Wer Erik Flügges Bestseller „Der Jargon der Betroffenheit“ einer genaueren Lektüre unterzieht, mag ähnlich wie Arnd Bünker feststellen, dass zwar die Phänomenbeschreibungen des Autors zutreffen, die Analyse des fundamentalen Sprachproblems der Kirche aber vordergründig bleibt. Aus der Perspektive journalistischer Ausbildungsarbeit mit Theologinnen und Theologen fügt Ludger Verst zum Relevanzproblem kirchlicher Verkündigung eigene Beobachtungen hinzu.
Religiöser Glaube lässt sich nicht so präsentieren, wie man etwa den Sachverhalt eines Gesetzestextes darstellen und erläutern könnte. Die Wahrheit, um die es im Glauben geht, ist nicht objektiv ein für alle Mal dieselbe, sondern je neu im persönlichen Standpunkt und im Handeln zu bezeugen. Bezeugen ist ein juristischer und auch ein theologischer Begriff. In ihm steckt per se ein Öffentlichkeitsbezug.
Mehr als ein Sachverhalt: Zeugnis
Ein Glaubenszeugnis braucht Inhalte, Gefühle, Gesten, die gezeigt und erwidert werden. Insofern ist es mehr als Information; es bedarf der Kommunikation. Ich kommuniziere das Evangelium Jesu, indem ich den gegebenen ‚Text‘ der Bibel in meinem Leben neu inszeniere, ihn neu kon-textualisiere und so zur Geltung bringe. Mein Zeugnis ist also die Re-Präsentation eines größeren Traditionsgeschehens: Ich zeige jemandem etwas, und ich kann das nur tun, indem ich im Zeigen einer Anschauung mich selbst zeige. Das gilt erst recht bei Dingen, die das Leben als Ganzes betreffen: „Wer eine Sicht des Lebens zeigen will, muss Gesicht zeigen.“ (M. Meyer-Blanck)
Wer kommuniziert, gehört mit in den Vermittlungsprozess und ist nicht nur geschickter medialer Arrangeur oder neutrale Informationslieferantin, nicht nur Elementarisierer, Moderatorin, Fachmann, sondern über dies hinaus auch selbst religiöses Zeichen, ohne das es gar keine Botschaft geben könnte. Was eine Information in den Rang einer Botschaft hebt, ist ihre Inhalts- und Begegnungsqualität: Ein bewegender Eindruck sucht seinen entsprechenden Ausdruck. Ich zeige dir etwas; du musst es nicht toll finden. Aber ich zeige dir etwas, wozu ich selbst eine lebendige Beziehung habe. Botschaften werden von der Rezipientin, dem Rezipienten in ihrer je eigenen Relevanz (+) oder Nicht-Relevanz (-) erspürt, angenommen oder abgelehnt. Der Sinn einer Botschaft liegt nicht in oder hinter den Worten eines Textes; er vollzieht sich im Empfänger und in der Empfängerin.
„Außerhalb der 1. Person Singular gibt es keine Wahrheit des Evangeliums.“ (Joachim Wanke)
Vom früheren Erfurter Bischof Joachim Wanke stammt die hellsichtige Feststellung: „Außerhalb der 1. Person Singular gibt es keine Wahrheit des Evangeliums.“ Was sich so einfach anhört, fällt eben vor allem Kirchenleuten schwer. Dafür liefert Erik Flügges Buch überzeugende Beispiele. Viele mühen sich ab in verschnörkelten, salbungsvollen Sätzen, um ihren Aussagen über Gott und die Welt Bedeutsamkeit zu verleihen. Das wirkt oft künstlich und steril wie „pastorale Fertigrede“ (Paul Konrad Kurz) und kommt über den Status bloßer Verlautbarung nicht hinaus. Da lebt nichts. Da wird nichts riskiert.
Zu den frustrierenden Dauererlebnissen in 25 Jahren kirchlicher Medientrainings gehören Situationen, in denen kleine Alltagssituationen mit christlichem Kommentarwert in umständliche Langweiler-Geschichten verwandelt werden, sobald man sie vor Mikrofon und Publikum erzählt, wie das banale Beispiel „Feste feiern“ aus einem Radioseminar zeigt. Die Versionen A und B machen die Verfallsentwicklung einer ursprünglich lebendigen Idee deutlich.
