Wahrnehmungs- und Ambiguitätskompetenz als Bedingung entschieden christlichen Handelns. Von Marion Schwermer.
Wie verhalten sich die Vielfältigkeit, Komplexität, Widersprüchlichkeit und Verflüssigung unserer Lebenswelt zu der konkreten Einmaligkeit eines verantwortlichen Tuns? Wie entstehen glaubwürdige kirchlich-christliche Praktiken, ohne die Wahrnehmung zu vereinfachen, die Perspektiven anderer auszublenden oder sich ins Intuitive zurückzuziehen?
In der Verdeutschung der Heiligen Schrift von Martin Buber und Franz Rosenzweig (1926 – 1938) finden sich herausragende Wortzuschreibungen, so etwa: „Er tat das in seinen Augen gerade.“ [1] Das gottgefällige (religiös-kultische) Handeln der Könige Israels und Judas wird so beschrieben. Nicht das Gefallen Gottes ist maßgeblich, wie die Einheitsübersetzung formuliert: Er tat, „was dem Herrn gefiel“. Sondern es klingt eher nach einem am Menschenmöglichen orientierten Schritt in einer multioptionalen Welt.
Das Gerade tun
„Das Gerade tun“ bewertet nicht das Tun, sondern beschreibt dessen Lage im (Handlungs-)Raum. Die „Gerade“ beinhaltet eine Bewegung in eine festgelegte Richtung, vom Stützpunkt weg, durch einen Richtungspunkt definiert, aber nicht auf ein Ziel hin gerichtet. Geometrisch verstanden ist sie eine unendlich lange in beide Richtungen unbegrenzte Linie und reduziert die unendlichen (Handlungs-) Möglichkeiten im Raum auf genau eine Singularität. Für diese Richtungsbewegung braucht es vor allem eins: Orientierung. Denn das Gerade entsteht in dem ersten Schritt vom Ausgangspunkt weg. Der Gegensatz dazu, also das Tun des Bösen, entsteht demnach durch das Unbestimmte, Uneindeutige und durch Stillstand.
Papst Franziskus spricht in seinem Buch „Wage zu träumen“ von „einer Art Impfung“, die gegenüber dem Bösen helfen kann. Er habe in einer persönlichen Krisenzeit die 37 Bände von Ludwig Pastors „Geschichte der Päpste“ gelesen. Im Rückblick schreibt er: „Wenn du einmal diese Papstgeschichte kennst, dann kann dich wenig von dem, was im Vatikan und der Kirche heute passiert, noch schockieren.“[2] Das Böse wahrzunehmen immunisiert gegenüber Vertuschen und Übergehen und sensibilisiert für das Gerade.
Wie kommt das Gerade in den Blick?
Der Blick bedarf einer differenzierten und vertieften Aufmerksamkeit. Dranbleiben, alle 37 Bände lesen, sich nicht ablenken lassen von den Machtpraktiken anderer oder dem für das eigene Ego Unangenehmen, Widersprüchlichen. Die Psychoanalyse redet von der gleichschwebenden Aufmerksamkeit als ehernen Leitsatz der Erkenntnishaltung. Sich nichts besonders merken zu wollen und allem, was man vom Analysanden zu hören bekommt, die nämliche „gleichschwebende Aufmerksamkeit“ entgegenzubringen. Das bedeutet, nicht seinen eigenen (!) Vorstellungen, Neigungen und Voreingenommenheiten zu folgen, weil man sonst Gefahr laufe, „niemals etwas anderes zu finden, als man schon weiß“.[3]
Es heißt auch, sich der Situation in der Tiefe auszusetzen, wie sie von den anderen erlebt und als Not erfahren wird. Nicht die eigene Perspektive, sondern die Perspektiven der Betroffenen gibt die Richtung vor. Wie Sr. Karoline Maier, die in Argentinien mit und für die Armen handelt, sinngemäß sagte: Natürlich gehe ich auch zu den Reichen, doch ich komme aus der Perspektive der Armen zu ihnen.
