Hans-Joachim Höhn zu dem, was kirchlich in Zeiten von Corona sichtbar wird, das sonst nie zu sehen ist.
Eine totale Sonnenfinsternis ist ein ebenso spektakuläres wie seltenes Himmelsereignis. Nur etwa alle 375 Jahre kann sie hierzulande beobachtet werden. Nur dann ist der Blick zur Sonne ungefährlich. Zwar gibt es ohne ihr Licht auf Erden nichts zu sehen. Aber der direkte Augenkontakt mit ihr ist riskant. Wer in die Sonne schaut, wird geblendet und blind. Erst wenn sich der Mond vor die Sonne schiebt, können wir gefahrlos zu ihr aufschauen – und sehen nichts. Stattdessen wird nun sichtbar, was sonst nie zu sehen ist – die Corona der Sonne. Dieser aus Plasma und heißen Gasen bestehende Lichtkranz besitzt eine beträchtliche Ausdehnung, wird aber immer von der gleißend hellen Sonnenscheibe überstrahlt.
Die Sonnenkorona liefert mir die passende Analogie für einige Assoziationen zur Coronapandemie. Einerseits ist diese Zeit eine Phase der Verdüsterung. Manches liegt im Kernschatten der Krise. Andererseits wird der Blick frei für alles, das sonst überstrahlt wird. Nun ist es möglich, in das bisherige Dunkelfeld der Erkenntnis vorzudringen. Dieser Erkenntnisbereich setzt sich zusammen aus Randerscheinungen. Dazu gehören auch Phänomene, von denen man üblicherweise wenig wissen will – erst recht in einer Viruspandemie.
Im Folgenden geht es um derart „coronare“ Wahrnehmungen und Einsichten. Und ebenso geht es um deren theologische Reflexion. Traditionell hat die Theologie die Kernthemen des Glaubens im Blick und nimmt dabei einen biblischen, historischen, dogmatischen oder pastoralen Standpunkt ein. Von diesen Standorten her entwickelt sie ihre Deutungsperspektiven. Die Coronapandemie hat Glaube und Kirche zum kulturellen Randphänomen gemacht. Wo ihr Gegenstand an den Rand gedrängt wird, muss die Theologie ihrerseits einen Orts- und Perspektivwechsel vornehmen. Auch sie muss randständig werden.
Zu gewinnen ist dabei ein neuer Zugang zu Phänomenen, die zuvor biblisch überbelichtet, historisch übergangen, dogmatisch überstrahlt und deswegen pastoral übersehen wurden. Es handelt sich dabei um das Beiläufige, um vermeintlich Nebensächliches, um periphere Begebenheiten. Einer solchen an Begleiterscheinungen der Coronapandemie ansetzenden Reflexion könnte man den Titel „Corona(r)Theologie“ verleihen.
Ein derart prätentiöser Titel mag Argwohn wecken. Er signalisiert ein theologisches Programm und stellt zugleich nur flüchtige Impressionen und gewagte Assoziationen in Aussicht. Aber vielleicht wird nur ein solcher Stil und Ansatz der aktuellen Glaubenssituation gerecht. Wir befinden uns in einer Phase, in der sich vieles verdunkelt, was zuvor eingeleuchtet hat. Aber nur jetzt wird erkennbar, was um uns herum vorgeht, jedoch bei Lichte betrachtet niemand so recht wissen wollte.
Marginalitätsrelevanz
Viele öffentlichkeitswirksame kirchliche Veranstaltungen sind zu Beginn der Pandemie abgesagt worden oder fanden auf einer staatlich geduldeten Schwundstufe statt. Nur ein kümmerlicher Rest der sonst so prächtig-pompösen Fronleichnamsprozession blieb in Köln übrig. Für Kirchenkritiker/innen war dies ein Lichtblick und wurde als längst fälliger Akt institutioneller Selbstrelativierung begrüßt. Für die Kirchenleitungen war es ein Beleg ihrer Systemrelevanz. Gesellschaftlich relevant war die Kirche durchaus – und zwar bei der systematischen Befolgung der staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen. Hier haben sich die Kirchen als wichtige Verbündete bei der Umsetzung staatlicher Vorkehrungen erwiesen.
