Ottmar Fuchs geht in seinem neuesten Buch „Momente einer Mystik der Schwebe“ dem „Leben in Zeiten des Ungewissen“ nach, an vielen Orten, in vielen Erfahrungen: hier bei Giordano Bruno, dem Priester, Dichter, Mönch, Philosophen und Astronomen, der im Februar 1600 am Campo de Fiori in Rom auf dem Scheiterhaufen starb.
Eine besonders mächtige qualitative Stufe des Schwebe-lernens in der Denkgeschichte der Menschheit war nicht so sehr Kepplers Entdeckung, dass die Sonne stillsteht und die Erde sich bewegt, sondern die unmittelbar auf Keppler folgende gegensätzliche Einsicht Giordano Brunos, dass der unendliche Raum des Universums überhaupt kein festes Bezugssystem mehr hat.
Das Universum: ein Raum ohne festes Bezugssystem
Das ahnten die Gegner Brunos: mit ihm gibt es keinen Halt mehr, weil es keine Halterung des Universums gibt. Das ganze Weltall schwebt, nirgendwo ist etwas festgemacht. Ein Himmelgewölbe gab es nicht mehr, und denkerisch, auch glaubensmäßig bedeutete dies die Negation der Begreiflichkeit, die ja immer etwas zum Festhalten braucht – wie etwa eine Offenbarungsschrift. Der Mensch muss in seinen/ihren Begrenzungen und Halterungen überleben. Und am Ende hält ihn dann doch nichts mehr. Er kann sich nicht mehr halten und stürzt in die absolute Haltlosigkeit. Sowohl individuell als auch menschheitsgeschichtlich. Wer alles in der Schwebe lässt, keinen Halt mehr findet und keinen Halt mehr gibt, macht selbst niemals Halt und ist unberechenbar.
Luther und Melanchthon gehörten zu den frühesten Gegnern von Kopernikus, weswegen Bruno in Wittenberg nicht Fuß fassen konnte. Enttäuscht verließ er 1588 die protestantische Hoffnung. Nach dem Philosophen Hans Blumenberg bliebt den Reformern offensichtlich verborgen, „dass Kopernikus die sinnfälligste Demonstration gegen den mittelalterlichen Anspruch auf Kongruenz des Sichtbaren und des Unsichtbaren, der Naturordnung und der Heilsordnung angeboten hatte.“[1] Aber wenn an der Natur- und Schöpfungsordnung ohnehin überhaupt nichts für die menschliche und glaubensbezogene Existenz des Menschen abzulesen ist, dann ist es ohnehin gleichgültig, was die Naturwissenschaft und die entsprechenden Universumskonzepte dazu sagen. Weshalb es nochmals umso unverständlicher ist, warum die protestantische Seite sich so sehr auf das vorkopernikanische Weltbild kapriziert hat. Denn Natur und Universum sind auskunftsunfähig, vielstimmig und zwiespältig für die Existenz des Menschen. Analogien gibt es hier nicht mehr.
Wollte man sich allerdings analoges Denken zwischen Vernunft und Glaube, Universum und Offenbarung erlauben, könnte man sagen: Das haltlose Universum entspräche theologisch der haltlosen Gnade, die keinen Halt, keine Begründung und keine Vorsetzung braucht. Es ist die Paradoxie eines Glaubens, der das Antworthafte verliert und gleichwohl oder gerade deswegen (weil es keine oder nur unzulängliche, unbefriedigende Antworten gibt) über die Räume der Verzweiflung hinaus weitere Räume eröffnet, zumindest nicht verschließt und derart erahnen lässt.
Das haltlose Universum und die haltlose Gnade
Der Glaube begibt sich in die eigene Schwebe, wo er Gott über die Offenbarungssemantik hinaus unergründlich Gott sein lässt. Der Glaube macht den Erfahrungsmangel seiner selbst nicht zum Maßstab Gottes selbst, sondern lässt Gott nochmals unendlich größer sein als unsere diesbezüglichen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, und zwar in die Dynamik seiner Güte, Solidarität und Erlösung hinein.