Bedeutung geben statt routiniert abhandeln
Wahrnehmen braucht Aufmerksamkeit und geht über sie hinaus. Sie richtet sich auch auf die Bedeutungen, die von den Betroffenen zugeschrieben und erfahren werden. Sich diese emotionale Qualität der Bedeutungs-zuschreibungen vom Leibe zu halten, schützt zwar gegen Schmerz und Verletzung, verstellt aber den Blick auf das Gerade. „Was ich mir nicht vorstellen kann, kann ich nicht erkennen,“ so lautet ein zentraler Leitsatz der Präventionsarbeit gegen sexuellen Missbrauch. Wer im Erschrecken über das Unvorstellbare verhaftet bleibt, dem fehlt die Richtung, auf Betroffene zu hören und deren Erfahrungen zu glauben.
Das aufmerksame Wahrnehmen einer Situation ist kein statisches Tun. Es steht in einer zeitlichen Abfolge von Handlungen, die ein dynamisches Feld mit einem Vorher und einem Nachher konstruieren. Wieweit werden Dynamiken, Manipulationen, Machtpraktiken wahrgenommen? Stellt man sich dem Herausfordernden, Schmerzlichen, nicht Kontrolliertem? Situationen werden erst einmal routiniert abgehandelt, sagt der Psychologe Daniel Kahneman in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ (München 2012). Das sogenannte schnelle Denken arbeitet mit Schätzungen und Heuristiken. Es vereinfacht, arbeitet mit auffälligen Ähnlichkeiten, ist mit wenig Information zufrieden und akzeptiert Ungenauigkeiten. Routinen werden unbewusst und stereotypisierend genutzt: persönliche, professionelle oder auch soziale Routinen. Das langsame Denken dagegen ist bewusst, logisch, bedacht, aber auch anstrengender und komplexer, wie folgendes pastorale Beispiel verdeutlicht.
Zu Weihnachten 2020 findet aufgrund der Corona-Beschränkungen ein Krippengang statt. Die Pastoralassistentin bereitet mit Ehrenamtlichen einen Stationen-Weg in der Kirche vor, der zur Besinnung und zum Mittun einlädt: Kerze anzünden, dem Weg folgen, Kerze an der Krippe abstellen, Karten mit Bitten beschreiben, an Pinnwand hängen, Segenswünsche mitnehmen, wieder gehen. Das langsame Denken hält inne: In den vier Stunden, die die Kirche offen ist, wird der vorbereitete Ort zum Raum der Eingeladenen. Die Gruppe, die zum Krippengang eingeladen hat, bleibt draußen vor der Tür. Erst danach wird das Team zu Gästen der Eingeladenen und nimmt in den Blick, was Orientierung gegeben hat und welche Richtung die Menschen eingeschlagen haben. Die angezündeten „Friedenslichter“ stehen in der ganzen Kirche, die Menschen haben sich selbst Orte gesucht, die sie erhellen wollen. Wenige Karten hängen an der Pinnwand, sie liegen stattdessen rund um die Krippe. Statt Bitten zu notieren, wurden Grüße und Erinnerungen an Menschen notiert, selbst ein Schreibgespräch fand statt. Die eingerollten Segenswünsche und Gebete waren wenig gefragt, mitgenommen wurden stattdessen viele der Friedenslichter.
Der Krippengang fand statt: nicht als professionelle Routine, sondern aufmerksam und bewusst als ein (An-)Teilgeben am kirchlichen Hausrecht und an der Deutungshoheit des pastoralen Raumes. Der Kirchraum gewann Bedeutung für die Begegnung mit dem Weihnachtlichen, dem Menschlichen und dem kindgewordenen Gott. Wahrnehmungskonstruktionen gelingen, so der Pastoraltheologe Jörg Seip, „indem sie zunächst sowohl den Gegenstand als auch seine Gewinnung streuen, dann aber vor allem die geübten Repräsentationen von Wirklichkeit stören.“[4] Das Langsame, Zögerliche, Wartende macht durchlässig für den Blick der anderen auf die Wahrnehmung einer Situation.
Wie überschreitet man den „Rubikon des Handelns“ ?
Eine Situation aufmerksam, langsam und aus dem Blick anderer wahrzunehmen, verlässt die Rolle des Zuschauenden. Wer durchlässig wird für die Bedeutung und Dynamik der Situation, wird hineingezogen, lässt sich involvieren, gibt Kontrolle ab. Dadurch gelingt der Sprung ins Handeln, der sich nicht abhalten lässt von der Vielfältigkeit, Komplexität, Widersprüchlichkeit und Verflüssigung unserer Lebenswelt. Dazu braucht es Ambiguitätskompetenz.