Ein Pfarrer erzählt …
Ein Pfarrer erzählt in der Seminargruppe, was ihm am Vortag passiert sei und worüber er später gern sprechen wolle: „Meine ostdeutschen Freunde“, sagt er, „können einfach nicht verstehen, dass ich ausgerechnet zum Karneval nach Köln fahren will. Ich musste ihnen gestern lang und breit erklären, warum ich in meiner alten Heimat ein paar Tage ausgelassen feiern will. Ich finde Anlässe, bei denen man seine Sorgen mal beiseiteschieben und feiern kann, ganz wichtig. Da lebe ich richtig auf wie in der Kirche an Heiligenfesten und Gedenktagen, Ostern und Weihnachten. Die Feste zu feiern, wie sie fallen, tut gut. Natürlich gibt’s auch Zeiten, die anders sind, stiller und auch trauriger. Aber das spielt ja jetzt keine Rolle. – ‚Alles hat seine Zeit.‘ Und heute geh ich feiern.“
… und spricht dann im Studio.
Eine Stunde später im Studio: Derselbe Pfarrer trägt dasselbe Anliegen vor – in einer pastoral gezügelten, für ein Privatradio-Publikum unattraktiv gewordenen Fassung: „Kann man auf Knopfdruck lustig sein? Das hört sich irgendwie unanständig an, als müsste man sich dafür schämen. Meine ostdeutschen Freunde zum Beispiel können nicht verstehen, dass ich zum Karneval nach Köln fahren will; für mich ein Anlass, mal richtig zu feiern. – Jeder von uns kennt Anlässe, an denen er seine Sorgen mal beiseiteschiebt und feiert. In einem Kölner Karnevalslied heißt es, etwas Spaß und Freude haben noch keinem Menschen geschadet. Die Kirche hat das schon früh erkannt. Das ganze Jahr ist ein Festkreis: Heiligenfeste und Gedenktage, Ostern und Weihnachten. Feste ermöglichen uns in unsere Mitte zu kommen, zu unserem Wesen, zum Kern. Natürlich gibt es auch Zeiten, sich zu besinnen und still zu werden vor Gott. Aber daran brauchen wir jetzt noch nicht zu denken. ‚Alles hat seine Zeit‘, heißt es in der Bibel – und heute wollen wir feiern.“
Eine moralinsauere Rechtfertigungsgeschichte
Was ist passiert? Aus einer schlichten Aktualität, versehen mit einem weisheitlichen Aspekt („Alles hat seine Zeit“), wird eine moralinsauere Rechtfertigungsgeschichte: Kann man auf Knopfdruck lustig sein? Diese Frage stellt sich bei genauerem Hinsehen überhaupt nicht. Und sie wird durch das vorgetragene Karnevalsbeispiel auch gar nicht beantwortet. Viele Hörerinnen und Hörer werden hier bereits aussteigen. Die Dürftigkeit der eigenen Argumentation wird durch das altbekannte Versatzstück „Jeder von uns kennt …“ zu überspielen versucht. Auch die Bezugnahme auf ein Kölner Karnevalslied schafft keine zusätzliche Plausibilität, denn Spaß und Freude könnten nur auf frische und originelle Weise persönlich zum Ausdruck gebracht werden. Der eigenen Erfahrung wird im Grunde nichts zugetraut. So soll mit dem Hinweis auf den „Festkreis“ die Kirche selbst für Autorität in der Sache sorgen. Unter einem Festkreis stellen sich 90% der BundesbürgerInnen aber eher eine fröhliche Runde mit Bierausschank denn eine lebendige Tradition mit Festen und Gedenktagen vor. Hier fehlen das anschauliche Erlebnis und die persönliche Beziehung dazu. Der Fortgang der Rede entwickelt sich mehr und mehr zu einem binnenkirchlichen Diskurs, in dem mit vereinnahmendem „Wir“ und „Uns“ zum Kern der Sache vorgedrungen werden soll. Wörter wie „Wesen“, „sich besinnen“ und „Gott“ müssen zumindest einmal vorkommen, um einen Sendeplatz erfolgreich kirchlich markiert zu haben. Und als ob dies noch nicht reichte, wird noch ein Bibelzitat oben draufgesetzt: „Alles hat seine Zeit.“ Ob „wir“ danach wirklich noch feiern wollen…?
