Marie und Emanuel beschließen einen Pakt: Sie wollen sich gemeinsam das Leben nehmen. Vorher soll sie ihm die Angst vor dem Sterben nehmen. Er wird ihr helfen, sich dem Leben zu stellen. Gerrit Spallek empfiehlt einen Jugendroman über glückende Weltbeziehung.
Am sterbenden Emanuel beginnt die lebensmüde Marie einen Sinn in ihrem Leben zu erahnen. Hinzukommen eine katholische Großmutter, die ehemals als Puffmutter arbeitete, und eine esoterikbegeisterte große Schwester. Das Setting passt folglich für die Sommerlektüre theologieinteressierter Leserinnen und Leser. Laut Studienberatung sollte auch Emanuel Theologie studieren. Warum er sich dennoch dagegen entschieden hat? Er glaubt nicht an Gott. Sein Studium wird er ohnehin nicht abschließen. Denn er ist unheilbar krank. Weil Emanuel den Kontroll- und Identitätsverlust zum Endstadium seiner Erkrankung fürchtet, will er dem Tod zuvorkommen und sich das Leben nehmen. Auf der Zielgerade seines Lebens übernimmt er noch eine letzte Mission.
Marie und Emanuel begegnen sich im Wartezimmer ihres gemeinsamen Therapeuten. Sie lernen sich in einem Biergarten näher kennen, tauschen ihren Protest gegenüber der eigenen Existenz aus und beschließen einen Pakt: Sie legen ein Datum fest, an dem sie sich gemeinsam das Leben nehmen wollen. Bis dahin soll Marie Emanuel helfen, die Angst vor dem Sterben zu verlieren.
Der Roman dreht sich um die Frage nach glückender Weltbeziehung.
Was Marie noch nicht weiß: In dieser Zeit wird Emanuel ihr helfen, den Unwillen gegenüber dem Leben zu verlieren. Es wird schnell deutlich, dass dieses Erstlingswerk von Sandra Weihs (geb. 1983 in Klagenfurt) nicht primär um Sterbehilfe kreist. Es geht um die Frage nach einem guten bzw. annehmbaren Leben. Der Roman dreht sich um die Frage nach glückender Weltbeziehung.
Die Borderline-gestörte Marie glaubt an Gott, wenn auch nicht in institutionell gebundener Form: „Mein Gott, der verzieht einfach alles […] mein Gott ist ein einfacher Gott“ (S. 80). Und dennoch will sie sich umbringen. Kein Grund überzeugt sie uneingeschränkt, dass das Leben lebenswert sei. Alles, was das Leben lebenswert machen könnte, wird sogleich radikal relativiert und infrage gestellt. Übermächtig erscheint ihr das grenzenlose Und: Es gibt gut und schlecht, Glück und Unglück, etwas und nichts, Leben und Tod, Sinn und unakzeptable Absurdität.
Marie arbeitet an der Bewältigung von Transzendenz.
Emanuel hat einen Hirntumor. Er erfährt seine Sterblichkeit und Limitation konkret. Die letzte Mission von Emanuel, Marie vom Lebenswillen zu überzeugen, hat etwas von Kontingenzbewältigung – ein Versuch, seinem Leben einen letzten Sinn zu geben, der überdauert. Marie hat ein ganz anders Problem. Sie leidet nicht an ihrer eigenen Endlichkeit. Schließlich ist es ihr eigenes Ende, nach dem sie sich sehnt. Vielmehr leidet sie an der Kontingenz der Wirklichkeit als Ganze.
Woran die literarische Figur Marie im Laufe der Erzählung arbeitet ist weit weniger die Bewältigung von Kontingenz, als die Bewältigung von Transzendenz. Gerade die Vorstellbarkeit absoluter Güte, unendlicher Lebendigkeit und vollständiger Freiheit machen es ihr scheinbar unmöglich, sich mit der Wirklichkeit, wie sie eben ist, zufrieden zu geben.
Wie kann ich das augenscheinlich Unakzeptable akzeptieren, ohne mich mit ihm arrangieren zu müssen?
