Hildegund Keul analysiert die Abgründe aktueller politischer Ereignisse mit der Brille von Georges Bataille. Dabei kritisiert sie auch die Rolle der Wissenschaften – und die der Theologie.
Er macht es tatsächlich. Über die Notstands-Erklärung will US-Präsident Donald Trump allen Einwänden und Widerständen zum Trotz noch mehr Geld, mittlerweile weitere 8,6 Milliarden Dollar, für sein Wahlkampfprojekt einer Mauer an der Grenze zu Mexiko abstellen. Dass die Finanzgesetze in die Hoheit des Repräsentantenhauses gehören, schert ihn nicht. Gewaltenteilung ist nicht sein Ding. Jedes rationale Argument, dass die Riesensumme an anderen Stellen viel effektiver einzusetzen wäre, stößt auf taube Ohren. Auch vor Rassismus, Misogynie, Diskriminierung behinderter Menschen schreckt Trump nicht zurück. Und mit all dem löst er bei seinen Anhänger*innen wahre Begeisterungsstürme aus.
Regelbruch als Programm
Donald Trump, Victor Orban, Recep Tayyip Erdogan und wie sie alle heißen vollziehen den Bruch demokratischer Grundregeln nicht zufällig oder versehentlich, sondern Regelbruch ist hier Programm. Es empört mich jedes Mal aufs Neue. Aber Empörung hilft gar nichts, sie spielt nur der feixenden Anhängerschaft in die Hände. Also schaue ich mir lieber die Analysen des französischen Theoretikers Georges Bataille (1897-1962) an. Er wirft einen Blick in die Welt der Abgründe, die von der Welt der Gründe nichts wissen will und sich daher von rationalen Argumenten nicht beeindrucken lässt.
Regelbruch ist hier Programm.
„Im Prinzip ist die soziale Homogenität eine labile, durch Gewaltakte und überhaupt durch innere Konflikte jederzeit störbare Form. Sie entsteht spontan aus dem Zusammenspiel der Produktionsabläufe, aber sie muß ununterbrochen gegen alle Elemente der sozialen Unruhe geschützt werden“[i]. Bereits 1933 publiziert Georges Bataille seinen Artikel über „Die psychologische Struktur des Faschismus“, in dem er die These vertritt, dass nicht die ökonomischen Bedingungen, sondern psychologische Strukturen und religiöse Dynamiken das Wesen des Faschismus ausmachen. Seine Analyse gewinnt im Zuge der Umbrüche, die sich in diesen Jahren in der globalen Politik ereignen, traurige Relevanz.
Georges Bataille: alte Analyse mit trauriger Relevanz
Das Aufkommen des Faschismus verortet er im Spannungsfeld von Homogenität und Heterogenität. „Basis der sozialen Homogenität ist die Produktion. Die homogene Gesellschaft ist die produktive, das heißt die nützliche Gesellschaft. Jedes unnütze Element wird ausgeschlossen, nicht aus der Gesellschaft überhaupt, sondern aus ihrem homogenen Teil.“ (Bataille: Faschismus 10) Die Produktion soll effektiv und reibungslos laufen, um das Leben abzusichern. Zweckrationalität und klare Regeln strukturieren die Welt der Arbeit und der Kommunikation. Damit setzt die demokratische Gesellschaft ihr Nein gegen die Welt der Gewalt, der Verschwendung und Zerstörung. Das Gewaltmonopol des Staates schließt persönliche Gewaltanwendung aus.
Nicht nur gewaltbereit, sondern auch noch stolz darauf
Aber auch der homogene Teil ist gewaltsam, nämlich in seinen Ausschließungen des Heterogenen – homosexuell Liebende können ein Lied davon singen. Der Soziologe Didier Eribon schreibt: „Schwul zu werden heißt, sich ins Feuer von Vokabeln zu stellen, die man tausendmal gehört hat und deren verletzende Kraft man schon lange kennt. … Es ist ein Begehren, das von einer Zerbrechlichkeit und einer bewussten, immer und überall verspürten Verletzlichkeit gekennzeichnet ist.“[ii] Die dominante Gesellschaft drängt Heterogenes nach draußen ab und erhöht zugleich den Homogenisierungsdruck nach innen. Lieber Andere verwunden, als selbst Schaden erleiden.
Lieber Andere verwunden, als selbst Schaden erleiden.
