Die Studie von Jakob Crottogini (1919-2012) über «Werden und Krise des Priesterberufes» lag 1955 gedruckt vor – in den Handel gelangte sie nie. Eine von Jessica Scheiper (Bonn) aufgearbeitete Zensur durch den Vatikan zielte auf Crottoginis Erkenntnisse zur psychosexuellen Entwicklung von Priesteramtskandidaten. Stephan Schmid-Keiser hat ihn persönlich gekannt.
Den exemplarischen «Fall Crottogini» hat Jessica Scheiper mit ihrer kirchenrechtlich und zensurgeschichtlich bedeutsamen Dissertation untersucht und jüngst in der Münchner Theologische Zeitschrift einen gerafften Einblick dazu veröffentlicht.[1] Ich bin Jakob Crottogini in seiner Zeit als Generalvikar der Missionsgesellschaft Bethlehem (SMB) begegnet und als Leser nun erneut davon berührt, wie seine Forschungsarbeit seitens des Hl. Offiziums disqualifiziert und die «Veröffentlichung des Materials als Gefahr» (MThZ 119) taxiert wurde. Wenn Scheiper den Zensurfall Crottogini als einen der letzten vor dem Verschwinden des Index für verbotene Bücher schonungslos rekonstruiert, reflektiert sie gleichzeitig das seit den Tagen des Tridentinums geltende Konzept der Priesterausbildung. Man habe dabei das Ziel einer Seminarerziehung nicht präzisiert, «indem es etwa positiv ein detailliertes geistlich-aszetisches Leitbild des Priesters vorgegeben» (ebd.) hätte, sondern sich lediglich gegen die protestantische Lehre abgegrenzt.
Weitere ernüchternde Erkenntnisse
Mit den kirchenrechtlichen Bestimmungen für das Pflichtseminar durch den CIC/1917 wurde die Erziehung der Seminaristen vereinheitlicht. Die Aufnahme in den Klerikerstand dokumentierte die Tonsur und die Klerikerkleidung. Ein Kulturwandel ereignete sich, wie auch ich beim Seminareintritt im Herbst 1969 erleben konnte, durch die Entbindung von der Pflicht, die Soutane zu tragen. Crottogini hatte unterdessen weitere Erhebungen unter Hunderten von Jugendlichen vorgenommen. Sein Interesse war auf den allgemeinen Wandel der Lebenswelt der Befragten gerichtet.[2] Zudem ergänzte eine Wiener Untersuchung zum Priesterbild und zu Berufswahlmotiven von Mittelschülern aus dem Jahre 1963 sein Forschen. Darin sahen junge Menschen den als Kultträger, Sakramentenspender, Verwalter der Kirche auftretenden Priester «aus der Alltagsrealität entrückt» (ebd., 88). Nur «der menschlich Angeschlagene oder geistig zu wenig Selbständige» (89) bedürfe des priesterlichen Seelsorgers. Wer Priester werden wolle, müsse «auf alles verzichten, um des ‘Ganz Anderen’ teilhaft zu werden» (90).
Sexuell-erotische Schwierigkeiten
Das über «erotisch-sexuelle Schwierigkeiten» erhabene Verständnis des Priesters umschrieb Crottogini als «’angelisches’ Priesterbild» (91) und fand bestätigt, was er unter einem Viertel der von ihm für seine Dissertation in den frühen 1950ern befragten 437 Maturanden, die sich mit der Möglichkeit des Priester- oder Ordensberufes befasst hatten, erforscht hatte. Sie gaben an, «vor allem durch ihre … sexuell-erotischen Schwierigkeiten während der Pubertäts- oder Nachpubertätszeit endgültig von diesem Berufsziel abgebracht» (ebd.) worden zu sein. Trotz ernüchternder Erkenntnisse setzte sich der Priester Crottogini ein für ein «bibel-theologisch richtig fundiertes Priesterbild» (99) und verortete dieses inmitten der Gemeinde, wo «wir die Verwirklichung des Christlichen zu repräsentieren (haben), nicht in Absonderlichkeiten einer weltfremden Religiosität, sondern im alltäglichen priesterlichen Dienst an der Gemeinde» (ebd.).
Missverstandenes Anliegen
Zu Beginn der 1950er begann Crottogini mit seinen Befragungen in Seminaren und untersuchte die verschiedenen Faktoren der Wahl des Priesterberufes näher. Er merkte an, die Befragten «hätten sich aufgrund ihrer sexuellen Verfehlungen nicht mehr würdig und fähig gefühlt, einst dem hohen und reinen Priesterideal gerecht zu werden», und dass «viele der Jugendlichen einfach die Tatsache (übersähen), ‘dass die vom Priesterberufsideal geforderte sichere Beherrschung des Sexualtriebes im Normalfall erst der Preis für ein langes, hartes, oft von Niederlagen gezeichnetes Ringen und Kämpfen darstellt’» (MThZ 128). Crottogini empfahl dagegen, «zu einer positiven, verstehenden Behandlung der Probleme vorzustossen, wie sie uns vor allem von der Tiefenpsychologie nahegelegt wird» (zit. ebd.).
Zusammen mit dem Benziger-Verlag lag ihm daran, die Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Der Churer Bischof Christian Caminada gab zunächst seine Druckerlaubnis, ohne das Buch selbst gelesen zu haben. Bald standen 4000 Exemplare bereit. Schliesslich sah sich der Verlag mit dem Bestreben des Kölner Kardinals Frings konfrontiert, die Veröffentlichung zu verhindern. Scheiper konnte nun nachweisen, dass das Hl. Offizium vor der Drucklegung der Arbeit bereits seine Untersuchungen begonnen hatte. Inwieweit das Anliegen überhaupt verstanden werden konnte und ob westdeutsche Bischöfe den Autor denunziert hatten, muss offen bleiben.
Besprechung in der Herder Korrespondenz
Weil dann aber eine Besprechung der Dissertation in der Herder Korrespondenz erschien, muss man mit Scheiper annehmen, dass unter der Leserschaft der renommierten Zeitschrift «Crottoginis Ansatz, Durchführung und die geplante Veröffentlichung als unhaltbar betrachtet» wurden (133). Die Überarbeitung einiger Seiten begutachteten der Moraltheologe Franz Böckle und Regens Josef Scheuber, was dann aber Bischof Caminada nicht davon abhielt, ein neues Imprimatur zu verweigern. Die minutiöse Aufarbeitung durch Jessica Scheiper zeigt, wie die Verhandlungen ins Leere liefen und man von «spurloser Unterdrückung» (134ff.) sprechen müsse.
Eine zu Kritik unfähige Kirchenbehörde
Das rigorose Verbot der Veröffentlichung liess dem Verlag und dem Autor kaum mehr Spielraum. Eine Verwarnung traf den Betreuer der Arbeit, Eduard Montalta als Professor für Heilpädagogik in Freiburg/CH. Für Crottogini war der Entscheid eine «bittere Pille». Am schmerzlichsten berührte ihn diese «geistige, kleingläubige Haltung, die auch über die menschlichen Grenzen der gegenwärtigen kirchlichen Instanzen und Einrichtungen nicht die leiseste Diskussion oder Kritik zulassen will» (140). Wie sich dann auch der Basler Bischof Franziskus Streng dafür einsetzte, die Forschung doch noch an Pädagogen und Priestererzieher abgeben zu dürfen – darin nämlich «kein Schweizer Bischof eine Gefahr, sondern einen Nutzen» sehe, wurde ein letztes Mal im April 1957 das Buchverbot bekräftigt (141). Allem Widerstand zum Trotz wurde die unterdrückte Publikation nach zahlreichen Bestellungen beim Autor und Verlag bis Ende 1964 mit gut 870 Exemplaren vertrieben.
Leugnung klerikaler Sexualität
Man wird mit Jessica Scheiper einig gehen, dass die Kirche einen Nutzen aus solchen Studien hätte ziehen können, anstatt sie zu bekämpfen (143). Bis in unsere Tage muss davon ausgegangen werden, dass die mit der Zölibatsverpflichtung einhergehenden Schwierigkeiten im psychosexuellen Entwicklungsprozess adoleszenter Männer zu wenig adäquate Begleitung erhalten. Zudem ist nicht von der Hand zu weisen, dass dadurch nach wie vor mit erhöhter Tendenz zu Missbräuchen in seelsorgerischen Beziehungen gerechnet werden muss. Nicht davon zu reden, dass aufgrund seiner Erfahrungen mit der römischen Zensur der Betroffene dazu genötigt wurde, eine Wahl zu treffen. Einer unfähigen Kirchenbehörde gegenüber stand er weiterhin zum christlichen Glauben.
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Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser (*1949) ist Liturgiewissenschaftler, em. Gemeindeleiter, ehem. Redaktor der SKZ 2016-2017.
Bild: Steve Buissinne auf Pixabay
[1] Jessica Scheiper: Zensur im Dienst des Priesterbildes. Der «Fall Crottogini» (Reihe: „Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft“, Band 42), Würzburg 2019; Dies.: Der «Fall Crottogini» oder: Priesterbild, Sexualität und Zensur, in: MThZ 70 (2019) 118-144 (zit. MThZ).
[2] Vgl. Dr. Jakob Crottogini: Das Priesterbild der heutigen Jugend, psychologisch gesehen, in: Franz Enzler (Hrsg.): Priester – Presbyter. Beiträge zu einem neuen Priesterbild, Luzern/München 1968, 67-101.