Welche Auswirkungen wird der jetzige Umgang mit der Pandemie auf uns selbst, die Belastbarkeit der Moral und die rechtsstaatliche Demokratie haben? Überlegungen von Christof Mandry.
Es sieht ganz so aus, als wäre Deutschland um die ganz große Krise noch einmal herumkommen. Auch wenn die Pandemie noch keineswegs überwunden ist, wird nun der „Shut down“ schrittweise gelockert. Zurück zur „Normalität“ ist es noch ein weiter Weg. Aber es ist schon jetzt an der Zeit, mit dem Nachdenken darüber anzufangen, was der Umgang mit der Beinahe-Katastrophe über uns selbst verrät, über die Belastbarkeit unserer Moral und unserer rechtstaatlichen Demokratie.
Das Denken der Krise verführt zu einer Moral des „Ausnahmezustands“.
Anders als die ebenfalls global spürbare Finanzkrise 2009 betrifft die Corona-Pandemie nicht nur die soziale und wirtschaftliche Lage, sondern unmittelbar Gesundheit und Leben der Menschen. Diese existenzielle Bedrohung verdichtet sich in der Triage: Wem muss in einem überlasteten Gesundheitssystem die Behandlung verweigert werden, damit sie einer anderen gewährt werden kann, die sie nötiger braucht? Wenn es weniger Beatmungsplätze als Schwerkranke gibt, wer soll dann die Beatmung bekommen, und wem kann nicht geholfen werden? Die medizinethische Problematik der Triage, die uns bislang nur als Spezialthema bei Unglücksfällen wie Zugkatastrophen oder Flugzeugabstürzen vom Hörensagen bekannt war, wird im Pandemie-Szenario zu einem Signum der Gesamtgesellschaft. Sie kann jeden und jede treffen.
Das Leben des einzelnen ist nicht mehr sicher.
Das Leben des einzelnen ist nicht mehr sicher, sondern steht im potenziellen Kampf um lebensrettende Intensivbetten mit den anderen Bürger*innen. In einer solchen Situation ist Carl Schmitts politisch-theologisches Theorem des Ausnahmezustands nicht fern. Schmitt hatte Anfang der 1930er Jahre als Grundproblematik des Politischen die permanente Gefahr beschrieben, dass das Miteinander der Bürger in einen offenen Gewaltkonflikt abgleiten könnte. Souverän, so seine bekannteste Aussage, ist derjenige, der über den Ausnahmezustand entscheidet. Man kann dies so übersetzen, dass politische Handlungsfähigkeit sich faktisch daran entscheidet, dass in der Krise die Ordnung aufrechterhalten und das Chaos abgewendet wird. Schmitt hat bekanntlich die Ordnungsfunktion des Staates den Grundrechten übergeordnet – im Unterschied zur Verfassungsordnung der Bundesrepublik, die selbst im (in der aktuellen Pandemie gar nicht gegebenen) Notstand das staatliche Handeln auf die Gewährleistung der fundamentalen Grundrechte verpflichtet. Maßgebliche Stimmen in der aktuellen Krisendiskussion scheinen dies jedoch aufzugeben und angesichts der drohenden Triage-Situation eher Schmitt zuzuneigen.
Im Kontext der Pandemie verbindet sich die Medizinethik der Triage mit einer politischen Theologie des Ausnahmezustands.
Doch wie wechselt die Triage von der Medizinethik in das Register der politischen Theorie? An zwei gewichtigen Stellungnahmen lässt sich dies ausmachen: an den ethischen Empfehlungen der Dachvereinigung der Intensiv und Notfallmediziner (DIVI) zur Ressourcenzuteilung im Kontext von COVID 19[1] und an der Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrats über Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise[2].
ein differenziertes Vier-Schritt-Verfahren
Die DIVI-Empfehlung konzentriert sich dabei auf die medizinische Ethik und skizziert ein differenziertes Vier-Schritt-Verfahren, das anzuwenden ist, wenn die intensivmedizinischen Kapazitäten nicht für alle Patient*innen ausreichen, die sie benötigen würden. Wer dann intensivmedizinisch behandelt wird, soll nach strikt medizinischen Kriterien entschieden werden. Alter, soziale Stellung und weitere Gesichtspunkte dürfen keine Rolle spielen.
