Matthias Katsch ist einer der bekanntesten Vertreter der Opfer sexueller Gewalt; er war selbst eines der Opfer im Canisiuskolleg von Berlin. Nun hat er seine Erfahrungen eines zehnjährigen Engagements verschriftlicht. Andreas Heek von der kirchlichen Arbeitsstelle für Männerseelsorge rezensiert das Buch.
Das alte emanzipatorische Diktum, dass Privates politisch werden müsse, damit notwendige gesellschaftliche Veränderungen geschehen könnten, ist für Matthias Katsch, dem Sprecher des Eckigen Tisches, einer Vereinigung Überlebender von sexueller Gewalt durch katholische Priester und Autor des vorliegenden Buches, zuerst ein unbedingtes Muss zum Überleben und erst dann eine Befreiung. Katsch beschreibt im ersten Teil seinen mühsamen Weg heraus aus dem auch vor ihm selbst auferlegten Tabu, über die sexuellen und sadistischen Übergriffe zweier Jesuiten-Patres am Berliner Canisius-Kolleg nicht zu sprechen. Anlass war, dass er 2005 plötzlich und unerwartet seinem Peiniger aus Kindertagen wiederbegegnet. Plötzlich ist alles wieder da, die Erinnerung, die Demütigung und die Scham. Ihm wird aber auch augenblicklich klar, er kann sich selbst nicht mehr belügen, dass doch alles in Ordnung sei mit ihm. Nichts war in Ordnung. Für ihn persönlich nicht und schon gar nicht der institutionelle Umgang des Jesuiten-Ordens im Besonderen und der katholischen Kirche im Allgemeinen. Aus wachsender Wut wird Zorn, der Antrieb für das Heraustreten aus den Schatten der Vergangenheit wird.
Katsch: Die Betroffenen stehen alleine da.
Wenn die Verbrechen der beiden Täter schon erschütternd zu lesen sind, so ist der Umgang der Institutionen nach der Offenlegung des eigenen Missbrauchs und so vieler anderer Schulkameraden an vielen katholischen Einrichtungen – zehn Jahre nach der ersten Öffentlichwerdung der Missbrauchsfälle – ebenso erschütternd. Bis heute – so sieht es Katsch – tut die Kirche alles, um die vor allem dringend nötige Aufarbeitung der Vergangenheit zu verschleppen und zu verzögern. Da die staatlichen Institutionen die Kirche dank ihrer umfassenden Privilegien nicht zwingen kann, Personalakten herauszugeben und mit der deutschen Justiz zusammenzuarbeiten, stünden, so Katsch, die Betroffenen allein da. Die mediale Unterstützung sei zwar hilfreich, aber diese könne dauerhaft nicht die systematische Aufarbeitung ersetzen, um den Opfern Genugtuung und vor allem Frieden zu verschaffen. Da keiner der in der MHG-Studie aufgeführten Fälle noch juristisch verfolgbar ist, wäre eine unabhängige „Wahrheitskommission“ dringend erforderlich, so Katsch. In Wirklichkeit habe die katholische Kirche aber bisher viel Kraft darauf verwendet, die Kontrolle über Aufarbeitung und Entschädigung in ihren Händen zu behalten einschließlich der Macht, letztlich zu entscheiden, wie weit sie bei Aufarbeitung und Aufklärung gehen wolle.
Kritik am deutschen Staat
Auch den deutschen Staat kritisiert Katsch. Er wirft ihm vor, die Kirchen viel zu wenig unter Druck zu setzen, um die reibungslose Zusammenarbeit in vielen sozialen und gesellschaftlichen Feldern nicht zu gefährden. Als der damalige Papst Benedikt XVI. auf seiner Deutschlandreise 2011 vor dem Bundestag sprach, gab es keine Stellungnahme seitens der Politik zu den ein Jahr zuvor bekanntgewordenen Missbrauchsfällen. Dagegen von allen Fraktionen freundlicher Applaus im Bundestag für den deutschen Papst.
Ein weiterer Skandal sei es, dass in vielen Fällen „problematische“ Personalakten nach Rom gesandt worden seien, offiziell, um über eine Kirchenstrafe für die mutmaßlichen Täter zu befinden, in Wirklichkeit aber, um in den Archiven des Vatikans zu verschwinden. Derweil wurden die Täter munter von einem Bistum ins andere versetzt und sogar – im Fall der betreffenden Jesuitenpatres – nach Südamerika, und so konnten sie dort ihr altes Schema von Manipulation und Missbrauch weiterführen.
