Nachdem der Architekt Walter Klasz (Universität Innsbruck) neben Häusern, Kapellen und einem Karbonboot auch eine Kirche (siehe Bild) gebaut hat, geht er nun als Forscher selbstbildenden Gestaltfindungsprozessen auf die Spur: Material wird erst durch den Zwischenraum zur Architektur und Gestaltfindung ist vor allem Beziehungsarbeit. Parallelen zu kirchlichen Planungsprozessen sind nicht rein zufälliger Natur…
Perspektivenwechsel
Bekanntlich ist es gut, das gewohnte Umfeld hie und da zu verlassen und eine neue Perspektive für sich und für seine Arbeit zu gewinnen. Als „Researcher in Residence“ konnte ich mich die letzten zwei Monate dank der Unterstützung meiner Frau nach Auckland in Neuseeland zurückziehen, um an der dortigen Architekturfakultät für meine Dissertation zu forschen. Ich arbeitete zunächst für mehrere Wochen in der Bootsbauwerkstatt an meinen Studien. Auf den pazifischen Inseln ist seit Jahrtausenden der Bootsbau weit mehr entwickelt als die Architektur. Das ursprüngliche polynesische Boot ist äußerst nachhaltig und extrem leistungsfähig. Es ist – ähnlich wie die autochthone Bergbauernarchitektur in den Alpen – ausschließlich aus regionalen Pflanzen und Baustoffen gebaut und rein aus der Funktion heraus entwickelt. Das Boot spiegelt einen Großteil des kulturellen Reichtums der dortigen Kultur wider. Die Gestalt bzw. unterschiedliche Variationen haben sich über viele Generationen hinweg entwickelt. Die Gestalt verrät tiefes konstruktives und kulturelles Wissen sowie langjährige Erfahrung eines Lebens in und mit der Natur.Abb. 2: Fotos W. Klasz: Links: Autochthone Architektur in Zermatt; Rechts: Polynesisches Boot (Schifffahrtsmuseum Auckland)
In Zeiten, an denen uns die Schattenseiten der Globalisierung vom Klimawandel bis zur Flüchtlingswelle einholen und viele Gleichgewichtssysteme offensichtlich aus den Fugen geraten sind, ist es naheliegend jene kulturellen Errungenschaften in den Fokus zu nehmen, die beispielhaft aufzeigen, wie nachhaltige Gestaltfindung funktionieren kann. Wir haben heute weit entwickelte digitale Generierungsmethoden und Verarbeitungstechniken, die uns aber teils mehr in der Hand zu haben scheinen als wir sie. Wie können wir heute altes kulturelles Wissen und neue Methoden in Einklang bringen, dass ein ganzheitlicher kultureller Mehrwert entsteht? Im Folgenden werden ein konstruktiver selbst-bildender Gestaltfindungsprozess und dann ein dialogisch selbst-bildender Gestaltfindungsprozess exemplarisch erläutert. Zuletzt werden Gemeinsamkeiten herausgefiltert, die womöglich auch in anderen Gestaltfindungsprozessen wie in der zeitgenössischen pastoralen Arbeit von Relevanz sein könnten.
Konstruktiv selbst-bildender Gestaltfindungsprozess
Bereits Leonardo da Vinci aber auch Architekten wie Antoni Gaudí oder Frei Otto haben erkannt, dass die Natur ein großartiger Lehrmeister für das Bauen ist. Heute ist die Bionik in vielen Disziplinen eine weit verbreitete Wissenschaft. Meine Studien in Neuseeland bewegen sich im Bereich von gebogenem Holz in statisch in sich geschlossenen Konfigurationen. Ich gehe in meiner Forschung der Frage nach, wie weit „Design“ reduziert werden kann, dass sich die Form weitestgehend selbst einstellt. In anderen Worten: Als Architekt bin ich daran interessiert, die direkte Formgebung so weit wie möglich zu reduzieren und kreativ an den Randbedingungen insofern zu arbeiten, dass sich leistungsfähige Konfigurationen mit so wenig Energie- und Materialaufwand wie möglich entwickeln und aufbauen lassen.
