Das Kreuz lässt sich nicht auf eine Werteordnung reduzieren, sondern ist ein Zeugnis derer, die es aufhängen. Es impliziert das Versprechen unbedingter Achtung der Menschenwürde für alle. Ein Beitrag zur Kreuzdebatte in Bayern von Ursula Nothelle-Wildfeuer.
Bayern sei Dank: Die Debatte um das Kreuz ist zurück. Das hat die bayrische Entscheidung vom 24.4. erreicht und vermutlich auch intendiert. In allen Behörden der bayrischen Staatsverwaltung werden ab dem 1. Juni Kreuze im Eingangsbereich hängen. Diese Kreuze, so erfahren wir vom bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder, seien allerdings kein religiöses Symbol des Christentums, sondern sie seien zu verstehen als „Bekenntnis zur Identität“ und zur „kulturellen Prägung Bayerns“.
Die kritischsten Stimmen kommen aus den Reihen der Christ*innen…
Eigentlich sollten wir Katholik*innen uns doch freuen. Endlich einmal eine positive Aktion in einer Zeit, in der ansonsten nur die Säkularisierung durchschlagenden Erfolg verzeichnen kann und in der die basalen Kenntnisse christlicher Kultur nahezu vollständig verloren gegangen sind. Weit gefehlt: Die kritischsten Stimmen kommen aus den Reihen der Christ*innen, ihrer offiziellen Vertreter*innen wie der „einfachen“ Gläubigen. Vom CSU-Generalsekretär Markus Blume erfahren wir dann auch, dass die Kritiker*innen alle eine „unheilige Allianz von Religionsfeinden und Selbstverleugnern“ bilden, denn „Wer ein Kreuz aufhängt, legt damit ein Bekenntnis ab und muss sich nicht rechtfertigen“ (Kempis 2018).
Das ist in der Tat richtig. Aber zwei zentrale Nachfragen sind an dieser Stelle dringend zu stellen. Zum einen: Wer hängt das Kreuz auf? Zum andern: Welches Bekenntnis ist gemeint und was beinhaltet es?
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Weltanschauliche und religiöse Abstinenz des Staates?
Wer ist der Akteur beim Aufhängen der Kreuze? Das Foto ist prestigeträchtig: Markus Söder, der Ministerpräsident des Freistaats, hat selbst den Hammer in der Hand. Und er verpflichtet die staatlichen Behörden, die Kreuze aufzuhängen. Der Staat also ist der Akteur. Wie aber ist das vereinbar mit der grundgesetzlich verbürgten weltanschaulichen und religiösen Neutralität des Staates? Der Staat will und kann „nicht letzte Antworten auf die Frage nach Ursprung und Ziel der menschlichen Existenz geben, nicht den Sinn menschlichen Lebens bestimmen“ (Kirchhof 1994, 651). Der Staat des Grundgesetzes hat folglich nicht mehr das ewige Heil und auch nicht das irdische Glück seiner Bürger*innen zu verantworten, dies ist jedem Einzelnen überlassen; der Staat garantiert seinerseits ausschließlich die dafür unabdingbare rechtliche Freiheit.
grundgesetzlich verbürgte weltanschauliche und religiöse Neutralität des Staates
An diesem Punkt der staatlichen Abstinenz in Fragen nach dem Sinn menschlichen Lebens konvergieren zwei sehr unterschiedliche Begründungslinien: Aus der Bestimmung des demokratischen Verfassungsstaates ergibt sich notwendig Zurückhaltung im Blick auf solche religiösen Fragen des Menschen, denn so Kardinal Karl Lehmann: „Wo […] der Staat das Letzte, End-Gültige verbindlich bestimmen will […] und die vollkommene, heile, endgültige Ordnung politisch zu realisieren anstrebt, da nimmt die gesellschaftlich-politische Auseinandersetzung eine Art von Kreuzzugscharakter an.“ (Lehmann 1993, 3.) Aus der Sicht des christlichen Glaubens legt sich von der Botschaft Jesu her ein „Ethos des Verzichts auf Gewissheit im Letzten innerhalb des Politischen“ (ebd.) nahe. Konkret bedeutet dies: In einer Zeit, in der die Gesellschaft noch weitgehend christlich geprägt war und es im Blick auf die religiöse Überzeugung noch eine vorherrschende starke christliche Orientierung gab, konnten auch in öffentlichen Gebäuden selbstverständlich christliche Symbole, allem voran das Kreuz hängen. Es entsprach der verbreiteten gesellschaftlichen Grundeinstellung. Die Zeiten aber sind vorbei. Inzwischen ist die bundesrepublikanische Gesellschaft weltanschaulich und religiös pluralistisch und individualisiert und somit das Christliche keine Selbstverständlichkeit mehr. Der religiös neutrale Staat kann niemanden zum Christentum und zum Aufhängen von Kreuzen verpflichten, und es scheint aus dieser Perspektive höchst problematisch, was in Bayern verfügt wurde. Nur nebenbei: Völlig zu Recht weist der Münchener Kollege Winfried Haunerland in einem Interview zur aktuellen Diskussion (vgl. Haunerland 2018) aber ebenfalls darauf hin, dass der Staat auch nicht einfachhin verfügen darf, dass religiöse Zeichen entfernt werden.
