Das Buch „Das Fleisch der Engel“ der italienischen Autorin Alda Merini (Original 2003) ist nun auf Deutsch erhältlich. Thomas Sojer mit einer Rezension eines poetischen Buches, das sich mit den Ambivalenzen des Lebens beschäftigt.
Alda Merinis (1931–2009) „La Carne degli Angeli“, im Italienischen 2003 herausgegeben von Nicola Crocetti und Arnoldo Mosca Mondadori bei Edizioni Frassinelli, führt die Leser:innen in eine tiefgründige, poetische Welt, die die Beziehung zwischen dem Heiligen und der Körperlichkeit in ihrer Widersprüchlichkeit untersucht. Das Werk stellt Engel in den Mittelpunkt – nicht als idealisierte Wesen, sondern als fragile, widersprüchliche Gesten, die zwischen Spiritualität und Sinnlichkeit pendeln. Merini nutzt die Engel, um die Ambivalenz des Menschseins auszuleuchten, das im Streben nach Transzendenz unweigerlich an die Begrenztheit des Körpers gebunden bleibt.
Die Gedichte verweisen auf eine Suche, die niemals abgeschlossen ist, sondern sich in einem Zustand des Werdens befindet.
Die formale Gestaltung der Gedichte spielt dabei eine zentrale Rolle. Merini verwendet fragmentarische Strukturen, Enjambements und elliptische Satzkonstruktionen. Diese Techniken erzeugen ein Gefühl von Bewegung, Unvollständigkeit und innerer Zerrissenheit. Die Gedichte verweisen auf eine Suche, die niemals abgeschlossen ist, sondern sich in einem Zustand des Werdens befindet. Die Prosabruchstücke spiegeln die Unvollständigkeit der menschlichen Erfahrung und das Streben nach einer Wahrnehmung von Wirklichkeit, die nie ganz erreicht werden kann.
Ein Beispiel für diese ästhetische Vorgehensweise findet sich in den Versen aus Merinis Sammlung „Il suono dell’ombra“:
„Le più belle poesie / si scrivono sopra le pietre / coi ginocchi piagati / e le menti aguzzate dal mistero.“
(„Die schönsten Gedichte / werden auf Steinen geschrieben / mit zerschlagenen Knien / und von dem Mysterium geschärften Sinnen.“)
Diese Worte verdeutlichen, dass Lyrik für Merini aus einer Erfahrung des Leids und der radikalen Offenheit für die Welt entsteht. Der Schmerz wird zur Leerstelle, die nicht klar beschrieben, sondern ertastet wird. Die körperliche Dimension ist untrennbar mit der poetischen und spirituellen Erfahrung verbunden. Das Leiden des Körpers wird zur Quelle des Ausdrucks und der Erkenntnis. Diese Verbindung von Körperlichkeit und Spiritualität durchzieht das gesamte Werk und spiegelt sich in den Darstellungen der Engel wider, die sowohl das Heilige als auch das sexuelle Begehren verkörpern.
Engel – geprägt von Ambivalenzen
Merinis Engel sind von Ambivalenz geprägt. Sie sind „angeli senza luce“ („Engel ohne Licht“) und „demoni del sacrificio“ („Dämonen des Opfers“). Diese Figuren bewegen sich zwischen Extremen und verdeutlichen so die Widersprüche der menschlichen Erfahrung. In den folgenden Versen wird diese Ambivalenz besonders deutlich:
„Demone del sacrificio spavaldo, / angelo senza luce. / E la terra che brucia nella mia bocca non è preghiera, / e la bocca che brucia nelle mie mani non è terra.“
(„Dämon eines übermütigen Opfers, / Engel ohne Licht. / Und die Erde, sie brennt in meinem Mund, ist kein Gebet, / und der Mund, er brennt in meinen Händen, ist keine Erde.“)
Ein weiteres Beispiel findet sich in folgendem Zitat:
„Gli angeli medicano le piaghe di colui che cade / e inconsciamente si fa male per amore.“
(„Die Engel heilen die Wunden derer, die fallen / und sich blindlings aus Liebe verletzen.“)
Diese Passage zeigt, wie die Engel einerseits als heilende Kräfte dargestellt werden und andererseits die Verletzlichkeit des Menschen, der aus Liebe leidet, betonen. Merinis Engel sind nicht nur überirdische Gesten, sondern auch Symbole für menschliches Ausgeliefertsein und Mitgefühl.
