Die Kolumne für die kommenden Tage 10
Corona: Ein bedeutungsschwerer Name für ein solches Virus. Denn in der Tat: Das Virus trägt immer mehr die Herrscherkrone in seiner Zerstörungskraft wie auch in seiner beklemmenden Gestaltungskraft des sozialen Lebens. Der Kampf gegen das zerstörerische Chaos, der mit der Schöpfung gewonnen schien, ist überhaupt nicht gewonnen (vgl. Gen1,1-2,4a): Denn dieses Chaos bricht immer wieder durch die dünne Membrane geordneten, guten bzw. gesunden Lebens. Es gibt einen „religiösen Schöpfungskitsch“,[1] der Gott für die schöne Schöpfung dankt, darin aber die schlimmen Alltagserfahrungen in dieser Schöpfung um ihre Wucht bringt und dazu noch Gott selbst entschuldigt.
Der Mensch ist nicht an allem schuld (vgl. Gen2,4b-25); für diese prekäre Grundstruktur der Schöpfung ist Gott selbst verantwortlich und auch zur Verantwortung zu ziehen.[2] Wenn man noch an einen „guten“ Gott glaubt, dann ist er entsprechend ins Gebet zu nehmen. Da gibt es nichts zu rechtfertigen, wie es überhaupt eine Anmaßung ist, Gott rechtfertigen zu wollen. Das Gegenteil dieser Anmaßung ist die Anerkennung Gottes dadurch, dass die Klagen der Menschen gegen Gott gerechtfertigt werden. Gott als Hilfe, Rettung und Trost anzurufen, ist viel, aber nicht so, als hätte Gott mit dem Elend nichts Verursachendes zu tun, als wäre Gott nur ein „Mitopfer“.
Man kann Gott nicht derart unbeteiligt sein lassen und zum Götzen des Elends machen. Dann wäre das Elend tatsächlich die „Krone der Schöpfung“. Wenn es wirklich um einen „Gott“ gehen soll, der diesen Namen verdient, dann ist er auch als für das Leiden letztlich Verantwortlicher, als „(Mit)-Täter“ aufzurufen. Die biblischen Klagepsalmen bezeugen dies heftigst. Denn Gott müsste auch anders können. Aber Gott rettet nicht, noch nicht?
Paul Gerhards Lied „der alles so herrlich regieret“, kann nur kontrafaktisch gegen die Wirklichkeit, in der vieles nicht herrlich regiert ist, gesungen werden. Zugleich singen wir das Lied antizipatorisch auf einer in die Unendlichkeit reichenden Zeitschiene, in der großen, fast irrsinnigen Hoffnung, dass es von Gott her einmal eine Antwort gibt, die nicht unterhalb des Niveaus des Erlittenen bleibt, sondern dieses Niveau ins Unerschöpfliche an Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit hinein übersteigt.
Nicht erst angesichts der Coronakrise, aber jetzt besonders, ist der christliche Glaube, wenn er denn etwas mit der Gottesbeziehung zu tun hat, als eine paradoxe Auseinandersetzung mit Gott zu vertiefen: mit der Verweigerung des Einverständnisses genauso wie mit einer darüberhinaus gehenden größeren Hoffnung, die Gott nochmals unendlich größer sein lässt als unsere Verweigerungen, ohne die letzteren außer Kraft zu setzen: mit einem Gebet zur größeren Ehre Gottes,[3] mit einer Doxologie, einem „Lob“ Gottes dafür, dass es Gott „gibt“. Solche paradoxe Doxologie entschuldigt nichts, sondern nimmt Gott als Gott ernst: verantwortlich für alles, unergründlich und unerschöpflich an Leben, Liebe und Freiheit, und deshalb auf diese Erfahrungen hin einklagbar!
Warum soll Gott „einfacher“ sein als diese Welt, die so voll ist von nicht nur vitalitätssteigernden, sondern auch tödlichen Paradoxien? Gott kann nicht unterhalb der unendlichen wunderbaren Weite des Universums, aber auch dessen Kälte und Mitleidlosigkeit „gedacht“ und erlebt werden. Es geht darum, Gott nicht simpler sein zu lassen, als die Komplexität des Lebens und der Welt es ist. In einer solchen Theologie setzt manche herkömmliche Logik aus, muss sie aussetzen, weil sie sonst die Paradoxien, die weder im Leben noch im Denken aufgehen, nicht aufnehmen kann. Bonhoeffer[4] lässt angesichts des „Letzten“ das Unsrige immer „Vorletztes“ sein.
Nein, Corona ist nicht die Krone der Schöpfung, sondern es gibt dagegen eine ebenso einklagbare wie unverfügbare unerschöpfliche Macht, die unsere eigene Verantwortung und Solidarität stärkt und uns auf die Zeitschiene der Hoffnung setzt. Diese Hoffnung (und sollte sie auch nur eine Fiktion sein, denn das Nichtmehrglaubenkönnen lauert auf der anderen Seite solcher Hoffnung, aber auch das muss Gott angesichts dieser Schöpfung riskieren) bringt ein „verrücktes“ Gotteslob[5] zum Ausdruck, das mit einem Seitenblick auf den Ambrosianischen Lobgesang, das „Te Deum“,[6] folgendermaßen ausschauen könnte:[7]
Dich Gott,
erkenne ich an als unendlichen Gott aller Welten.
Nichts Größeres kann ich denken und reden als Dich,
In Deinen hellen und in Deinen unergründlich dunklen Gewändern.
Über alle Maßen Wunderschönes,
Freude, Kreativität, Freiheit und Liebe
Schenkst Du den Menschen.
Maßlos unverständlich und unverzeihlich ist,
Was Du den Menschen an Leid und Schmerz antun lässt und antust.