Aber die Homogenität einer Gesellschaft beginnt sich zu zersetzen, wenn „Elemente, die von der Produktion gar nicht oder nicht genügend profitieren oder die die Zwänge, die die Homogenität der sozialen Unruhe entgegensetzt, nicht ertragen können.“ (Bataille: Faschismus 12) Da denke ich sofort an die Menschen in Ostdeutschland, die sich gesellschaftlich abgehängt fühlen und deren Hass bei rechtspopulistischen Demonstrationen über den Bildschirm ins Wohnzimmer schwappt. Die rechtsextreme Vereinigung in Chemnitz, die kürzlich bei einem Fußballspiel mit ihrer öffentlichen Trauer um einen verstorbenen Nazi für Furore sorgte, nennt sich „HooNaRa“: Hooligans, Nazis, Rassisten. Sie sind nicht nur gewaltbereit, sondern auch noch stolz darauf.
Gewalt – Eintritt in die Welt des Heiligen
Während der homogene Teil der Gesellschaft über Ökonomie, Zweckrationalität und den sparsamen Einsatz von Ressourcen bestimmt ist, folgt das Heterogene dem gegenteiligen Prinzip irrationaler Verschwendung. Ein Hauptwerkzeug ist die Gewalt, wie sie sich erneut Mitte März im rechtsextremen Terroranschlag in Christchurch Bahn brach. Die hemmungslose Ausübung von Gewalt folgt der menschlichen Begierde nach einer frenetischen, rauschhaften Existenz. Jeder Attentäter ist ein „Subjekt auf dem Siedepunkt“, der eine unproduktive, destruktive, ja katastrophische Form der Verausgabung betreibt. Er lässt die Welt des Profanen, der Rationalität und Ökonomie hinter sich und betritt die gefährliche Welt des Heiligen, die aus der Macht des Opfers lebt.
Menschenopfer sind nicht nur eine archaische, sondern auch eine aktuelle Größe.
1948, im Schatten des Zweiten Weltkriegs, bestimmt Bataille Religion als die „Suche nach der verlorenen Intimität“[iii] des Lebens. Das Opfer allgemein, besonders das Menschenopfer, wirkt als eine Art Brennstoff, der das Leben aufflammen lässt in rauschhafter Intensität. Die Terroranschläge zeigen, dass Menschenopfer nicht nur eine archaische, sondern auch eine aktuelle Größe sind. Das umschließt die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern. „Die Todesgefahr wird nicht vermieden, sondern ist vielmehr Gegenstand einer starken unbewußten Anziehung.“[iv] Man kann gesellschaftlich nicht darauf setzen, dass drohende Verwundung Menschen in ihrer Wut zügelt.
Die Gefahr des Faschismus
Besonders gefährlich wird es, wenn der heterogene, gewaltbereite Teil der Gesellschaft auf eine Führerfigur trifft, die eine andere, neue Einheit zu stiften verspricht. Dann entsteht die Gefahr des Faschismus, der mit Milizen arbeitet und dessen Merkmal Bataille in der Konzentration von Energien in einer einzigen Person sieht. „Der affektive Strom, der den Führer mit seiner Gefolgschaft verbindet in der Form der moralischen Identifizierung der Gefolgschaft mit dem Führer (und umgekehrt), ist Funktion eines gemeinsamen Bewußtseins von sich steigernden, gewaltsamen, ins Maßlose anwachsenden Energien, die sich in der Person des Führers akkumulieren und in ihr unbegrenzt verfügbar werden.“ (Bataille: Faschismus 19)
Brenton Harrison Tarrant, der in Christchurch fünfzig Menschen in zwei Moscheen erschoss, lobte den US-Präsident als „das Symbol einer erneuerten weißen Identität“.
Trump: „Symbol einer erneuerten weißen Identität“
Über „eine weiße Identität“, eine homogene Größe, drängt sich das Rassistisch-Heterogene als neues Homogenes in das Innere der Gesellschaft. Im Faschismus werden die gesellschaftlichen Klassen in einem Einheitsprozess entdifferenziert, heterogene und homogene Elemente verbinden sich. Ob der Rechtsruck, den die CDU derzeit vollzieht und der eine Annäherung an AfD-Positionen bedeutet, zu einem Baustein im Einheitsprozess werden kann?
