augenlicht sei. Das coge intrare des Hausvaters in Lk 14,23 verträgt sich mit der erzieherischen „Liebe“ Gottes: „Wer kann uns mehr lieben als Gott? Und doch hört er nicht auf, bald uns mit Freundlichkeit zu belehren, bald uns heilsam in Schrecken zu setzen“ – „Nicht jeder, der schont, ist dein Freund, nicht jeder, der schlägt, dein Feind.“ „Sollte ich nun etwa diesen Leuten ihr Heil nicht gönnen und meine Amtsgenossen von einer derartigen väterlichen Fürsorge abhalten“, fragt Augustin an einer anderen Stelle.
Augustin vertritt in Brief 185 (aus dem Jahr 417) die Meinung, dass die Kirche das Wohl ihrer Mitglieder besser kennt als diese selber. Ob Gewalt gut oder verwerflich sei, bestimmt sich jeweils durch das Ziel, das mit Hilfe von Gewalt erreicht werden soll. Durch eine Verknüpfung von göttlicher und kaiserlicher Macht legitimiert er den Zwang zum Glück. Gegen den Donatistenbischof Gaudentius führt Augustin aus: Niemand darf aus Hunger nach der geistlichen Speise zugrunde gehen, seien sie freiwillig oder gezwungenermaßen gekommen. Dieser Zwang erweist sich im Nachhinein als Grund zur Freude. Aus pastoraler Sorge um das ewige Heil des Einzelnen rechtfertigt Augustin diesen Zwang. Zugunsten des Seelenheils der Menschen befürwortet Augustin, gegen deren Willen zu handeln. Ähnlich in seiner 112. Predigt: „Hat aber der Herr nicht gesagt: ‚Nötige sie hereinzukommen?’ Zwang mag den äußeren Anstoß geben, innere Freiheit soll folgen.“ Es bedarf eines Impulses! Furcht, Schrecken und Gewalt schaffen mentale Dispositionen, die zur richtigen Glaubensentscheidung führen. Zwang beseitigt Hindernisse, die der Hinwendung zum Guten im Weg stehen.
Zur Rezeption von Augustins Interpretation von Lk 14,23
Lk 14,23 wird in der Folgezeit nicht nur auf Irrlehrer und Bewegungen wie der KatharerInnen und AlbigenserInnen angewendet, sondern auch bei der Bekehrung der Wenden im 11. Jahrhundert, im Investiturstreit gegen die Simonisten, es rechtfertigt die Inquisition und die Unterjochung der Indianer im 16. Jahrhundert. Auf dem Basler Konzil im 15. Jahrhundert wird gegenüber den Hussiten an Augustins Exegese von Lk 14 erinnert. Der Reformator Urbanus Rhegius macht coge intrare zum konkreten Handlungsimperativ für den christlichen Fürsten. Calvin rechtfertigt damit den Einsatz weltlicher Macht im Kampf gegen Häresie und Ungläubigkeit, ebenso Luther: das geistliche Regiment helfe mit Wort und Bann, die weltliche Obrigkeit mit Schwert und Gewalt, dass die Leute fromm und die christliche Lehre vor willkürlicher Verfälschung bewahrt werde (Auslegung zu Mt 13 im Jahr 1544). Nach der Aufhebung des Edikts von Nantes hingegen wird 1685 der Kampf gegen die Protestanten mit compelle intrare legitimiert.
Während Erasmus von Rotterdam (gest. 1536) sich bemüht, Augustin als Anwalt der Toleranz nahezubringen, und mit Blick auf die DonatistInnen eine Differenzierung vorwegnimmt, die Rechtsgelehrte im 17. Jahrhundert treffen, dass nämlich nicht der bloße Irrtum, sondern das damit verknüpfte Vergehen gegen die öffentliche Ordnung zu bestrafen sind, behauptet Kardinal Robert Bellarmin (1542-1621): „Es ist klar und einsichtig, dass Augustin der Auffassung war, es sei gerecht, wenn Häretiker getötet werden.“ Das hatte Augustin nie vertreten. Bellarmin kritisiert Fürsten, die Glaubensentscheidungen dem Gewissen des Einzelnen überlassen; gemeint sind die Fürsten, die sich auf dem Reichstag zu Speyer 1526 für Glaubensfreiheit ausgesprochen hatten.
Die Kritik der Humanisten
Hugo Grotius, der Wegbereiter der historisch-kritischen Methode, bemerkt 1641, Augustin habe sich mit seiner aus Affekt entstandenen Exegese in Gegensatz zu namhaften christlichen Schriftstellern gestellt, die für Freiheit vom Zwang eingetreten seien, exegetisch sei Lk 14,23 nicht auf Häretiker zu beziehen. Vor allem bei den Humanisten regt sich Kritik an Augustins heilsamen Zwang, man tritt für Duldung ein.
Im 19. Jahrhundert kommt Augustin nur noch als Begründer von Intoleranz in den Blick. Das ist auch die Zeit, wo Religionsfreiheit als Grundrecht des/r einzelnen Bürgers/in in die Verfassungen aufgenommen wird.
Augustin hat zweifellos – trotz aller Appelle zu Toleranz – Anhaltspunkte für diese Entwicklungen geliefert und faktisch eine Wirkungsgeschichte ausgelöst, die nicht abzusehen war. Durch eine selektive Rezeption und vor allem unreflektierte Haltung zur Autorität des Augustinus war dies möglich. Es sei erinnert an das Wort des Paulus in 1 Thess 5,21: Prüfet alles und das Gute behaltet!
[1] Die DonatistInnen, benannt nach ihrem Führer Donatus, Bischof von Karthago, bilden in Nordafrika längere Zeit ein Schisma: es geht um die Frage der Gültigkeit der Weihe durch Kleriker, die in der diokletianischen Verfolgungszeit die hl. Schriften ausgeliefert haben. Damit verbunden ergeben sich auch Gegensätze im Kirchenverständnis. Insgesamt spielen soziale, wirtschaftliche und ethnische Faktoren (punische Landbevölkerung, romanisierte Oberschicht) eine Rolle.
[2] Diese waren seit 405 durch kaiserliche Erlässe zunehmend Geldstrafen, Vermögensentzug, Verbannung und des Kirchenentzugs ausgesetzt.
Ausführlicher:
A. Felber, Zwei Wörter mit langer Gewaltgeschichte: Compelle intrare (Lk 14,23), in: Protokolle zur Bibel 18 (2009) 123-132.
Dies., Jede/r will Frieden – und doch kein vollkommener Frieden auf Erden! Friedensvorstellungen bei Augustinus, in: L. Neuhold (Hg.), Frieden, Frieden, aber es gibt keinen Frieden, Innsbruck 2014, 11-35, bes. 24-29.
Anneliese Felber, Photo: Uwe-Schlick_pixelio.de