Es macht tatsächlich einen elementaren Unterschied, ob die Unendlichkeit des Universums „aufgehängt“ an einen Fixpunkt ist, oder ob diese Unendlichkeit selbst unendlich schwebt. Der unendliche Schöpfer der Unendlichkeit des Alls und der Vielheit der Welten kann „bei der Entstehung der Welt nicht an wenige vorgegebene Formen gebunden gewesen sein. Die Ungenauigkeit der natürlichen Formen und Bahnen ist für Bruno Korrelat der unerschöpflichen göttlichen Allmacht.“[2] Im Originalton von Bruno: Es gibt „nur einen luftigen, ätherischen, … Raum, der Ruhe und Bewegung in sich fasst, einen unermesslichen und unendlichen Schoß (das müssen wir behaupten, da wir mit den Sinnen und der Vernunft keine Grenze entdecken können), und wir wissen sicher, dass dieser Raum als Wirkung und Erzeugnis einer unendlichen Ursache und eines unendlichen Prinzips auf unendliche Weise unendlich sein muss.“[3]
Damit verbindet sich eine zyklische Vorstellung von Geschichte, in der es gute Zeiten gibt und schlimme, in der es Aufstiege gibt und ihren Niedergang. Wie die Gestirne befinden sich auch die Zeiten und Epochen in entsprechender Bewegung und verwirklichen darin, wenn man so will, den Aspekt der Schwebe, ganz gegen die Fortschrittsvorstellungen und -ideologien, die sich mit der Aufklärung, mit dem Fortschritt der Vernunft oder gar der menschlichen Ethik verbinden. Aber auch eschatologische Fortschrittsvorstellungen werden obsolet. Solche Fortschrittsresignation tut weh, jede Zeitenwende gebiert ihren eigenen Ruin.
Dies ist der Konflikt, der Bruno zum Ketzer macht und 1600 auf den Scheiterhaufen bringt: Denn auch der „Fixstern“ der Christologie, der Menschwerdungsgeschichte Gottes verliert seine singuläre Bedeutung und hat sich einzufügen in die „emsigen Werkstätten der Metamorphosen des einen Weltstoffes.“ Diese Metamorphosen ereignen sich in vielen Welten, im Gewebe zyklischer Zeiten und Räume.[4] In diesem Schwebezustand der Welten gibt es keinen Fixstern mehr, weder den religiöser Offenbarungen noch den angeblich argumentativ schlüssiger Verstehensweisen: „kein einzelnes Faktum, keine Welt, keine Person, kein Heilsereignis durfte nach Brunos großer Prämisse für sich in Anspruch nehmen, die Macht und den Willen, die Fülle und die Selbstverschwendung der Gottheit darzustellen, zu enthalten, zu erschöpfen.“[5]
Wäre für Bruno vielleicht Teilhard de Chardin (1881-1955) ein in dieser Weise konstruktiver Gesprächspartner, quer durch die Jahrhunderte hinweg, gewesen? Mit einer kosmischen Christologie, die alles andere als exklusiv singulär oder vielfältigkeitsfeindlich wäre? In einer einzigartigen Weise hat Teilhard in seiner Zeit die Paläontologie und die Theologie miteinander ins Gespräch gebracht. Er brachte eine Evolution in den Blick, in der die Menschheit in Liebe und Gerechtigkeit zusammenwächst: im Zusammenhang einer nicht kalten, sondern warmherzigen Kosmologie, in der sich alles, theologisch gesprochen, auf den kosmischen Christus zubewegt.
Teilhard de Chardin: Christus als jener, der die sperrige Vielfalt der Welt trägt
Dies geschieht nicht im Zusammenhang einer theologisch motivierten Simplifizierung der Natur, sondern im Mitgang zu einer immer größeren Komplexität und Vielfalt, die eine Einheit ermöglicht, die der schöpferischen Macht eines unendlich kreativen Gottes entspricht. Hierin hat der Mensch einen aktiven Part zu spielen: als Dynamik zur Versöhnung von Vielfalt und Gegensätzlichkeit im Kosmos, zur Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen und zu einem gegenseitig anerkennenden Verhalten in Richtung auf die Einheit in dieser Vielfalt.[6] Christus ist also nicht (nur) ein Faktor in der Vielfalt, sondern er ist jener universale Raum, in dem alle Faktoren, also alle Welten zu einer Einheit gelangen, die die auch sperrige Vielfalt der Welten ebenso trägt und garantiert, wie ihre Einheit in Liebe und gegenseitiger Anerkennung.