Durch Krankheit, Katastrophen, Schmerz und Menschengewalt.
Unverständlich bleibst Du uns, die wir mit dem Übel leben müssen.
Führe uns nicht in Versuchung, böse zu sein und Leid anzutun.
Angesicht des Schrecklichen: zerbrich unsere Hoffnung nicht.
Dir halten wir den Irrsinn vor, der in Deiner Schöpfung begegnet.
Du beruhigst nicht mit Entschuldigungen.
Du beantwortest die Warumfrage nicht.
Du entziehst dem Leiden jegliche Begründung.
Sollten wir mit dem Leiden den Abbruch von Dir begründen?
Mit Christus gibst du uns einen Hoffnungsschimmer aus der Zukunft der Welt:In Christus schenkst Du Worte des ewigen Lebens,
der ewigen Gerechtigkeit und der ewigen Liebe.
In Christus erlebst Du Leben, Freude und Leiden der Menschen.
In Christus erfährst Du selbst die Verlassenheit von Dir.
In Christus erfährst Du Deine eigene Abwesenheit.
In Christus schreist Du mit den Schreienden.
In Christus schweigst Du mit denen, die nicht mehr schreien können.
In Christus schreist Du für die, die verstummt sind.
In Deinem Sohn hörst Du die Klagen der Menschheit gegen Dich selbst.
In Deinem Sohn sühnst Du, was Du uns antust.
Im Geist Deines Sohnes bist Du allen zuinnerst nahe.
Im Geist Deines Sohnes erlebst Du unsere Verzweiflung.
So bleibst Du bei uns, wenn wir Dir nicht verzeihen können.
Du bleibst bei uns, wenn wir nicht mehr glauben wollen.
Du siehst und hörst unsere Hilflosigkeit,
Von und zu Dir zu sprechen
Dein Geist vollendet unsere Worte,
Unsere Bitte, unseren Dank, unsere Klage, unser Magnifikat:
Magnifikat:
Dich größer sein lassen als alles:
Mit der Hoffnung, dass alles Elende und Böse in Dir ausgebrannt wird.
Mit der Hoffnung, dass niemand vernichtet wird.
Deine grenzenlose Liebe „umfasst“, ohne sie zu schmälern,
Die schlimmsten Gegensätze.
Du allein wirst die Antwort geben, mit der wir ewig leben können.
Niemals antwortest Du mit Liebesentzug.
Du rettest die abgebrochenen Leben.
Du rettest die Liebe und gibst nichts davon verloren.
Du suchst, findest und rettest die Verdammten.
Du setzt die Bösen und damit auch mich im Gericht
Dem Schock Deiner ungeschützten Liebe aus.
Deine unsägliche Liebe öffnet für Verwundbarkeit und Schmerz.
Ich preise Dich
Für die Menschen, die Deine Gnade im Guten und im Leid erfahren.
Für die bekannten und unbenannten Heiligen.
Für die Menschen, die anderen helfen und aufhelfen.
Für die Verstorbenen, die für unser Leben bedeutsam waren.
Für alle, die im Himmel in Deiner Liebe uns begleiten.
Magnifikat:
Du bist das Geheimnis unseres Lebens.
Indem ich nichts mehr verstehe
Indem ich wütend bin.
Indem ich mich empöre.
Indem ich Dir nicht verzeihen kann.
Und indem ich alles auf Dich werfe.
In Dein Geheimnis lege ich all mein Glauben, Hoffen und Nachdenken.
In Dein Geheimnis lasse ich alles los.
Du allein bist unsere Hoffnung gegen alle Hoffnung.
Du unendlich unwahrscheinlicher und unmöglicher Gott.
Ich preise dich
Dass wir alles vertrauensvoll loslassen
Am Ende in die dunkle Tiefe des Todes,
An dessen tiefsten Abgrund Du bist.
„Lass Dein Erbarmen, Gott, über uns walten,
Wie wir von Dir es erhoffen.
Ja, Gott, Du bist meine Hoffnung!
Nie werd’ ich zuschanden in Ewigkeit!“[8]
Prof. Dr. Ottmar Fuchs ist emeritierter Professor für Pastoraltheologie an der Universität Tübingen.
[1] Vgl. Günter Thomas, Theologie im Schatten der Coronakrise,, Manuskript Stand 18. März 2020.
[2] Vgl. Ottmar Fuchs, „Aber es steht doch in der Bibel!“ – „Na und?“. Aspekte einer negativen Bibelhermeneutik im Horizont von Sexualität und Macht, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Band 33 (2018) Sexualität, Göttingen 2020, 279-298, 280.
[3] Vgl. den Titel, den Jean Anouilh seinem Becket-Stück gegeben hat: Becket oder Die Ehre Gottes, München 1963. Hier geht diese Ehre so weit, dass sie diesseitigen Mächten gegenüber als sinnlos und unvernünftig erscheint vgl. ebd. 113, im 4. Akt, im Gespräch mit dem König; zur „Last“ der Ehre Gottes vgl. ebd. 114 und 131).
[4] Vgl. dazu Werner Kallen, In der Gewissheit seiner Gegenwart. Dietrich Bonhoeffer und die Spur des vermissten Gottes, Mainz 1998, 179ff.
[5] Zu den Dimensionen der Verherrlichung Gottes vgl. Dorothee Steiof, Verherrlichung Gottes . Madeleine Delbrêl und alttestamentliche Texte, Stuttgart 2013.
[6] Im Gotteslob Nr. 706.
[7] Vgl. dazu Ottmar Fuchs, Der zerrissene Gott. Das trinitarische Gottesbild in den Brüchen der Welt, Ostfildern 3/2016, 222-225.
[8] So der Schluss im Te Deum.
Photo: Rainer Bucher