Der religiös neutrale Staat kann niemanden zum Christentum und zum Aufhängen von Kreuzen verpflichten.
Analoges wurde bereits vor mehr als zwanzig Jahren diskutiert, als es um das Kruzifixurteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts von 1995 zu den Schulkreuzen in Bayern ging und das Gericht deutlich die spezifisch christliche Deutung des christlichen Religions- und Glaubenssymbols herausgestellt hat. Dass bei dieser Argumentation der Senat allerdings eine – so Waldhoff u.a. – eindeutige Kompetenzüberschreitung vornimmt, sei hier nur am Rande vermerkt, wagt er sich doch an eine theologische Interpretation des Kreuzes und wahrt damit gerade nicht die oben bezeichnete Zurückhaltung in letzten Fragen. Vor dem Hintergrund einer auch noch einmal spezifisch auf die Schüler*innen abzielenden Argumentation kam dann das Bundesverfassungsreicht zu dem Urteil, dass das Anbringen von Schulkreuzen auch bei einer religiös-weltanschaulichen Ausrichtung der Schule die Grenzen überschreite.
Zurückhaltung [des Staates] in letzten Fragen
In der konkreten Umsetzung dieses Urteils kam es dann zu einer gerichtlich nicht mehr beanstandeten Praxis, die Kreuze so lange hängen zu lassen, bis konkrete Kritik daran geübt wurde. Dann muss im Einzelfall abgehängt oder ein Kompromiss gefunden werden. Damit aber ist – und das ist der für die aktuelle Frage ebenfalls entscheidende Punkt – die Debatte genau dorthin verlegt, wo sie hingehört: nämlich in die Gesellschaft. Der Staat entscheidet das nicht und ist schon gar nicht der primäre Akteur, vielmehr schafft er den nötigen Freiraum für religiöse Entscheidungen und Maßnahmen. Um nicht missverstanden zu werden: Dass gesellschaftliche Gruppierungen in ihren Einrichtungen, wenn diesbezüglich (noch) stillschweigend bzw. aktiv ausgehandelt eine gute und einvernehmliche Lösung besteht, Kreuze aufhängen können, steht für mich völlig außer Frage, ist sogar wünschenswert. Aber eben nicht der Staat sollte die Kreuze aufhängen, der Staat, der sich eine freiheitlich und weltanschaulich neutrale Verfassung gegeben hat. Es würde nämlich ansonsten auch unser bundesrepublikanisches Modell des Kirche-Staat-Verhältnisses, das sich mit autonomer Kooperation umschreiben lässt und das sich seit Jahrzehnten für beide Seiten bewährt hat, in eine Schieflage geraten.
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Das Kreuz primär als Versprechen und Zusage derer, die es aufhängen
Um welches Bekenntnis geht es? Wofür steht das Kreuz? Wenn man von außen auf dieses Zeichen schaut, dann sieht man ein schreckliches Folter- und Tötungswerkzeug der damaligen Zeit. Wir lesen ja schon im ersten Korintherbrief (1 Kor 1,18 ff), dass das Kreuz eine Torheit für die Heiden darstellt, dass es für die Juden ein Ärgernis ist und Gotteslästerung bedeutet. Die (weltlich gesprochen) Torheit des Kreuzes ist die Weisheit Gottes. Das Kreuz steht für das Zentrum der Botschaft des Evangeliums: Es steht für den Sohn Gottes, für Jesus Christus, der sich letztlich insbesondere für seine Parteinahme für die, die am Rande der Gesellschaft stehen, für die Armen, für die Vergessenen, für die Ausgegrenzten hat an das Kreuz nageln lassen. Mit seinem Kreuz und der Auferstehung, in der Gott die erlösende Botschaft des Kreuzes ratifiziert hat, hat er deutlich gemacht, dass es eine Wirklichkeit jenseits des hier und jetzt Greifbaren gibt, ein Leben über den Tod hinaus, eine Hoffnung, die alle Hoffnungslosigkeit überstrahlt. Dafür hat Jesus Christus sein Leben gegeben – von dieser Hoffnungsperspektive geben die Zeugnis, die ein Kreuz aufhängen. Von der Entschlossenheit, das Wahrwerden dieser Hoffnung nicht ins Jenseits zu verschieben. (Vgl. Werbick 2017.)
