Krisen sind außergewöhnliche Zeiten, weil sie Schlaglichter auf Zusammenhänge werfen, die Vergessenes, Verdrängtes und Verschämtes offenbaren. Die Corona-Krise offenbart eine Pastoralmacht, die der Staat hat und derzeit auch stark beansprucht, die allerdings auch die Kirche beansprucht, aber gerade derzeit nicht hat.
Es spielt sich auf offener Bühne ab und hat etwas Atemberaubendes jenseits von Covid-19. Es handelt sich um die Macht einer Fürsorge, die mit Disziplinierungen einhergeht, welche sich schließlich durch Selbstdisziplinierungen vollenden.
Für den Gebrauch dieser Macht gilt, zugleich alle im Blick zu haben wie jede einzelne Person und das so zu tun, dass das Wohl sowohl des individuellen Subjektes wie der kollektiven Gemeinschaft verfolgt wird. Es verbietet sich für diese Macht, bloß auf das Glück der größtmöglichen Zahl hin zu agieren, für das dann Opfer unter weniger Glücklichen in Kauf genommen werden – also jene Strategie, die ursprünglich die Regierung von Boris Johnson wie auch die Fußball-Bundesliga verfolgt hatten, als sie auf das möglichst schnelle Herstellen von Herdenimmunität setzten und deshalb die Leute weiter in Massenevents lockten. Bei der Pastoralmacht verbietet sich dieses Kalkül, vielmehr muss sie den Gegensatz zwischen dem Wohl aller und dem Wohlergehen jedes Einzelnen strikt vermeiden.
Pastoralmacht
Erfunden hat diese Macht die Kirche nach dem Ende der Antike, so die Analyse von Michel Foucault, der Pastoralmacht als erster ausführlich analysierte. Von der Macht der Pastoren über die ihnen anvertraute Herde der Gläubigen hat sie sich auf die sog. Gouvernementalität der gegenwärtigen Staaten, insbesondere der Sozialstaaten, erweitert. Wir erleben einerseits auf offener säkularer Bühne eine Pastoralmacht gerade auch des demokratischen Staates, deren Stärke wir so bisher kaum gekannt hatten. Die soziale Distanz wird den Bewohnerinnen und Bewohner der europäischen Staaten verordnet, weil das zum Wohl aller wie aller Einzelnen ist. „Niemand ist verzichtbar, alle zählen“, hat Angela Merkel das in ihrer Ansprache im Fernsehen genannt. Wenn die so erbetene Selbstdisziplinierung nicht genügend greift, werden Ausgangssperren eingerichtet und durchgesetzt.
Auffällig ist, dass das zunächst in kulturell stark vom Katholizismus geprägten Staaten geschah – Italien, Österreich, Spanien, Belgien und innerhalb der Bundesrepublik eben Bayern und Saarland. Es sei dahin gestellt, ob hier mehr der katholische Hang zum Autoritären durchschlägt oder die Behörden die allseits bekannte Chuzpe des Katholischen in Rechnung stellen mussten, katholisch-kirchlichen Moral- und Ordnungsansagen zunächst einmal immer mit Schlupflöchern zu entgehen.
Jedenfalls erlauben die Staaten sich und anderen keinen Gegensatz zwischen dem Allgemeinwohl und den Spezialinteressen der Einzelnen, weil das letzte mit dem ersten identifiziert werden kann. Es gehe schließlich um Leben und Tod, wie der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen betont. Wer mit Sinn und Verstand will dieser Pastoralmacht Widerstand leisten? Wer sich selbst disziplinieren kann, wird das nicht tun. Und wer es trotzdem versucht, wird öffentlich zur individualisierten Selbstdisziplinierung in diesen Zeiten mit Kontaktverboten diszipliniert werden. Das ist Pastoralmacht pur.
In der katholischen Kirche dagegen lässt sich trotz aller offiziellen Zustimmung der Diözesen zu den einschneidenden Maßnahmen ein Hang beobachten, Sonderinteressen nachzugehen, auch wenn sie eher noch verschämt auftreten. So brüstete sich noch vor kurzem ein deutscher Bischof, er würde an Ostern dem Begehren nach Mundkommunion natürlich entsprechen. Da kann man als normaler Katholik der Regierung nur für ihre Gottesdienstverbote dankbar sein; es erspart das prekäre Erstarren, wenn beim Kommuniongang kurz vor einem selbst feucht-fröhliche Mundkommunion zelebriert wird.