Die Wissenschaft – ein Hauptorgan der Homogenität[v]
Homogenes und Heterogenes sind ineinander verzahnt und bilden ein fragiles, äußerst bewegliches Spannungsfeld. Dabei ist besonders interessant, wie Bataille die Wissenschaften einschätzt. Man könnte denken, das Kontroverse, Marginalisierte erfordere ihre besondere Aufmerksamkeit. Bataille entlarvt dies als utopisch, denn: „die Wissenschaft hat zur Aufgabe, die Homogenität der Phänomene zu begründen: sie ist in einem gewissen Sinne eines der Hauptorgane der Homogenität.“ (Bataille: Faschismus 14) Das mag überzogen erscheinen. Aber es erklärt einiges.
Die Berliner „Stiftung Wissenschaft und Politik“ wird vom Staat finanziell bestens ausgestattet, ihre Experten (seltener Expertinnen) sind im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sehr gefragt. Aber bei einem Kolloquium im Sommer 2017 musste die SWP offiziell zugeben, dass sie weder mit Trump noch mit dem Brexit gerechnet, sondern im Gegenteil diese Entwicklungen für völlig unmöglich gehalten hatte. „Schwarze Schwäne“, völlig unwahrscheinliche Ereignisse, denen man keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Mit Batailles Blick kein Wunder: „Die heterogenen Elemente sind sogar dadurch definiert, daß sie als solche von der Wissenschaft nicht erkannt werden können.“ (Bataille: Faschismus 14)
Und die Theologie – heterologisch?
Was bedeutet das für die gegenwärtige Theologie? Wie wird sie in die Lage versetzt, nicht nur das Homogene zu begründen, sondern dem Blick in den Abgrund nicht auszuweichen? Denn das ist tatsächlich nicht selbstverständlich. Bereits in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts prangerte die Feministische Theologie den sexuellen Missbrauch von Kindern durch Priester an. Der Beichtstuhl wurde damals schon als Tatort identifiziert. Aber weil sie das Heterogene thematisierte, gehörte die Feministische Theologie zu dem, was Bataille den „part maudite“ nennt, den verworfenen Teil.
Dreißig Jahre hat es gedauert, bis die etablierte Theologie den Blick in den Abgrund wagte und der sexuelle Missbrauch zum Thema wurde. Wieviel Leid hätte in den Jahren erspart werden können, wenn man das Heterogene damals schon offen debattiert hätte.
Weil sie das Heterogene thematisierte, gehörte die Feministische Theologie zu dem, was Bataille den „part maudite“ nennt, den verworfenen Teil.
Während man in der Theologie die Vernunft als erhabene Kraft hochhielt, waren im Verborgenen ganz andere, irrationale Kräfte der Destruktion am Werk. Ansätze wie die Communio-Theologie begründeten das Homogene: das Papsttum, die Priesterweihe, und überhaupt das Amt – und verdeckten und schützten damit das Heterogene des sexuellen Missbrauchs. Vor diesem Hintergrund müsste man einige theologische Texte heute neu und sicher ganz anders lesen. Was homosexuell liebende Menschen angeht und generell die Diskurse um Sexualität und Erotik, so hat die Auseinandersetzung gerade erst begonnen.
Wenn die Theologie der Gewalt widerstehen will,…
Wenn die Theologie der Gewalt widerstehen will, die gesellschaftlich und global zunimmt, muss sie sich dem Heterogenen in den eigenen Reihen stellen – dem Heterogenen als Opfer und als Täter von Gewalt. Aber wie kommt Heterogenes in den Blick? Wieweit ist die Theologie in der Lage, heterologisch zu arbeiten, auch wenn dies Risiken der Ausgrenzung birgt?
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Prof. Dr. Hildegund Keul arbeitet seit August 2018 an der Universität Würzburg in der Vulnerabilitätsforschung (DFG-gefördert) und leitet dort die interdisziplinäre Forschungsgruppe „Vulnerabilität, Sicherheit und Resilienz“. www.verwundbarkeiten.de.
[i]Bataille, Georges 1997: Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität. München: Matthes & Seitz, 12.
[ii]Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. Berlin: edition suhrkamp, 11. Aufl. 2016, 192; 197.
[iii]Bataille, Georges 1997: Theorie der Religion. München: Matthes & Seitz, 50.
[iv]Bataille, Georges 2001: Die Aufhebung der Ökonomie. München: Matthes & Seitz, 14.
[v]Dieser Beitrag entstand im Forschungsprojekt zur Vulnerabilität, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 389249041. Siehe auch www.vulnerabilitätsdiskurs.de.