Die Kirche ist in der Krise, das ist kein Geheimnis. Inwiefern das Jesajabuch als Inspiration für eine Kirche in der Krise fungieren kann, erläutert Ulrich Berges.
Eine Kirche im Exil
Als ich vor fast 30 Jahren den damaligen Bischof von Münster, Dr. Reinhard Lettmann, fragte, wann die Katholische Kirche in Deutschland ins Exil käme, sagte er mir ohne Zögern: „Herr Berges, wir kommen nicht erst ins Exil, wir sind im Exil!“ Was damals womöglich noch als Schwarzmalerei abgetan werden konnte, hat sich spätestens seit dem Aufdecken der Missbrauchsskandale als die reine Wahrheit entpuppt. Niemand kann die dramatische Krise verleugnen, in der sich nicht nur die katholische Kirche, aber besonders sie in den deutschsprachigen Ländern und darüber hinaus in vielen Ländern der Welt befindet. Die Zustimmungswerte tendieren gegen Null, die Austrittszahlen sind gigantisch, die Kritik kommt nicht mehr nur von den Rändern, sondern von der innersten Mitte der Gemeinden, die Erosion trifft und betrifft den Kernbestand der Gläubigen, eine wahre Kernschmelze ist im Gange!
Wir kommen nicht erst ins Exil, wir sind im Exil!
Die pastoralen Programme vielen Diözesen können und wollen die Ursachen der Krise auch gar nicht bekämpfen, sondern sind ganz darauf angelegt, den Mangel zu verwalten, immer neue und größere „pastorale Räume“ zu kreieren, die nur zum Verlust der Eigenständigkeit und Identifikation mit der Kirche vor Ort führen und die Frustration der noch Gläubigen, der Engagierten, verstärken. Wenn Johannes Paul II. im Jahre 2000 im Apostolischen Schreiben „Novo Millennio Ineunte“ zur Neu-Evangelisierung an der Schwelle des neuen Jahrtausends aufrief, dann klingt das heute wie ein Ruf aus einer vergangenen Welt, die schon damals die Zeichen der Zeit nicht erkennen konnte oder wollte.
Nicht Aufbruch, sondern Abbruch steht über unserer Zeit, darüber können auch die zahlreichen Initiativen neuer geistlicher Gemeinschaften nicht hinwegtäuschen. Erst dort, wo der Abbruch, das Brechen und Zerbrechen von Traditionen als Zeichen des Exils anerkannt werden, kann die Wüste zum Ort der neuerlichen Gottesbegegnung werden. Wo das nicht geschieht, wo man versucht, neuen Wein in alte Schläuche zu gießen, wird alles verloren gehen, wird das trockene Land weiter dürsten, wird kein Weg in die Zukunft gebahnt, sondern verblendet der Selbstbetrug die Sicht auf das Neue, das allein der Gott Israels schaffen kann.
Nicht Aufbruch, sondern Abbruch steht über unserer Zeit
Das Jesajabuch als Reservoir der Inspiration
Das Jesajabuch, diese gewaltige Kathedrale aus prophetischen Worten vieler Jahrhunderte – von der assyrischen Bedrohung über die babylonische Zerstörung bis hin zur Restauration unter den Persern – bietet ein unendliches Reservoir der Inspiration für unsere Zeit des Exils, weil Jerusalem keine Zukunft haben wird, wenn es sich nicht zur eigenen Schuld der irrigen Gottesverehrung bekennt: „Eure Neumonde und Feste sind mir in der Seele verhasst, sie sind mir zur Last geworden, ich bin es müde, sie zu ertragen. Wenn ihr eure Hände ausbreitet, verhülle ich meine Augen vor euch. Wenn ihr noch so viel betet, ich erhöre es nicht. Eure Hände sind voller Blut“ (Jes 1,14f.).
Wer meint, diese Worte würden allein ins Gestern und nicht in das Heute hineinsprechen, hat von biblischer Inspiration nichts verstanden. Alle liturgischen Feiern müssen sich an der vorrangigen Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit messen lassen, sonst sind sie nicht Verehrung, sondern Blasphemie: „Lernt, Gutes zu tun! Sucht das Recht! Schreitet ein gegen den Unterdrücker! Verschafft den Waisen Recht, streitet für die Witwen“ (Jes 1,17). Nur dort, wo Zion und Jerusalem als Vorabbild von Kirche – ohne den Vorrang des jüdischen Volkes zu negieren – zum Ort einer solchen Gerechtigkeit für die ins Abseits Gedrängten wird, kann der Berg des Herrn zum Ziel der Völkerwallfahrt werden (Jes 2,2–5).
Wer meint, diese Worte würden allein ins Gestern und nicht in das Heute hineinsprechen, hat von biblischer Inspiration nichts verstanden.
Warum sollten sich heute Menschen für die Kirche, für die katholische Kirche in Deutschland interessieren, warum sollten sie gerade hier den Ort der Gottesbegegnung suchen, wenn Gutachterhonorare mehr dem Machterhalt dienen als dem Aufdecken von Verantwortungslosigkeit und Verirrung. Welche Weisung, welche Tora, geht von der Kirche aus, die mit Jesus Christus, dem gekreuzigten Juden, als lumen gentium, als Licht der Völker, leuchten soll? Wie müsste Kirche aussehen, damit die Nationen auf die Idee kommen, in ihr Gottes Tora der Gerechtigkeit, Geschwisterlichkeit und Gewaltfreiheit zu vernehmen?
Die Hoffnung auf die blühende Wüste
Das Jesajabuch, die Frucht der Exilserfahrung all derer, die durch den Schmelzofen des Elends, geläutert wurden, stellt schon zu Beginn eine Restgemeinde vor Augen, ohne die das Projekt JHWHs für Israel und die Völker nicht verwirklicht werden kann: „Hätte der Herr der Heerscharen für uns nicht einige Entkommene übrig gelassen, wir wären wie Sodom geworden, wir glichen Gomorra“ (Jes 1,9). Es sind diese „Wir“, die sich und das Haus Jakob auffordern, im Licht Gottes zu gehen (Jes 2,5). Sie sind der „heilige Same“, der aus dem Stumpf der gefallenen Eiche das Leben Israels neu fortsetzt (6,13). Dieser Rest sondert sich aber nicht etwa wie in Esra 9,2 von den Völkern ab, indem die Mischehen zwangsaufgelöst werden (vgl. Neh 9,2), sondern dieser heilige Rest ist der Knecht Gottes, der durch das Exil geläutert für Israel und die Völker zum Zeugen für den Rettungswillen und die Rettungskraft JHWHs wird (Jes 43,10).
Wer diesem Ideal des Gottesknechts nachfolgt, der gehört zu seinen Nachkommen (Jes 53,10; 54,17), den Knechten und Mägden Gottes, zu allen, die sich von JHWH in Dienst nehmen lassen. Die Kirche heute dagegen steht in der Gefahr, einen Rest zu produzieren, der sich selbst genügt, der das Draußen als Bedrohung wahrnimmt, der nicht die wundersame Verwandlung der Wüste bestaunt, sondern nur die eigenen Beete umsorgt. Wer schon einmal die Wüste hat blühen sehen, der wird voller Hoffnung bleiben, dass Gott seinen Geist wie rieselnde Bäche auf das ausgetrocknete Land bringen wird, so dass seine Sprösslinge zwischen Gras emporwachsen, wie Weidenbäume an Wasserläufen (Jes 44,3f.).
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Ulrich Berges
Ulrich Berges ist Professor für Alttestamentliche Exegese in Bonn.
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