Dass sie nicht gleichzeitig die Chance zur Etablierung neuer, coronakompatibler Formate kirchlicher Open-Air-Veranstaltungen (an Ostern – Himmelfahrt – Pfingsten) nutzten, verstärkte jedoch den Trend zur öffentlichen Selbstmarginalisierung. Die stattdessen entwickelten digitalen Kleinformate der Liturgie machten hingegen die Marginalität der Gläubigen als „Volk Gottes“ deutlich.
Die Botschaft war vielleicht ungewollt, aber dennoch unmissverständlich: „Gültige“ Messen gibt es auch ohne die physische Realpräsenz des Gottesvolkes. Hauptsache – sie finden statt und bilden ein Vitalzeichen kirchlichen Lebens. Auf die ansonsten beschworene tätige Teilhabe („participatio actuosa“) der Laien kommt es letztlich doch nicht an. Es genügt eine Beteiligung mit Zuschauerstatus. Allerdings stellten viele Christenmenschen sehr bald – und eher beiläufig – ihrerseits fest: „Es geht auch ohne Messbesuch am Sonntag. Wir brauchen das nicht, wofür uns die Kleriker nicht brauchen. Vielleicht waren wir ja auch zuvor nicht mehr als bloß teilnehmende Beobachter.“
Rückwärtsverteidigung
Corona stimulierte das kirchliche Erinnerungsvermögen. Man erinnerte sich mancherorts an frühere Epidemien und an das, womit man sich damals religiös behalf. Was längst zu einer Randerscheinung des religiösen Lebens geworden ist, stellte man unversehens ins Zentrum: Bittprozessionen und Heiligenlitaneien, Aussetzungen des Allerheiligsten an öffentlichen Orten, Weihwasserbesprengungen von Brücken und Straßen. Mehrere Bistümer wurden dem Herzen Mariens geweiht. Der Rosenkranz wurde zur spirituellen Infektionsprophylaxe empfohlen.
Vielleicht suchte man mit diesen Formen einstiger Volksfrömmigkeit wieder die Nähe des Volkes Gottes. Die Resonanz war gering. Eine Bestätigung der alten Volksweisheit „Not lehrt beten“ blieb zudem aus. Auftrieb erhielten Skeptiker/innen: „Beten ist zwecklos!“ Vermutlich treffen beide Losungen nicht zu. Beten hilft nicht aus der Not, aber vielleicht in der Not – und zwar dann, wenn man nichts mehr machen kann, aber dennoch nicht untätig sein will. Beten wird zur Absage an resignative Tatenlosigkeit und kann dennoch Ohnmachtserfahrungen nicht abstreifen.
Der gut gemeinte Rückgriff auf traditionelle Andachtsformen hat auch religiöse Anachronismen befördert. Er belebte magische Missverständnisse sakramentaler Glaubenspraxis. Eine säkulare Gesellschaft kann darauf nur mit Unverständnis reagieren. Da hilft es auch nichts, wenn man auf parallele Retrotrends im säkularen Bereich hinweist. Das „Autokino“ war dort nur ein nostalgisches Intermezzo für die Unterhaltungs- und Musikbranche. Es bot sich als vorübergehender Rückschritt an, um das Schlimmste zu vermeiden.
Vergleichbar damit ist das von Militärs erprobte Manöver der Rückwärtsverlagerung von Kampflinien. Man gibt einen Geländegewinn wieder preis, um bei einem feindlichen Angriff nicht mehr als nur dieses Gelände zu verlieren. Allerdings kann gerade dieser Rückzug als Einladung zum Angriff gedeutet werden. Auch abseits des Militärs ist ein solch regressives Verhalten nicht unproblematisch. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten warnen: Bei einer Regression wird ein zuvor erreichtes Struktur-, Funktions- und Handlungsniveau zugunsten eines zeitlich früheren und/oder niedrigeren Komplexitätsgrades erfolgreicher Anpassung an veränderte Lebensumstände aufgegeben. Dieser Rückschritt kann kurzfristig Vorteile bringen, liefert aber keine nachhaltigen Problemlösungen.
Digitale Realpräsenz?
