Der bosnische Theologe Alen Kristić macht sich in poetischer Weise Gedanken über das Gericht.
Das Gericht
Es interessiert mich nicht
wie Du aus dem Nichts
die Welt herbeigerufen hast
Ob es ein Moment
der Schwäche war
Es kümmert mich nicht
ob Du drei bist oder einer
Ob Du einen männlichen
oder weiblichen Namen trägst
Es ist mir Schnuppe
auf welchem Boden die theologischen Konstrukte gedeihen
und hochnäsig die Geheimnisse deines
unbegreifbaren Wesens hinterfragen
Was mich interessiert ist
was Du mit der heißen menschlichen Träne anstellst
Wo findest Du Platz
für die geknickte menschliche Hoffnung
Es interessiert mich wie Du mit der
verachteten Liebe eines Sterblichen umgehst
Wohin legst Du das ruinierte
Menschenleben
Was tust Du,
von dem man sagt
Du könntest alles
mit der abgründigen
menschlichen Trauer
Wie erträgst Du
eine unheilbare Wunde
auf dem schwindelerregenden Webstuhl
der Fleischwerdung menschlicher Seele
Wozu das Vermuten der Menschen
über das ewige Glück
unter dem Himmelsgewölbe
des unvergänglichen Schmerzes
Falls Du zufällig
kindlich verspielt
diesen verwelkten Knospen
eines brüchigen Zweiges
des menschlichen Lebens
der Ewigkeit trunken
für uns eine bessere Welt
in einer anderen Dimension erbaust
Dann wache doch
endlich auf aus der
erbarmungslosen Grausamkeit
Einziges Gericht
für Dich vor uns
und für uns vor Dir
ist die vergängliche Welt
die von einem Schwarm
aus menschlichen Schreien
gebrandmarkt ist
Durchbohrt
vom Schrei
des Galiläers
Deutsch aus dem Kroatischen
von Hana Stojić
—
Alen Kristić, geboren 1977 in Sarajevo, ist Mitbegründer der Ausgabe für Kroatien und Bosnien und Herzegowina der internationalen theologischen Zeitschrift „Concilium“.
Beitragsbild: Strassburger Münster, Portal, Gerichtsszene (Foto Pock)