Zeugnis von der Entschlossenheit, das Wahrwerden dieser Hoffnung nicht ins Jenseits zu verschieben
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass im Fall des bayrischen Gesetzes die Aussage etwas anders gelagert ist: Das Kreuz wird instrumentalisiert. Ministerpräsident Söder macht es zum Logo für Bayern, zum Logo für Deutschland. Zugleich wird es zu einem Zeichen der Abgrenzung degradiert. Es wird ja nicht expressis verbis formuliert, was es eigentlich deutlich machen soll: Wir sind christlich und der Islam gehört nicht zu Deutschland. Die Debatte der letzten Wochen und den bayrischen Zungenschlag darin haben wir sicher noch im Ohr. Aber es schwingt in der neuen Bestimmung mit, wenn die Rede ist von Identität und von kultureller Prägung. Das jedoch verfehlt völlig den Sinn. Das Kreuz lässt sich nicht primär auf eine Werteordnung reduzieren. Sicher folgt etwa aus dem Kreuz ein grundlegendes Verständnis von Mensch, Welt und menschlichem Miteinander in der Gesellschaft. Der oben dargelegte Sinn dieses zentralen Zeichens bleibt nicht bedeutungslos für das Handeln in der Gesellschaft, für das Handeln jedes einzelnen.
Das Kreuz lässt sich nicht primär auf eine Werteordnung reduzieren.
Aber wir bringen das Kreuz nicht primär in der Öffentlichkeit irgendwo an oder hängen es auf, um etwas zu fordern von den Menschen, die dieses Kreuz sehen und die in dem Umfeld leben, wo das Kreuz Geltung beansprucht, sondern umgekehrt gilt: Wir hängen das Kreuz auf, weil es ein Versprechen unsererseits impliziert, eine Zusage derer, die es aufgehängt oder aufgestellt haben. Nämlich das Versprechen von Humanität und Menschenfreundlichkeit, Wertschätzung, Anerkennung, unbedingter Achtung der Menschenwürde für alle, Gerechtigkeit und Solidarität. Wer das Kreuz aufhängt, gibt die Zusage Gottes an uns Menschen weiter, der uns „in seinem Christus vor Augen geführt und erlebbar gemacht hat, dass er keinen Menschen verloren gibt, dass deshalb niemand – für niemand – quantité négligeable sein darf und sein muss“ (Werbick 2017).
Wir hängen das Kreuz auf, weil es ein Versprechen unsererseits impliziert.
Auf konkrete Politik bezogen heißt das: Wenn allen verfassungsmäßigen Erfordernissen Rechnung getragen ist und sich dann politischer Handlungsspielraum eröffnet, dann handeln die im Geist des Kreuzes, die „die Menschlichkeit Gottes ins Zentrum stell(en)“ (Söding 2013, 165), die „Humanität und Religiosität nicht als Gegensatz begreifen“ und die wissen, „dass sie diesen Weg (sc. der Kreuzesnachfolge) nicht für sich, sondern für andere gehen“ (ebd., 166). Werden „Opfer vertröstet, Tragödien verklärt und Nöte verbrämt“ (ebd., 165), dann ist im Zeichen des Kreuzes auch politisch Widerspruch anzumelden und nachhaltiges Engagement für Humanität gefordert.
Die Orientierung am Kreuz liefert sicher allein (noch) kein Rezept für Politik aus christlichem Geist und ersetzt beileibe nicht die Auseinandersetzung mit den konkreten politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen. Doch das Kreuz bedeutet eine unhintergehbare Verpflichtung und eine Zusage derer, die aus christlichem Geist politisch handeln wollen – und dies nicht nur für Bayern oder Deutschland.
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Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Professorin für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/Breisgau.
Beitragsbild: Pixabay
Literatur
Haunerland, W.: Eine Gesellschaft braucht Symbole. Online verfügbar unter https://mk-online.de/meldung/eine-gesellschaft-braucht-symbole.html, zuletzt geprüft am 30.04.2018.
Kempis, St. von: Söder verteidigt Kruzifix-Beschluss. Online verfügbar unter https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2018-04/soeder-bayern-kruzifix-kirche-streit-parteien.html, zuletzt geprüft am 30.04.2018.
Kirchhof, P. (1994): Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: J. Listl, D. Pirson (Hg.): Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Berlin, S. 651–687.
Lehmann, K. (1993): Die Funktion von Glaube und Kirche angesichts der Sinnproblematik in Gesellschaft und Staat heute, in: Ders. (Hg.): Glaube bezeugen, Gesellschaft gestalten. Reflexionen und Positionen. Freiburg, S. 15–39.
Söding, Th. (2013): Kreuzesnachfolge. Golgotha im Blickwinkel Jesu und seiner Jünger, in: J. Knop, U. Nothelle-Wildfeuer (Hg.): Kreuz-Zeichen. Zwischen Hoffnung, Unverständnis und Empörung, Ostfildern, S. 155–166.
Werbick, J. (2017): Mehr Werte? Um Himmels willen! Online verfügbar unter https://www.feinschwarz.net/mehr-werte-um-himmels-willen/, zuletzt geprüft am 06.03.2017.
Siehe auch:
“Holt das Kreuz von allen Türmen” – ein Kurzkommentar zur ‘Kreuzpflicht’ in Bayern