Körperliche Liebe und Begehren werden zu Ausdrucksmitteln, um die Grenzen des Menschlichen auszuloten.
Sexualität spielt in Merinis Dichtung eine zentrale Rolle, die eng mit der Ambivalenz ihrer Engel und der Verbindung von Körperlichkeit und Spiritualität verknüpft ist. Körperliche Liebe und Begehren werden zu Ausdrucksmitteln, um die Grenzen des Menschlichen auszuloten. Ein Beispiel hierfür findet sich in den folgenden Versen:
„Tu non sai / cosa voglia dire entrare / nel fuoco della passione / e avere questo cigno bianco di desideri / sopra un corpo umano.“
(„Du weißt nicht, / was es heißt, in das Feuer / der Leidenschaft einzutauchen / und diesen weißen Schwan der Lüste / auf einem menschlichen Körper zu spüren.“)
In diesen Zeilen wird Leidenschaft in einer metaphysischen Dimension dargestellt. Sexualität wird zum Eintreten in eine Sphäre von Hingabe, Gefahr und Ungewissheit. Merini betont die körperliche Dimension als Quelle intensiver, spiritueller und emotionaler Erfahrungen, die sowohl Ekstase als auch Zerstörung in sich bergen.
Die poetische Sprache verweigert eine eindeutige Bedeutungszuweisung. Der Engel ist sowohl Licht als auch Dunkelheit, Erlösung und Zerstörung. Diese Spannung bleibt ungelöst und fordert die Leser:innen heraus, die Widersprüche der Bilder anzunehmen. In ihrer Ambivalenz zeigen Merinis Engel eine Verwandtschaft zu Rainer Maria Rilkes „Duineser Elegien“. Dort verkörpern die Engel ebenfalls die Schönheit und Bedrohlichkeit des Transzendenten. Wie bei Rilke sind die Engel bei Merini nicht nur Boten des Heils, sondern tragen eine erschreckende Kraft in sich, die die Tiefe der menschlichen Existenz widerspiegelt.
Die Leser:innen sind aufgefordert, die Gedichte selbst zu rekonstruieren und durch ihre eigene Interpretation eine Bedeutung zu finden.
Die Verweigerung einer linearen Erzählstruktur ist ein weiteres prägendes Element der Gedichte. Merinis Texte sind brüchig und elliptisch, wodurch die Verse in einem Zustand der Unbeständigkeit bleiben. Die Leser:innen sind aufgefordert, die Gedichte selbst zu rekonstruieren und durch ihre eigene Interpretation eine Bedeutung zu finden. Die formale Gestaltung korrespondiert mit der thematischen Beschäftigung mit der Unaufhörlichkeit des Suchens und der inneren Zerrissenheit.
Die deutsche Übersetzung von Ulrike Schimming, die im Herbst 2024 unter dem Titel „Das Fleisch der Engel / Meine Männer: Gedichte und Fetzen einer sentimentalen Autobiografie“ im Marix Verlag erschienen ist, bemüht sich, die dichterische Tiefe und symbolische Vielschichtigkeit des Originals zu bewahren. Schimming überträgt die Bildsprache und poetische Kraft der italienischen Verse sorgfältig ins Deutsche. Einige klangliche Nuancen und der musikalische Rhythmus des Italienischen gehen zwangsläufig verloren, da die Melodie der Originalsprache schwer ins Deutsche übertragen werden kann. Dennoch gelingt es ihr, die zentralen Bilder und die emotionale Intensität des Werkes zu vermitteln, sodass die deutsche Ausgabe eine Annäherung an Merinis komplexe Bildsprache ermöglicht.
Merini, zweimal für den Nobelpreis nominiert, transformiert persönliches Leiden poetisch und hebt es auf unkonventionelle Weise in eine spirituelle Dimension.
In Italien gilt Alda Merini als eine der wichtigsten Dichterinnen ihrer Generation. Ihre Werke werden für ihre unverblümte Darstellung von Leid, Wahnsinn und spiritueller Sehnsucht geschätzt. Ihre Erfahrung mit psychischer Erkrankung, die fast zwei Jahrzehnte ihres Lebens prägte, und die darauf folgenden poetischen Reflexionen machten sie zu einer bedeutenden Stimme für die Verschmelzung von Schmerz und künstlerischer Schöpfung. Merini wurde zweimal für den Nobelpreis nominiert, und ihre späteren Werke, wie „Terra Santa“, wurden von Kritiker:innen wie Maria Corti als herausragend in der modernen Lyrik anerkannt. Sie transformiert persönliches Leiden poetisch und hebt es auf unkonventionelle Weise in eine spirituelle Dimension.