Bei Bruno gibt es eine divers-kommunikative „Einheit“ der Gegensätze, die weder synthetisch das Gegensätzliche aufhebt noch ihre Zusammengehörigkeit suspendiert. Sie bleibt in der Schwebe ihrer Unentschiedenheit, wenn man unter Entschiedenheit die Vernichtung eines Poles versteht.[7] So benennt Bruno den Charakter des Aschermittwochsmahles als „groß und klein, meisterhaft und schülerhaft, gottlos und fromm, fröhlich und verdrießlich, herb und mild, ausgelassen und ernst, tragisch und komisch, gläubig und ungläubig, fröhlich und traurig, erleichtert und beschwert, äffisch und würdevoll.“[8] Damit durchbricht Bruno die scholastische Lehrmethode, wo durch Argumentation ein schlüssiges Ergebnis herbeizuführen sei.
Dogmen schweben wie Fixsterne, die keine mehr sind
Bei den heftigen Auseinandersetzungen im Aschermittwochsmahl gibt es keinen nur rationalen Argumentationsgang, der am Ende nur eine Schlußfolgerung zuließe, sondern es sind auch die affektiven Anteile des Spottes, der Wut und der Verzweiflung beteiligt, und niemand wird vom Mahl ausgeschlossen.[9] Am Wahrheitsdiskus ist deswegen nicht nur die Vernunft beteiligt, sondern alle möglichen Reaktionsweisen des Menschen auf Erfahrungen und Erlebnisse.[10] Die Vernunft selbst ist dann nicht identisch mit schlüssiger Argumentation, sondern eher anzusehen „als eine seltene und unerhoffte Substanz …, mit der man im Grund nicht rechnen darf, von der man sich nur überraschen lassen kann.“[11]
Auch Dogmen schweben wie Fixsterne, die keine mehr sind. Und auch die Vernunft gibt es nicht als Einheitskompetenz der Menschheit, sondern es gibt sie interkulturell, plural, und man müsste dies in der Sprache entsprechend verändern, indem man ihren Plural hoffähig macht: Vernünfte! Positionen schweben, auch wenn sie für sich haltgebend sind. In einem weiteren System oder Zusammenhang erweisen sie sich untereinander als Pluralität und beweglich. Mit dieser Beweglichkeit zu „rechnen“, ist die Bedingung gleichstufiger Begegnung. Menschen und Kulturen leben also von vorneherein in einer Vernetzungsschwebe, die als solche dann doch einen gewissen Halt gibt.
Schweben ist immer auch Machtverzicht, denn je mehr mit Macht etwas festgehalten wird, je mehr es also „Fixsterne“ gibt, an denen man festhalten will, oder die man festhalten will, desto mehr Zugriffigkeit möchte man haben bis zu der Sehnsucht, etwas oder andere beherrschen zu können.
______________________
Ottmar Fuchs ist em.Univ.-Prof. für Praktische Theologie (Bamberg und Tübingen) und wohnt in Lichtenfels.
Beitragsbild: Claire Rowland Flickr (CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2204309)
[1] Hans Blumenberg, Das Universum eines Ketzers, in: Giordano Bruno, Das Aschermittwochsmahl. Einleitung von Hans Blumenberg, Frankfurt am Main 1969, 7-51, 16.
[2] Blumenberg in seinen Anmerkungen zum Aschermittwochsmahl, Universum, 181-190, 187-188.
[3] Bruno, Aschermittwochsmahl, 124.
[4] Vgl. Blumenberg, Universum, 51.
[5] Blumenberg, Universum, 49.
[6] Vgl. Ottmar Fuchs, Ökologische Pastoral im Geiste Teilhards de Chardin, in: Orientierung 59(1995), 115-119.
[7] Vgl. Blumenberg, Universum, 19.
[8] Bruno, Aschermittwochsmahl, 55.
[9] Vgl. Blumenberg, Universum, 22.
[10] Vgl. Blumenberg, Universum, 41.
[11] Blumenberg, Universum, 38.