Am Rande der Herbstvollversammlung der DBK wurde dem Essener Bischof F.-J. Overbeck auf einer Pressekonferenz eine Frage gestellt, mit der er offensichtlich nicht gerechnet hatte: Wie ist theologisch die bei Gottesdienststreamings entstandene Praxis zu bewerten, dass die am Bildschirm Mitfeiernden nach der Konsekration von Brot und Wein durch einen Priester nun vor dem Bildschirm ihr eigenes Brot brechen und das Wort Jesu „Nehmt und esst! Tut dies zu meinem Gedächtnis“ erfüllen? Feiern sie auch Eucharistie oder sind sie nur Zuschauer/innen einer Eucharistiefeier? Erleben Sie nur virtuell, aber nicht wirklich und wirksam eine Wandlung der eucharistischen Gaben?
Der bischöflichen Antwort war anzumerken, dass das Coronavirus inzwischen auch das dogmatische und kirchenrechtliche Immunsystem der Kirche angreift. Sie erteilte dem Gedanken an eine digitale Fernwirkung und Fernwirksamkeit der Wandlungsworte eine deutliche Absage. Die vom Priester gewirkte Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi in der Messfeier erstrecke sich nur auf das Brot auf dem Altar, nicht aber auf das Brot am heimischen Esstisch.
Gleichwohl ist die angesprochene Problematik kniffliger, als es die bischöfliche Klarstellung vermuten lässt. Im Grenzbereich der Sakramentalien ist das Lehramt sowohl technikaffiner als auch weniger rigoros. Eine digitale Vermittlung des Papstsegens „urbi et orbi“ inklusive Ablasserteilung wird dogmatisch und kirchenrechtlich für unproblematisch gehalten. Begibt man sich hingegen mit dem Gedanken einer digital vermittelten Realpräsenz von Jesu Vermächtnis in ein dogmatisches Dunkelfeld? Wer eine Streaming-Messfeier zu Hause mit einer Symbolhandlung des Brotbrechens begleitet, rüttelt keineswegs an der sakramentalen Vollmacht des Priesters. Vielmehr wird ein ausdrucksstarkes Zeichen gesetzt für den Unterschied zwischen dem Mitfeiern einer Eucharistie und dem Zuschauen beim Feiern – sowie erst recht: dem Zuschauen von zuschauenden Mitfeiernden.
Kann es sein, dass man in weiten Kreisen der Kirche einem „physikalistischen“ Gültigkeitskriterium der eucharistischen Wandlung anhängt und die digitale Sphäre nicht als Erweiterung unserer leiblich-leibhaftigen Begegnungsmöglichkeiten wahrnimmt? Hat man dort immer noch nicht verstanden, dass die eucharistische Wandlung, welche den Wandel im tödlichen Verhältnis von Leben und Tod zugunsten des Lebens vergegenwärtigt, nicht die Objekte verwandelt, die diesen Wandel symbolisieren? In einem Punkt haben die theologischen Digitalskeptiker jedoch recht: Eucharistische Realpräsenz ist nicht vollends digitalisierbar. Sie ist an die „analoge“ Praxis des Handgreiflichen gebunden. Einstweilen aber ist Vorsicht geboten, wenn es darum geht, etwas mit Händen greifen zu wollen. Dies gilt auch für erhoffte Wandlungen und Reformen des kirchlichen Lebens. Hier besteht eine partielle Hirtenimmunität.
Am Rande notiert
Zu den zentralen Erkenntnissen der Viruspandemie gehören Wahrheiten, von denen man sonst nichts wissen will:
- Es gibt schuldloses Schuldigwerden: Der Andere kann mich allein durch seine Nähe ohne sein Wollen und ohne mein Wissen in Gefahr bringen – und umgekehrt.
- Es gibt Nächstenliebe auf Distanz: Fernbeziehungen pflegen Zuwendung mit Mindestabstand. Abstand halten ist Ausdruck von Wertschätzung. Zuneigung braucht Diskretion.
- Es gibt Zwangssolidaritäten. Sie werden nicht gestiftet durch ethische Überzeugungsarbeit, um den Menschen dafür zu interessieren, sich für mehr als nur für sich selbst zu interessieren. Vielmehr sind sie Resultat einer viralen Nötigung, die alle Kreise der Bevölkerung unter einen egalisierenden Handlungsdruck setzt.
Nach dem Ende der Viruspandemie können diese coronaren Einsichten schnell wieder vergessen werden. Ob dann auch Anliegen und Intention einer CoronarTheologie erledigt sind, darf noch offen bleiben. Einer Theologie, die auf Randerscheinungen blickt, wird so rasch der Stoff nicht ausgehen.
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Hans-Joachim Höhn ist Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Universität zu Köln.
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