Dies beinhaltet drei Aspekte: Erstens die Widersprüche wahrzunehmen, zweitens diese deuten und einzuordnen zu können sowie drittens bei bestehender Ambiguität handlungsfähig zu sein. Ambiguitätskompetenz ist die kreative Fähigkeit des Individuums, Mehrdeutigkeiten in ein und demselben Objekt aufzunehmen und nicht durch polarisierendes Denken in Gegensätzen in den Griff zu bekommen oder durch harmonisierende Oberflächlichkeit zu nivellieren. Dann gilt es, sich dem zuzuwenden, was mir in dieser Situation klar wird bzw. als stimmig erscheint und mich ruhig werden lässt. Dies kann eine klare Positionierung in der Situation sein, eine Entscheidung, die die Situation verändert, ein unterstützendes Wort wie „Nur Mut!“ oder „Ich glaube Dir“ oder eine Selbstoffenbarung wie „Hier fehlen mir die Worte“, „Das macht mich hilflos“.
Ambiguitätskompetenz hilft, mit den Widersprüchlichkeiten kirchlicher Praxis umzugehen, ohne diese bestreiten, harmonisieren oder vorschnell auflösen zu wollen. Beziehungsorientiert bleibt der Andere im Blick und auf Augenhöhe, ohne sich zu identifizieren mit den Betroffenen und ihren Interessen, sich der Perspektive der Anderen zu ermächtigen oder für eigene Interessen zu funktionalisieren. Es macht Menschen empathiefähig, sprachfähig und dadurch handlungsfähig. Wer sich nur an der Sache orientiert, seine Deutungsmacht behalten will und sich z.B. – wie bei dem Thema Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche – auf den juristischen Diskurs zurückzieht, wird in der Beziehungsarbeit und damit am Anderen als Anderen scheitern.
Entschieden kirchlich-christliches Handeln
Das in SEINEN Augen Gerade tun gelingt nur durch das Aushalten dessen, was die Wirklichkeit uns zu bieten hat. Entschiedenheit hat ihren Ursprung in der Situation und einer Differenzerfahrung: der Not von Menschen, die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit, die Missachtung der menschlichen Würde und das Verletzen christlicher Werte. Entschiedenheit ist ein Weg, das grundlegende Nein in der Situation und die Empörung darüber in Handeln zu verwandeln.
Jean-Marc Chanton benennt – ausgehend von der Theologie Edward Schillebeeckx – solche Erfahrungen, die Handeln hervorrufen und aufrechterhalten, als tragende Erfahrung. „Tragende Erfahrungen können dialektisch (durchkreuzend), relational (strukturell entsprechend) oder reziprok (Erfahrung implizierender Glaube/Glaube als Erfahrung implizierende Wirklichkeit) auf den bisherigen Bewusstseinsstand einwirken.“[5]
Die beschriebenen Erfahrungen kann man den drei Handlungsformen der Entschiedenheit zuordnen: sich positionieren, sich entscheiden, sich solidarisieren. Als Ausdruck tragfähiger Glaubenserfahrung können sie glaubwürdiges christlich-kirchliches Handeln ermöglichen.
______
Dr. Marion Schwermer ist Theologin, Psychologin und Organisationsberaterin. www.wertimpuls.de
Photo: Rainer Bucher
[1] Buber, Martin, Rosenzweig, Franz, Die Schrift, Heidelberg 1994, z.B. 1Kön15,5+11; 1Kön22,43.
[2] Papst Franziskus, Wage zu träumen! Mit Zuversicht aus der Krise, München 2020, 59.
[3] Stichwort „Freischwebende Aufmerksamkeit“ im Lexikon der Psychologie, https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/gleichschwebende-aufmerksamkeit/5984, aufgerufen 13.05.2021.
[4] Jörg Seip, Der weiße Raum. Prologommena einer ästhetischen Pastoraltheologie, Freiburg/Br. 2009, 217.
[5] Chanton, Glaubenserfahrung, 16.
Weiterführend:
Marion Schwermer, Bestimmt handeln. Entschiedenheit aus christlicher Existenz im pastoralen Feld der Gegenwart. Eine empirische Untersuchung, Würzburg 2019