Problematisch ist die ex post-Triage: Die Behandlungswürdigkeit der Patient*innen wird ständiger Re-Evaluation unterzogen.
Allerdings geht die DIVI-Empfehlung noch einen Schritt weiter und fordert, die daraufhin begonnenen intensivmedizinischen Behandlungen in neuerlichen Priorisierungsrunden jeweils neu zu gewichten (ex-post-Triage). Sobald neue Krankheitsfälle hinzukommen, bei denen bessere Heilungschancen prognostiziert werden, müsste, so die Empfehlung, die Behandlung der bisherigen Patient*innen gestoppt werden. Sie müssten ihren Beatmungsplatz für neue Patient*innen freimachen – mit potenziell tödlichen Folgen für sie selbst. Die DIVI-Empfehlungen versuchen hier offenbar, dem Gleichheitsgrundsatz insofern Rechnung zu tragen, als der Zeitpunkt, an dem jemand an COVID 19 erkrankt, nicht ausschlaggebend dafür sein soll, ob er oder sie – wenn es nicht genug Intensivbetten gibt – eine Behandlung erhält oder nicht.
Es würde den Bruch des Behandlungsversprechens zwischen Ärztin und Patient*in bedeuten.
Das ist aber aus mehreren Gründen ethisch abwegig: Das Entziehen einer medizinisch sinnvollen und vom Patienten gewollten Behandlung ist ethisch etwas völlig anderes, als eine Behandlung nicht erst aufzunehmen, für die schlicht keine Ressourcen vorhanden sind. Es würde den Bruch des Behandlungsversprechens zwischen Ärztin und Patient*in bedeuten. Kein Patient könnte mehr darauf vertrauen, zu seinem Wohl behandelt zu werden, sondern müsste ständig damit rechnen, gegen seinen Willen und zugunsten eines anderen aufgegeben zu werden. Ethisch gesehen spricht daher viel gegen die Idee einer laufenden Re-Evaluation der Priorisierung und viel für den Grundsatz, eine einmal begonnene Behandlung nur nach medizinischen Kriterien fortzuführen oder zu überdenken.
Der Ethikrat stellt die Triage in den Rahmen einer politischen Theologie.
Erst der Deutsche Ethikrat stellt die Triage in einen politisch-theologischen Kontext, nämlich indem er sie mit der Schmittschen Frage nach der Souveränität im Ausnahmezustand verbindet. Denn es ist offenkundig nicht mit den von der Verfassung garantierten Grundrechten vereinbar, wenn einer Patient*in eine einmal begonnene, medizinisch notwenige und von der Patientenautonomie gedeckte Behandlung entzogen wird. Wie aber, so fragt sich der Ethikrat, soll der Rechtsstaat in dieser Situation vorgehen, da die Behandlungsplätze nicht für alle reichen und solche Entscheidungen nun einmal – hier schließt sich der Ethikrat m.E. zu Unrecht der DIVI-Empfehlung an – gefällt werden müssen? Der Gesetzgeber kann hier selbst keine Vorzugsregeln aufstellen, da er sonst zwischen dem Lebensrecht seiner Bürger*innen abwägen würde. Damit würde er sich als Grundrechtsstaat aufgeben. Der Ethikrat findet jedoch einen Ausweg aus dem Dilemma, in das ihn die – hier als irrig betrachtete – Medizinethik geführt hat: Der Staat könnte sich doch dem Urteil kompetenter Fachgesellschaften wie der DIVI anvertrauen!
Der Gesetzgeber kann hier selbst keine Vorzugsregeln aufstellen.