Kommunikations-Highlights dieser Art prägen das Bild, das man von „Kirche“ hat: verschroben, langweilig, Wortdurchfall. Hinzu kommt: Der geheime Anspruch kirchlicher BotschafterInnen, immer noch allen gleichermaßen ein geistliches Zuhause bieten zu wollen, greift unübersehbar ins Leere. Das Publikum verweigert sich frommen Monologen – vor allem am frühen Morgen im Radio. Das Gros der Hörer und Hörerinnen nutzt das Medium zum „mood management“; es will in Stimmung kommen und nebenbei wissen, was Sache ist.
Was Relevanz besitzt, weiß man in jeder Redaktion, warum nicht auch ein Theologe oder eine Theologin?
Das Kommunikationsprofil kirchlicher Botschaften muss auf den Prüfstand gestellt werden mit dem Ziel, Themen im Blick auf ihr jeweiliges Publikum an gängigen Relevanzfaktoren zu messen. Was Relevanz besitzt, weiß man in jeder Redaktion, warum nicht auch ein Theologe oder eine Theologin: Aktualität und Nähe, öffentliche Bedeutung, human interest, Originalität, Konflikt, Liebe, Fortschritt, um die wichtigsten zu nennen. Auch das Karnevalsthema unseres Beispielpfarrers könnte hier punkten. Es besitzt Wochenaktualität. Karnevalsumzüge finden vor großem Publikum statt; die Nachrichten liefern aktuelle Bilder. Und wenn der Sprecher das Verlockende, das Einmalige seines Umzugs und seines Feierns anschaulich machen würde, dann könnten sich viele eingeladen und mitgenommen fühlen. Mindestens drei publizistische Werte wären also berücksichtigt: Aktualität, öffentliche Bedeutung, Originalität, mit denen eine solche Geschichte ansprechend erzählt werden könnte. Ansprechend heißt nicht angepasst, schon gar nicht an den Massengeschmack. Häufig aber sind Verkündigungsbeiträge nicht mal kirchenaktuell und auch sonst ohne erkennbaren öffentlichen Bezug. Dann fallen sie beim Publikum durch, bevor der erste Satz gesprochen ist. Sie haben keine ausreichende Relevanz, um eine für die Öffentlichkeit bedeutsame Geschichte zu erzählen. „Gott“ an und für sich ist nämlich noch kein Thema. Er wird es erst, wenn er erzählerisch in eine relevante Geschichte verwickelt wird, ob in Medien, Kirche oder Katechese.
Jesus erzählte keine Stories aus einer Sonderwelt.
Vielen Kirchenleuten klingt dies offenbar zu simpel, sodass sie oftmals einwenden: „Das geht so nicht. Ich muss doch etwas eindeutig Religiöses sagen. Etwas mit christlichem Mehrwert.“ Ich sage dann: Ein entscheidender Mehrwert des Christlichen liegt in der Geste, im Ton, in der Art, wie du etwas sagst, ob deine Redeweise auch einzulösen vermag, was du sagst. Es gibt keinen christlichen Mehrwert bestimmter Worte. Bedeutet Glauben so viel wie Vertrauen, dann ist er uns so unentbehrlich wie die Luft zum Atmen. Es gibt keine geistige Welt, die der materiellen hinzuzufügen wäre. Es gibt wohl eine zum Beispiel von der Zeichensprache der Informatik grundverschiedene Art, in dieser Welt zu sprechen, aber es gibt keine christliche Welt, auch keine christliche Sprachwelt, die eine andere ergänzen oder verbessern würde. Es gibt keine andere, zweite oder dritte oder vierte Welt, sondern verschiedene Weisen, in der vorhandenen einen Welt zu leben, und auch verschiedene Weisen, sie zu erkennen und einander zu begegnen. Jesus benutzte Bilder aus der bäuerlichen Alltagswelt; er erzählte Beispielgeschichten und Gleichnisse – zum Beispiel vom langsamen Wachsen und Gedeihen, um von der Kraft Gottes zu sprechen, die in den Menschen wohnt. Es waren keine Stories aus einer Sonderwelt. Im Prinzip erzählen sie von nichts anderem als von dem Weg, den jemand geht. Und von solchen Weg-Geschichten kann es nicht genug geben.