In Deutschland blieb Merini zunächst einer kleinen Leserschaft vorbehalten. Ihre Themen – Wahnsinn, Isolation und die Suche nach Spiritualität – galten lange als Geheimtipp der modernen europäischen Lyrik, ohne große Resonanz zu finden. Ein Vergleich mit Paul Celan und Ingeborg Bachmann bietet sich an, die ebenfalls existenzielle Grenzerfahrungen poetisch bearbeiteten. Hier zeigt sich eine Nähe, die Merini in ihren Themen und ihrer Radikalität zu diesen deutschsprachigen Stimmen aufweist. Doch während Celan und Bachmann ihre Erfahrungen oft in präzise geformte, sprachlich dichte Verse fassten, wählt Merini eine andere Form: Sie setzt auf Unschärfe und ständige Bewegung, um die Unmöglichkeit einer endgültigen Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen.
Die Gedichte bieten keine einfachen Antworten, sondern eröffnen eine Vielzahl möglicher Deutungen.
„La Carne degli Angeli“ fordert die Leser:innen heraus, sich auf die Ambivalenz der menschlichen Existenz einzulassen, ohne eine klare Lösung oder Erlösung zu erwarten. Die Gedichte bieten keine einfachen Antworten, sondern eröffnen eine Vielzahl möglicher Deutungen, die sowohl die spirituelle als auch die körperliche Dimension betreffen. Die vielen Bruchkanten und die Ellipsen fordern die Leser:innen auf, ihre Vorstellung von vertrauter Spiritualität und Sinnlichkeit zu hinterfragen und die Mehrdeutigkeiten anzunehmen, die das Leben prägen.
Um die Tiefe von „La Carne degli Angeli“ zu würdigen, ist eine genauere Betrachtung der formalen Aspekte notwendig, die verdeutlicht, wie sie die thematische Komplexität unterstützen. Ein Zitat wie:
„Anima che si traduce / in qualcosa che la mente / non ha più il diritto di conoscere / e di santificare, / anima impropria, / anima che non dà profumo, / anima che non ha più estasi.“
(„Eine Seele, die sich wandelt / in etwas, das der Geist / nicht mehr erkennen darf / und nicht mehr heiligen, / uneigne Seele, / Seele ohne Duft, / Seele ohne Ekstasen“)
zeigt, dass Merinis Dichtung die Grenzen des Verständlichen sprengen will. Die Seele wird hier zum Symbol für die Unzugänglichkeit des Transzendenten und die Unmöglichkeit, es in Begriffe zu fassen. Solche Verse verdeutlichen, wie Merini die Leser:innen auffordert, die Schwelle menschlichen Verstehens zu erkunden.
„La Carne degli Angeli“ bleibt ein Werk von bewegender Tiefe, mit dem die Lyrikerin ihre Suche nach Sinn im Spannungsfeld von Sexualität und Gebet, dem Heiligen und dem Profanen beschreibt. Alda Merinis Engel sind keine makellosen Geistwesen, sondern Verkörperungen der Zerrissenheit des Menschseins. Sie verweigern sich einer eindeutigen Feststellung und bleiben stets in Bewegung, im Übergang zwischen den Extremen. Die deutsche Übersetzung von Ulrike Schimming eröffnet einen Zugang zu dieser poetischen Welt und bietet einen Dialog mit einem Werk, das in seiner Vielschichtigkeit sowohl herausfordernd als auch bereichernd ist. Merinis mutige Darstellung von Sexualität und körperlichem Begehren, die sie in den Kontext des Heiligen stellt, unterstreicht, wie sehr ihre Lyrik eine Auseinandersetzung mit der menschlichen Zerrissenheit ist – stets auf der Suche nach dem Unerreichbaren und der tiefen Verwindung von Körper, Geist und Seele.
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Thomas Sojer leitet die Bücherei in Hohenems, Vorarlberg. Zusammen mit Jörg Seiler betreibt er die Forschungsstelle Sprachkunst und Religion an der Universität Erfurt, die schwerpunktmäßig mit aktuell entstehender Lyrik im deutschsprachigen Raum arbeitet.
Bild: Buchcover