Aufarbeitung steckt noch im Anfangsstadium
Die Berichte des Autors über den derzeitigen Stand der Aufarbeitung folgen nach seiner Analyse der inneren Logik einer Kirche, die noch nicht imstande zu sein scheint, die menschliche unvollkommene Natur so erkannt zu haben, dass sie eine wirksame Gewaltenteilung als das wichtigste Prinzip für eine ausgewogene Machtbalance einführt. Mittlerweile ist mit Hilfe auch staatlicher Stellen anfanghaft gelungen, der Aufarbeitung eine dringlichere Rolle zu geben und den Druck auf die Kirche zu erhöhen. Aber dies alles stecke 10 Jahre nach Bekanntwerden des Skandals immer noch im Anfangsstadium, so Katsch. Für „Laien“, die eigentlichen Subjekte der Kirche, ist dies alles schwer erträglich. Indirekt sind sie auch verantwortlich für die mangelnde Aufmerksamkeit für die Opfer sexueller Gewalt. Nur haben sie bisher nicht Anteil an der institutionellen Macht, dieser Verantwortung Rechnung zu tragen. Hier wäre mehr Druck auf die eigentlichen Verantwortlichen dringend erforderlich. Ob am Ende des Synodalen Weges mehr echte Partizipation der „Laien“ erreicht werden kann?
March to Zero von Opfern aus aller Welt – ein Moment der Befreiung
Gegen Ende des Buches wird dann Politisches privat, so das umgekehrte Diktum der Emanzipationsbewegung. Im Februar 2019 beruft Papst Franziskus die Vorsitzenden aller Bischofskonferenzen nach Rom ein, um über den weltweiten Skandal sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche zu beraten. Diese Tatsache an sich ist ein Fortschritt, eine symbolische Anerkennung, dass sexueller Missbrauch ein weltweites Problem der katholischen Kirche ist. Jedoch: Die Vertreter der Opferverbände werden zu keiner Zeit zu dem Treffen geladen. „Am Ende“, so Katsch, „behielten die Machtzyniker im Vatikan die Oberhand, die meinten, man müsse die Opfervertreter draußen halten, um die Kontrolle nicht zu verlieren.“
Am letzten Tag der Konferenz aber kommt es zu einem denkwürdigen Protestmarsch von Betroffenen, jetzt nicht mehr bewacht und reglementiert von der römischen Polizei, wie die Tage zuvor, sondern im Gegenteil von ihr eskortiert und beschützt. Dieser March to Zero von Opfern aus aller Welt schafft es bis zur Engelsburg nahe dem Petersplatz, lautstark skandierend und innerlich immer stärker werdend, um seinem Zorn Ausdruck zu verleihen. Die für die Kirche beschämenden Bilder gehen um die Welt. Dazu schreibt Katsch: „Im hellen Sonnenlicht durch die belebte Innenstadt zu marschieren, unsere Forderungen herauszubrüllen, zu springen und zu klatschen, war eine zutiefst sinnliche, körperliche Erfahrung. Vielleicht löste sich da etwas von der Scham, der Schande und der Schuld, und die Ohnmacht wich einem Gefühl der Ermächtigung. Ein Moment der Befreiung.“
Das Buch: ein berührender Bericht und beschämende Tatsachen, die die dringenden Reformen der Kirche überdeutlich werden lassen, aber vor allem daran erinnern, dass an erster Stelle Genugtuung, Entschädigung und Würdigung der Opfer stehen muss.
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Rezensent: Dr. Andreas Heek, Leiter der Kirchlichen Arbeitsstelle für Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz und Sprecher der „Arbeitsgemeinschaft LSBTIQ-Seelsorge in den deutschen Diözesen“
Beitragsbild: Copyright J. Pock
Literaturangabe: Katsch, Matthias, Damit es aufhört. Vom befreienden Kampf der Opfer sexueller Gewalt in der Kirche, Berlin (Nicolai-Verlag) 2020.
Sexueller Missbrauch – Eine Studie in der Wahrnehmung von Opfern