Sonderinteressen auf Kosten des Gemeinwohls
Ähnliche Sonderinteressen auf Kosten des allgemeinen Wohls bedienen ein Ex-Jugendbischof, wenn er von Corona als Strafe Gottes für mangelnden Glauben schwadroniert, ein Ex-Befreiungstheologe, wenn er den Virus als Vergeltungsmaßnahme von Mutter Erde prophezeit, ein (hoffentlich bald Ex-) Papstassistent, der Priester, die zu Menschen in Quarantäne die gebotene Distanz wahren, als Tagelöhner und Verräter an der Glaubwürdigkeit der Hirten beschimpft. Und ich bin gespannt, ab wann wir die ersten Berichte von verschämten Winkelmessen oder heimlichen Weihehandlungen lesen müssen, und das dann von den Protagonisten als Recht auf Religionsfreiheit reklamiert bekommen. Ausschließen würde ich das nicht, auch wenn die deutschen und österreichischen Bischöfe klar anderes anordnen und verkündigen.
Es fällt katholisch geprägten Menschen offenbar nicht so leicht, sich in die allgemeine säkulare Pastoralmacht ohne größeres Murren einzureihen und vom Schielen auf ihre Sonderinteressen abzulassen. Wo kommt dieser Hang eigentlich her? Meines Erachtens von einer kirchlichen Pastoralmacht, die sich zwar schon aufgelöst hat, ohne dass man es sich eingesteht. Schließlich wurde man als gläubiger Katholik sehr lange dazu angehalten, den eigenen Glauben, die eigene Kirche, die eigenen Priester immer als Teil der Lösung anzusehen.
Jetzt offenbart sich, sie sind ein Teil des Problems und jetzt muss alles abgestellt werden, was dem Vorschub leistet. In den Missbrauchsskandalen war zwar auch schon klar, dass übergriffige Priester, vertuschende Kirche und sich selbst erhebender Glaube das Problem sind. Aber das betraf offenkundige Verbrechen, von denen sich die Nicht-Verstrickten distanzieren können. Jetzt aber betrifft es vieles von dem, was Glaube, Kirche, Priester üblicherweise so tun, wenn sie praktizieren, und woran sich Gläubige normalerweise selbstverständlich beteiligen.
Die staatliche Pastoralmacht wird Geschmack an sich selber finden.
Man hielt die eigene Sonderwelt für das, was das Allgemeinwohl benötigt, um sich zu entwickeln. Das war der katholische Modus von Pastoralmacht. Kein Allgemeinwohl konnte daher das Katholische relativieren, weil das in ihm schließlich geborgen wird. Dem ist aber nun nicht mehr so und dieser Relativierung muss man auch als gläubiger Katholik ins Auge sehen. Sie wird nicht aufhören mit einer Pandemie und sie wird nicht mit einem Rückbau staatlicher Pastoralmacht vergehen, die dann reumütig wieder Gottesdienste als öffentliche Daseinsvorsorge empfehlen würde. Das wird sie nicht; sie wird genug Geschmack an sich selbst gefunden haben, wenn das alles vorüber sein wird. Daher wird sich viel eher die Erfahrung auf relativ breiter Front einstellen, dass für einen selbst das, was üblicherweise in der Kirche geschieht, so notwendig dann doch nicht ist, dass es über Sonderinteressen hinausgeht.
Die Reduktion der Komplexität des Lebens wird nicht mehr genügen.
Das, was der katholischen Kirche bevorsteht, ist die Entdeckung eines für sie noch weitgehend unbekannten Kontinents; ihr werden Lernschritte zugemutet, welche mit der Reduzierung der Komplexität des Lebens, mit der sie lange über die Runden kommen wollte, nicht mehr zu bewältigen sind. Es handelt sich um den unableitbaren und daher meistens überaus überraschenden Lebensraum des individuellen Menschen, der nicht einfach so mit anderen geteilt werden kann oder muss und der sich nicht ohne große Komplexität in ein größeres Ganzes einstellen lässt. Das Wohl des jeweils ganz anderen einzelnen Menschen ist kein Gegensatz zum dem, was allen gut tut. Aber es ist komplex, diesen Gegensatz zu überwinden. Das kann nicht mit Sonderinteressen gekapert, mit Allgemeinempfehlung ruhig gestellt oder mit Gemeinschaftsidealen eingeordnet werden.
Gleichwohl kann dieser Lebensraum respektiert werden, wenn man bereit ist, sich den Gegensatz zu versagen. Die säkulare Pastoralmacht macht gerade vor, wie es geht – „niemand ist verzichtbar, alle zählen“.
Hans-Joachim Sander ist Professor für Dogmatik an der Universität Salzburg.
Bild: Rainer Bucher (Konstantinsbasilika, Trier)