Wo ihm aus grundsätzlichen Gründen die Hände gebunden sind, sollte er dem Ethikrat zufolge einer fähigen Privatpartei freie Bahn lassen, um die eigentlich unzulässige Verletzung des Grundrechts auf Leben seiner Bürger*innen zu regeln. Natürlich anerkennt der Ethikrat, dass es sich dabei um objektives Unrecht handeln würde, das strafrechtlich sanktioniert werden müsste. Doch auch hier weiß er eine Lösung: In Anerkennung der staatlichen Unfähigkeit, eine Regelung selbst zu normieren, sollten die staatlichen Höchstgerichte, vor denen diese Fälle landen würden, die Straflosigkeit feststellen. Der Rechtsbruch bleibt einfach folgenlos. Man reibt sich verwundert die Augen: Eine Grippe-Pandemie versetzt das Land in Furcht und Schrecken, das hochmoderne Gesundheitssystem droht vorübergehend überlastet zu werden – und das war es schon mit Rechtsstaat und Grundrechten? Was geht hier vor sich?
Medizinische Ethik ist politisch alles andere als harmlos. Der Ethikrat tappt in die Falle der politischen Theologie.
Der Deutsche Ethikrat ist medizinethisch zu unkritisch und politisch-ethisch von Schmitt verführt. Dabei ist er zunächst einer zutreffenden Problematik auf der Spur: Wer hat eigentlich das Heft der Entscheidung in der Hand, wenn es in einer Krisensituation drunter und drüber zu gehen droht, wie es aus manchen Ländern berichtet wird, in denen die Pandemie tatsächlich zur Systemüberlastung geführt hat? Wer ist faktisch in der Lage, angesichts von Ressourcenknappheit wirksam zu entscheiden, wer eine Behandlung erhält und wer nicht – nach welchen Kriterien auch immer? In einer solchen neuen und unregulierten Situation zeigt es sich, wer handlungsfähig – und in diesem Sinne „souverän“ ist. Sind es die einzelnen Ärztinnen und Ärzte, die gemäß ihrer Wertvorstellungen entscheiden? Sind es die jeweiligen Krankenhäuser bzw. ihre Leitungen? Sind es die medizinischen Standesvertretungen oder Fachgesellschaften? Oder ist es der Staat, der sich durchsetzen kann?
In einer solchen neuen und unregulierten Situation zeigt es sich, wer handlungsfähig – und in diesem Sinne „souverän“ ist.
Der Ethikrat will der Willkür entgegentreten, damit es nicht einfach davon abhängt, an welche Ärztin mit ihrer je individuellen Moral eine Patient*in gerät. Da er die Hände des Staats gebunden sieht, akzeptiert er, dass medizinische Gesellschaften in Gestalt von DIVI die moralische Priorisierungskompetenz über Grundrechte an sich ziehen. In der Sicht des Ethikrats kann der Staat nur die Souveränität von DIVI akzeptieren und durch die Zusicherung der Straflosigkeit nachträglich ratifizieren. Souverän ist eben, wer den Ausnahmezustand verhängen kann und wer in der Krisensituation faktisch Gefolgschaft findet. Darum herum modelliert der Ethikrat den Rechtsstaat – offenbar ohne zu erkennen, dass er ihm damit die Unfähigkeit attestiert, in Pandemie-Zeiten die Grundrechte seiner Bürger zu garantieren.
Souverän ist eben, wer den Ausnahmezustand verhängen kann und wer in der Krisensituation faktisch Gefolgschaft findet.
Wir können froh sein, wenn wir in Deutschland voraussichtlich um eine Triage-Situation herumkommen und sie nur zum Gegenstand von Gedankenspielen machen mussten. Wir müssen uns aber kritisch fragen, ob unser ethisches und politisches Denken mit der Dynamik mithält, die eine Pandemie offenbar entfalten kann. Wie wird unsere Ethik krisenfest? Darüber sollten wir nach der Pandemie verstärkt nachdenken.
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Christof Mandry, Professur für Moraltheologie und Sozialethik an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.
Beitragsbild: Markus Spiske / pexels.com
[1] DIVI – Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung der Intensiv- und Notfallmediziner: Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie. Klinisch-ethische Empfehlungen. Die von sieben Fachgesellschaften verabschiedete Fassung vom 25.03.2020 ist u.a. auf der Website der Akademie für Ethik in der Medizin e.V. veröffentlicht: https://aem-online.de/fileadmin/user_upload/COVID-19_Ethik_Empfehlung-v2.pdf
[2] Deutscher Ethikrat: Ad-hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“, Berlin 27.03.2020. https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf