Wenn es um strittige Fragen der Gegenwart geht, greifen Gläubige wie Vertretende der Kirchen gelegentlich zum biblischen Text. Und picken sich nicht selten die Rosinen für ihre Argumente raus. Simone Paganini plädiert für ein Ende dieser selektiven Praxis und liest den biblischen Text als Ausdruck einer Suchbewegung.
Fall 1: Die Glaubenskongregation veröffentlicht eine Stellungnahme, nach der die Segnung homosexueller Paare de facto verboten wird. Das Dokument selber führt die Bibel kein einziges Mal als Argumentationsgrundlage an, die Diskussion, die als Folge dieser Erklärung entbrennt, konzentriert sich hingegen sehr wohl auf die (vermeintlichen) biblischen Aussagen zu diesem Thema. Für die einen sei also mit der Bibel kein Segensverbot zu begründen, für die anderen hingegen sehr wohl.
Fall 2: Im Zusammenhang mit der Diskussion um eine mögliche Diakonatsweihe bei Frauen setze der Papst im Oktober 2021 – nachdem ein 2016 ins Leben gerufener Arbeitskreis keine eindeutige Entscheidung treffen konnte – erneut eine Expertenkommission ein. Diese hatte auf Wunsch des Papstes zum Ziel, den biblischen Befund diesbezüglich zu untersuchen. Daraufhin meldeten sich nicht wenige Bibliker:innen mit der Aussage zu Wort, der biblische Befund sei bereits viele Male vorgelegt worden, es habe sich daran nichts geändert, die Position des Neuen Testaments zum Thema sei mehr als eindeutig.
Fall 3: Im letzten Jahr entbrannte in Italien erneut die Diskussion über die Euthanasie. In Form eines offenen Briefes bat ein schwer kranker 43-jähriger Mann, der als Folge eines Verkehrsunfalls seit zehn Jahren bettlägerig war, um ein „Sterben in Würde“. Darauf meldete sich ein bedeutender Kurienkardinal mit der Aussage, dass der Wille Gottes, wie er in der Bibel zu erkennen sei, eine aktive Sterbehilfe nicht zulassen würde.
Es handelt sich hier zweifelsohne um drei ganz unterschiedliche Fälle, die – jeder für sich – eine differenzierte Betrachtung verlangen würden. Ziel dieses Beitrages ist es jedoch nicht, eine „biblische“ Lösung für die drei genannten „Problematiken“ zu finden. Vielmehr geht es darum, sich auf einer Metaebene zu fragen, ob und inwiefern der Zugriff auf biblische Texte sinnvoll ist, wenn man eine bestimmte kirchliche Praxis rechtfertigen oder in Frage stellen möchte.
Die Bibel als Grundlage kirchlicher Praxis?
Eine vielsagende Reaktion auf die Bekanntmachung des im 1. Fall genannten Dokumentes der Glaubenskongregation kam in Form eines Protestvideos des Domprobstes von Worms. Er zitierte in seiner Videobotschaft, zwar etwas entmutigt, aber am Ende mit einem engagierten Plädoyer für die Rechtmäßigkeit eines Segens für homosexuelle Paare, die dem Reformator Martin Luther zugeschriebenen Worte: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“
Dass gerade die Worte Luthers aus dem Mund des Oberpriesters eines katholischen Doms zu hören waren, hat natürlich einen starken symbolischen Charakter: Denn Luther sprach den Satz – wenngleich auf Latein und im genauen Wortlaut ein wenig anders – auch beim Reichstag zu Worms vor dem Kaiser, als er im April 1521 aufgefordert wurde, seine Thesen zu widerrufen. Luther hatte, bevor er den berühmt gewordenen Satz aussprach, zunächst sachlich argumentiert und auf die „Zeugnisse der Schrift“ hingewiesen, denen allein er sich verpflichtet fühlen würde.
Luther fühlte sich allein den „Zeugnisse der Schrift“ verpflichtet.
Der Kaiser, wohl empört über die freche Antwort Luthers, ließ ihn nicht nur seine ganze Macht spüren, sondern auch das Gewicht der gesamten Kirchentradition. „Denn es ist sicher, – brummte er – dass ein einzelner Mönch in seiner Meinung irrt, wenn diese gegen die der ganzen Christenheit, wie sie seit mehr als tausend Jahren gelehrt wird, steht.“
Die völlige Unvereinbarkeit der beiden Positionen zeigte damals, wie stark sich die Reformbewegung schon verselbstständigt hatte. Aber auch heute noch hat die Art und Weise, wie die Bibel gebraucht wird, eine gewaltige Sprengkraft. Denn obwohl sich weder der Kaiser, noch die anwesenden Theologen auf eine Disputation mit Luther einließen, war nicht nur dieser, sondern natürlich auch der Papst der Meinung, die Bibel auf seiner Seite zu haben, und sah seine Interpretation, welche die kirchliche Praxis rechtfertigte, als die einzig richtige an.
Die Interpretation der Bibel im Leben der Kirche
In der Tat hat die Kirche jahrhundertelang gelehrt, dass nur sie allein eine wahre Interpretation der Bibel liefern kann. Dieser Standpunkt wird zudem in der Konstitution über die Bibel, Dei Verbum, vom Zweiten Vatikanischen Konzil bestätigt und verkündet.
Das Wort Gottes verbindlich zu erklären…
Eine zentrale Aussage dieses Schriftstückes (DV 10) ist, dass die Aufgabe, das Wort Gottes verbindlich zu erklären, nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut ist. Dieses Lehramt versteht sich natürlich nicht als eine Entität, die über dem Wort Gottes steht, sondern immer nur als Diener des Wortes. Aber gerade in dieser Auffassung liegen zwei Probleme: Zum einen ist es nicht besonders einleuchtend, inwiefern das Lehramt in der Praxis gleichzeitig autoritativ interpretieren und demütig dienen kann. Zudem wird mit dieser Aussage weiterhin die Meinung gestärkt, dass es die eine einzig gültige Interpretation der Bibel tatsächlich gibt. Auch den späteren Dokumenten der päpstlichen Bibelkommission gelingt es nicht, aus diesem Zirkelschluss auszubrechen, demnach die alleinige legitime Aktualisierung eines biblischen Textes unbedingt im Einklang mit der wahrhaften und korrekten Interpretation des Textes stehen muss, die sich selbstredend auf einer Linie mit der kirchlichen Tradition befindet.
…nicht besonders einleuchtend
Wenn man die drei eingangs beschriebenen Fälle aus dieser Perspektive betrachtet, wird sofort klar, dass der simple Verweis auf die Bibel fehl am Platz ist, wenn eine in der Tradition der Bibelinterpretation begründete kirchliche Praxis angeprangert oder zumindest infrage gestellt wird. Denn was innerhalb der Kirche zählt, ist nicht (wirklich) das, was in der Bibel geschrieben steht, sondern welche Interpretation die biblischen Aussagen im Laufe der Zeit erfahren haben. Letztendlich führt diese Einstellung dazu, dass es eben innerhalb der Kirche in den meisten Fällen eine klare, eindeutige, widerspruchsfreie – ja unfehlbare – biblische Wahrheit gibt.
Von der „Uneindeutigkeit“ biblischer Texte
Es mag vielleicht überraschend klingen, aber ein derartiger Zugang zur Bibel ist nicht biblisch.
Die Heilige Schrift widerspricht sich selbst.
Verschiedene Gebote und Vorschriften des Alten Testamentes widersprechen sich nämlich ziemlich drastisch und andere Aussagen, die zunächst normativ klingen, werden in Erzählungen und Weisheitstexten immer wieder korrigiert. Die Schriften der Propheten sind sogar zum Sinnbild einer Protestbewegung geworden, die vor nichts Halt macht und auch die heiligsten Aspekte der Religion – wie zum Beispiel Torah und Tempel – infrage stellt, korrigiert und umgestaltet.
Ganz wichtig ist es außerdem zu betonen, dass solche Korrekturen die zu korrigierenden Texte nicht einfach ersetzt haben. Bibliker:innen, die den biblischen Text vor allem diachron auslegen, sind sich oft nicht einig in der Definition, welcher Text ursprünglicher war und welcher später kam. Manchmal spricht man gar von einer dialogischen Entstehung der Texte – wie zum Beispiel im Fall des Buches Deuteronomium und des Buches Jeremia.
Man merkt, dass es in der Bibel die eine klare und eindeutige Wahrheit nicht gibt.
Um also das biblische Vorgehen einfach zu beschreiben: man merkt, dass es in der Bibel die eine klare und eindeutige Wahrheit nicht gibt. Gott ändert seine Meinung, und das ist nicht immer einfach zu akzeptieren.
Die Reaktionen auf diese Erkenntnis sind auch in der Bibel selbst – erwartungsgemäß – unterschiedlich. Die beiden Extrempositionen sind im Buch Jona und im Buch Jesaja hervorragend beschrieben. Die literarische Gestalt des Jona zeigt sein Unverständnis, er protestiert enttäuscht und schimpft gegen einen Gott, der seine Meinung ändert und plötzlich nicht mehr zerstörerisch, sondern barmherzig ist (Jona 4,1). Das Jesajabuch hingegen hat kein Problem damit, dass es der gleiche Gott ist, der „das Licht bildet und die Finsternis schafft, der Heil vollbringt und Unheil schafft“ (Jes 45,7).
Mutatis mutandis gilt ähnliches auch für die Texte des Neuen Testamentes. Es handelt sich meist um Gelegenheitsschriften, die zunächst nirgends einen Anspruch auf Konsistenz oder eine allgemeine Gültigkeit erheben.
Die Bibel und die Frage nach der EINEN richtigen Interpretation
Gegensätze bleiben in den biblischen Schriften nebeneinander bestehen, denn alles kommt von Gott. Eine interessante Feststellung, die insbesondere bei Fragen, die schier unlösbar – oder aber absolut klar – scheinen, zu einer deutlichen Entschärfung der Diskussion führen könnte. Man hat bei der Interpretation der Bibel natürlich nicht völlig freie Hand, aber es ist bei einer biblischen Argumentation nicht zulässig, sich nur die „Rosinen herauszupicken“ und sich nur passende Passagen zurechtzulegen – obwohl die Versuchung natürlich groß ist.
Die Bibel zielt auf Befreiung ab.
Die Bibel ist schließlich ein Buch, das immer nur auf die Befreiung des Menschen abzielt und nie ein vorgefertigtes System oder eine fixe Meinung aufzwingen will. Da aber „Befreiung“ unterschiedliche Bedeutungen haben kann, – sowohl die Torah-in-Stein-gemeißelt (Deuteronomium) als auch die Torah-im-Herzen-geschrieben (Jeremia) behalten ihre Gültigkeit –, ist ein naiver Zugriff auf biblische Texte als eindeutige Argumentationsgrundlage für eine konkrete Praxis wenig geeignet.
Natürlich lässt sich an dieser Stelle nicht radikal verlangen, dass die Kirche als Institution ihre eigenen Ansichten völlig revidiert und auf die in der Tradition verwurzelten, heute nicht (mehr) zutreffenden Positionen gänzlich verzichtet. Es wäre dennoch wünschenswert – und auch zeitgemäß –, wenn auch das lebendige Lehramt einen biblischen Umgang mit dem biblischen Text pflegen würde. Dann würde man diskutieren statt gebieten, differenzieren statt dogmatisieren und vor allem unterschiedliche Positionen zulassen, anstatt auf nur einer einzig wahren allgemeingültigen Interpretation zu bestehen. Denn auch die Bibel war nicht plötzlich da: Sie ist im Laufe der Zeit durch Überarbeitung, Anpassung, Umschreibung und Fortschreibung entstanden. Sie verkörpert die Suche nach dem, was möglich und richtig ist – nicht die Darstellung dessen, was immer wahr ist.
Bild: unsplash.com, Brendan Church
Autor: Simone Paganini, 1972 in Italien geboren, ist Professor für Biblische Theologie an der RWTH-University in Aachen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Bücher Jesaja und Deuteronomium sowie der Dead Sea Scrolls/Qumran. Er ist Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Bücher (zuletzt über Fake News in der Bibel und in der Weihnachtsgeschichte). In der Lehre experimentiert er gerne neue Methoden der technikgestützten Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte (Blended Learning, Gamification, Flipped Classroom, Virtual Reality). Er ist Mitbegründer des Zentrums für Human Animal Studies in Aachen. Er ist mit der Medienethikerin Claudia Paganini verheiratet und Vater von drei Kindern.