Hier zeigt sich, warum dieser Roman als Sommerlektüre ungeeignet ist, wenn Sie im Urlaub versuchen wollen, sich von theologischen Fragestellungen freizumachen. Denn gerade dieses grenzenlose Und zwischen einer vorstellbaren Welt, die unsere Zustimmung verdient, und unserer alltäglichen Erfahrung führt mitten in den Kernbereich religiöser Selbstverständigung: Wie kann ich das augenscheinlich Unakzeptable akzeptieren, ohne mich mit dem Unakzeptablen arrangieren zu müssen?
Nicht jedes „Happy End“ ist mit marktförmigem Kitsch zu verwechseln.
Damit wird so etwas wie ein gemeinsamer Zuständigkeitsbereich von Kunst und Religion benannt. Beide öffnen Räume, sich gegenüber dem Unakzeptablen, gleichzeitig aber Unveränderbaren zu verhalten. Hier kann die Hoffnung auf ein gutes Ende Raum gewinnen. Sowohl die gesellschaftliche Haltung gegenüber Religionen und Religiosität als auch gegenüber zeitgenössischer Kunst weist jedoch darauf hin, dass diese Hoffnung zunehmend an Glaubwürdigkeit verliert. Sie ist aus unterschiedlichen Gründen verdächtig geworden.
Dennoch haben Theologie- und Kunstschaffende ein gemeinsames Interesse, dass diese Hoffnung nicht leichtfertig als naiv und irrational abgetan wird. Denn nicht jedes „Happy End“ ist mit marktförmigem Kitsch zu verwechseln. Vielmehr scheint mit der Marktförmigkeit ein signifikantes Kriterium benannt zu sein, die Utopie eines eũ thánatos von der Heterotopie eines guten Endes zu unterscheiden, das dieses Prädikat wirklich verdient.
…, dass ein gutes Ende zur tatsächlichen Alternative werden kann.
Die Fiktion des literarischen Werkes macht es möglich, dass ein gutes Ende zumindest als Möglichkeit in den Blick genommen werden kann. Erst einmal in den Blick genommen, können sich Räume öffnen, dass ein gutes Ende – vielleicht auch erst einmal nur im ganz Kleinen – zur tatsächlichen Alternative werden kann. Die Gestaltung des Buchdeckels legt nahe, dass dieser Jugendroman tatsächlich etwas von einer Anleitung hat, wie glückende Weltbeziehung gelingen kann: In Anlehnung an eine Schlüsselszene, in der sich das Blatt zum Guten zu wenden beginnt, findet sich auf der Innenseite des Buchdeckels eine Bauanleitung für einen Papierflieger.
Resonanz als zumindest ausreichend passabler Lebensgrund.
Über den künstlerischen Ausdruck entdeckt Marie eine für sie annehmbare Möglichkeit, sich dem Leben zu stellen. Auf den letzten Seiten des Romas schildert sie ihre Gedanken: „Vielleicht kann ich das wirklich. Das, was ich fühle, an andere weitergeben. Das, was ich denke, zur Diskussion stellen. Das, was ich für richtig erachte, aussprechen. […] Vielleicht kann ich die Menschen berühren. Vielleicht werde ich irgendwann die Welt ein wenig verändern können, in einer Begegnung, in einem Gespräch, mit einem Werk, etwas schaffen, das bei den anderen ankommt.“ (S. 179)
Bei-anderen-Ankommen gerät als zumindest ausreichend passabler Lebensgrund ins Blickfeld von Marie. Sie entdeckt Resonanz als Qualität glückender Weltbeziehung – Hartmut Rosa lässt grüßen. Ein Grund mehr also, diesen Debütroman für die Zeit sommerlicher Entschleunigung zu empfehlen. Seien Sie aber bitte nicht enttäuscht, wenn diese Geschichte – mehr oder weniger – gut ausgeht.
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Debütroman: Sandra Weihs, Das grenzenlose Und, Frankfurter Verlagsanstalt, 2015 (192 Seiten).
Gerrit Spallek ist Theologe am Institut für Katholische Theologie der Universität Hamburg und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net
Bild: Hintergrund: pixabay; Buch: http://www.sandraweihs.at