Abb. 3: Fotos W. Klasz: Oben: Fotos der physischen Modellstudien in Auckland; Unten: Fotocollage des Endmodells zur Darstellung des räumlichen Potentials
Die komplexe Form ist bis zu einem gewissen Maßstab, der noch erforscht werden muss ohne Gerüst und ohne aufwendige technische Hilfsmittel effizient durch Menschenhand aufbaubar. Es wird erst in Folge wissenschaftlich untersucht, ob diese zunächst iterativ und intuitiv entwickelte Konstruktion tatsächlich weniger Energie und Material benötigt, als vergleichbare andere Konstruktionen von gleicher Spannweite und von gleichem Volumen. Im Kontext von diesem Beitrag sei hervorgehoben, dass die primäre Konstruktion (siehe Abb. 3 links oben) zwar formgebend ist, aber mit den weiteren Materialien konstruktiv und gestalterisch verschmilzt und in den Hintergrund tritt. Es braucht lediglich einen einzigen zusätzlichen Balken, der nur zur Formgebung und während des Aufbaus nötig ist und der nach Fertigstellung der Konstruktion entnommen werden kann (siehe Abb. 5 rechts). Je nach Anwendung kann eine auf die Belastungspunkte hin optimierte Offset-Schale aus Holz montiert werden, um eine noch tragfähigere Sandwichkonstruktion herzustellen, die eine integrierte Dämmung durch Schafwolle oder andere nachhaltige Materialien ermöglicht. Die regendichte Dachhaut könnte durch eine Photovoltaik-Membran hergestellt werden.
Wesentlich bei dieser Case Study ist, dass moderne Planungs- und Verarbeitungstechniken gezielt unterstützend eingesetzt werden, um das Grundkonzept der konstruktiv sich selbst bildenden Form wirtschaftlich herstellbar zu machen. Während nur ausgewählte Schlüsseldetails mit der 5-Achsfräse aus Holz produziert werden, stellt sich die Gesamtkonstruktion weitestgehend aus geraden Hölzern durch Biegung selber ein. Der Gestalter konzentriert sich auf die Randbedingungen und arbeitet mit den materialinhärenten Eigenschaften der Komponenten.
Dialogisch selbst-bildender Gestaltfindungsprozess?
Der durch diverse öffentliche Preise gewürdigte Bau Kirche und Gemeindezentrum Rif im Süden von Salzburg zeichnet sich vor allem durch die dialogische Gestaltfindung aus, was unter anderem auch dadurch manifestiert ist, dass die Broschüre über das Projekt von 26 Autoren verfasst wurde, die zum Großteil in den Entwurfsprozess interaktiv eingebunden waren.
Zunächst ging es in einer Machbarkeitsstudie darum prinzipiell auszuloten, ob die politische Gemeinde mit der Diözese gemeinsam ein Projekt entwickelt kann, um potentielle Synergien zu nutzen. Nach positiven Vorgesprächen wurde im Zwischenraum zwischen Kirche und abfallender Topographie ein multifunktionaler Gemeindesaal für die 4000 Einwohner des Stadtteils geplant und errichtet. Die Kirche selber zeigt sich als begehbare Skulptur und ermöglicht durch den rampenförmigen Zugang eine barrierefreie Erschließung des bestehenden Pfarrzentrums. Die Skulptur ist so geformt, dass die größten Flächen in Richtung Süden und Westen zur Sonne hin geneigt sind, dass der Energieertrag für die integrierte Solaranlage optimiert ist. Wie in Abb.4 links oben zu sehen, begleitet den Besucher im Eingangsbereich ein wandfüllendes Kunstwerk zum Thema Schöpfung. In diesem Werk wird die Gestaltfindung des Universums – der Urknall – ebenso thematisiert wie die Milchstraße und feingliedrige Mikroorganismen. Der Sakralraum selber – völlig frei von bildnerischer Gestaltung – lebt vom skulpturalen Charakter und dem sich wandelnden Tageslichteinfall.
Als Ziviltechniker des beauftragten Architekturbüros bin ich für den Entwurf letztverantwortlich, doch im Grunde ist die Autorenschaft des Gebäudes sehr vielschichtig. Komplexe Bauaufgaben werden zunehmend in partizipativen Prozessen geplant. Gemäß meiner Erfahrung ist aber intensiver Dialog weit mehr als Partizipation. Beim Dialog – wie er unter anderem auch von David Bohm beschrieben wird – formt sich eine Lösung aus der Mitte gewissermaßen von selbst. Die Beteiligten legen Ihre Erfahrungen und auch individuellen Inspirationen, Ideen und Überzeugungen in die Mitte und vertrauen darauf, dass sich im interaktiven Prozess eine Gestalt formt. Diese Gestalt ist dann bestmöglich kein Kompromiss, sondern etwas Neues, das nur durch das Mitwirken und gleichzeitige Loslassen der Beteiligten entstehen konnte.