Sprachsklerose
Das Relevanzproblem kirchlicher Verkündigung greift aber noch tiefer. Mit der gelegentlichen Bereitschaft, die verkrustete Dogmensprache gegen eine menschenfreundlichere Alltagssprache einzutauschen, ist es längst nicht getan. Hubertus Halbfas vermutet hinter dieser Art „Sprachsklerose” eine religiöse und kulturelle Erschöpfung größeren Ausmaßes: „Es sieht so aus”, sagt er, „als sei die Zeit der griechisch inkulturierten Kirche abgelaufen. Damit ist jene Kirche gemeint, die sich bereits in der ersten Generation ihres Bestehens, noch bevor sie gegenüber ihrem jüdischen Herkunftsbereich eigene Identität entwickeln konnte, in hellenistische Denkmuster übersetzte. Gerade die mit griechischen Denk- und Vorstellungsmitteln geschaffene Glaubenswelt erfährt jenen Sprach- und Verständigungszerfall, der die kirchliche Rede ins Leere gehen lässt.“
Inzwischen befinden sich alle grundlegenden und zentralen Begriffe des christlichen Glaubens außerhalb des regulären Verständigungsrahmens unserer Zeit. Das Apostolische Glaubensbekenntnis bildet heute Satz für Satz, Begriff für Begriff für jeden Menschen eine Sondersprache.
Kirchliche Verkündigung jenseits ihres Verfallsdatums
Was die mit spätantiken griechischen Denkmitteln erarbeiteten christologischen Titel oder begriffliche Unterscheidungen wie Wesen, Natur und Person einmal meinten, oder was begriffliche Kennmarken wie „Opfer“, „Erlösung“, „Auferstehung“, „Himmelfahrt“, „Jüngster Tag“ etc. besagen, ist im traditionellen Vokabular nicht mehr zu vermitteln. Das Verfallsdatum solcher Glaubensbegriffe ist längst überschritten. Es wundert darum nicht, dass die Fragen und Zweifel, die sich heute melden, innerhalb kirchlicher Lebensordnungen so gut wie keinen Resonanzraum mehr haben. Sie finden innerhalb der Kirchenöffentlichkeit keine mehr wirklich offene, allenfalls eine apologetische Bearbeitung. „Dieses fundamentale Relevanzproblem der Kirchen“, „ihre Unfähigkeit, das Evangelium so zu kommunizieren, dass seine lebensnotwendige Bedeutung verstehbar und erfahrbar wird, lässt sich nicht allein sprachlich und mit Kommunikationsoptimierung lösen“ bringt Arnd Bünker die Problemlage auf den Punkt. Ebenso scheint es in der Tat verfehlt, „die Predigerinnen und Prediger an den Pranger zu stellen“, weil sie viel „zu sehr eingewoben und eingeschworen [seien] in eine kirchliche Kommunikationstradition, aus der auszubrechen das Risiko des Ausschlusses aus der Kommunikationsgemeinschaft birgt“.
Das Programm Jesu will gelebt werden.
Das Programm Jesu hingegen, das nicht nur, aber am anschaulichsten in seinen Reich-Gottes-Gleichnissen zum Vorschein kommt, muss niemand philosophisch oder dogmatisch eingetrichtert bekommen, um es dann rechtmäßig zu glauben; es hat seine unmittelbare Evidenz in sich selbst. Es will nicht einfach nur geglaubt, sondern gelebt und getan werden. Daran dürfte sich vor allem zeigen, dass es kein Programm ist, das sich für Dogmatiken und Konfessionsbildungen eignet, sondern Menschen jeder Herkunft und Denkweise zu verbinden versucht.
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Ludger Verst ist Inhaber von INTERFAITH – Labor für soziale Kommunikation – in Dreieich/Frankfurt. Nach 25 Jahren in der Medienarbeit der katholischen Kirche, von 2000 bis 2013 auch als Ausbildungsleiter an der Journalistenschule ifp in München, ist Verst freier Publizist und Lehrer sowie Schul- und Krisenseelsorger im Bistum Mainz.