Abb. 4: Fotos Phelps: Kirche Rif von Klaszkleeberger: Eingangsbereich und Vorplatz Pfarre Rechts: Skizze zum Liturgiekonzept von W. Klasz
Im Wissen um die spezifische Leserschaft von diesem Artikel hebe ich ein Beispiel hervor: Der Gestaltfindungsprozess der Mariendarstellung. Seitens der Architektur ist das Gesamtkunstwerk – also der Einklang mit dem Raum – die wesentliche äußere Rahmenbedingung. Seitens der Benutzer des Sakralraumes wurde das Thema Maria im Dialog mit 12 Vertretern der Pfarre im Beisein der Künstlerin während eines Workshops erarbeitet. Die Künstlerin Maria Patrizia Röder arbeitete dann ein Konzept aus. Ein historisches Marienbildnis aus der Region wurde durch eine Lochstruktur abstrahiert. Maria erscheint sozusagen durch Weglassen von Material durch das Tageslicht, was wiederum ihren Charakter widerspiegelt und gleichzeitig eine sehr starke Integration mit der Architektur bedeutet. Weder der Architekt, noch die Benutzer oder die Künstlerin wären auf diese Lösung alleine gekommen. Die Gestalt hat sich aus dem Dialog heraus entwickelt.
Gemeinsamkeiten und Relevanz
Was hat nun der konstruktiv selbst-bildende Gestaltfindungsprozess mit dem dialogisch selbst-bildenden Gestaltfindungsprozess gemeinsam? Folgende sieben Punkte seien als These formuliert:
- Der Letztverantwortliche konzentriert sich auf die Ordnung und Prioritätensetzung der Rahmenbedingungen und nicht auf die Form selbst.
- Die Gestalt entsteht aus den Rahmenbedingungen in einem Selbstformungsprozess.
- Herausforderungen und Widerstände sind die maßgeblich formgebenden Parameter.
- Die Gesamtkonfiguration beruht auf einer Balance zwischen Spannungsaufbau und Spannungsausgleich.
- Die Formfindung birgt eine immanente Logik, die dem Projekt seine emotionale Leichtigkeit verleiht.
- Der ästhetische Charakter beruht wesentlich auf dem Prinzip der Reduktion und Integration.
- Durch das Dazwischen wird Material zu Architektur. Dieses Dazwischen birgt die spirituelle Dimension des Menschseins.
Abb. 5: Foto links: Phelps: Innenraum der Kirche Rif von Klaszkleeberger Foto rechts: Modellfoto der Studie bird_04 von W. Klasz: Der rot markierte Balken kann am Ende demontiert werden.
Diese sieben Punkte sind universell für Gestaltfindungsprozesse anwendbar. Je reifer und kompetenter die Partner in einem Prozess sind und je höher das gegenseitige Vertrauen, desto eher kann sich die Form von selbst bilden. Dieser Beitrag ist keine Absage an die Autorenschaft von Architekten aber eine Absage an deren Allmacht. Wir sind alle ein Teil vom Ganzen und klinken uns in das Beziehungsgeflecht der Schöpfung mehr oder weniger emphatisch ein. Die Kunst in selbst-bildenden Gestaltfindungsprozessen besteht darin, den Blick für das Wesentliche zu schärfen und jenen Parametern und Kräften Raum zu geben, die zur Gesamtqualität positiv beitragen. Oft muss der Gestalter, der „Hirte“ oder die Begleiterin nur eine grundlegende Richtung oder Haltung definieren/vorleben bzw. einen wesentlichen Balken zu Beginn richtig setzen. Sobald die Gruppe ihre innere Ordnung gefunden hat und jede/r verantwortungsvoll ihren und seinen Platz einnimmt, kann sie oder er getrost den Raum wieder verlassen (siehe Abb. 5 rechts), da sich das Gebäude, das System oder die Gemeinschaft bestmöglich selbst trägt.
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Autor: Walter Klasz