Ist das viel gehörte «Stabat Mater» von Giovanni Pergolesi ein Hymnus für die Karwoche oder zum Fest der Sieben Schmerzen Marias am 15. September? Kirchenmusiker beklagen das mangelnde Verständnis für geistliche Musik. Rolf Weibel schaut genauer hin.
Die Programmierung von Giovanni Pergolesis «Stabat mater» in einer Konzertreihe vor Ostern weise auf das mangelnde liturgische und hymnologische Verständnis eines Grossteils der Bevölkerung hin. Die einst übliche Verortung kirchenmusikalischer Werke werde nicht mehr beachtet und die geistliche Musik damit ein Opfer der Entkirchlichung, folgerte daraus der Verfasser eines Beitrags, der im Frühjahr auf dem Internetportal kath.ch erschienen ist.[1] Ist dieser negative Blick auf jene, die Konzerte veranstalten und besuchen, angemessen?
Mittelalterliche Passionsfrömmigkeit
Das hochmittelalterliche Reimgebet «Stabat mater dolorosa» wurde im 14. Jahrhundert bei Andachten und Prozessionen verwendet und kam erst im 15. Jahrhundert allmählich als Sequenz in die Messe und als Hymnus in das Stundengebet des Festes der Sieben Schmerzen Mariens. 1667 wurde dem Serviten-Orden erlaubt, dieses Fest am 3. Sonntag im September zu feiern. 1727 wurde es mit der Einführung eines gleichnamigen Festes am Freitag nach dem Passionssonntag in das Missale Romanum Pius‘ V. aufgenommen. Allgemein eingeführt wurde das Fest erst 1814 von Papst Pius VII. und 1913 schließlich auf den Tag nach Kreuzerhöhung, also den 15. September, verlegt. Theologiegeschichtlich betrachtet ist dieses Gebet ein Ausdruck mittelalterlicher Passionsmystik, und unter liturgietheologischer Rücksicht trägt es mehr «die Züge individueller Andacht… als eigentlich liturgisches Gepräge»[2].
theologiegeschichtliche und liturgietheologische Perspektive
Wo also ist die Sequenz «Stabat mater» ihrem historischen Ursprung gemäß zu verorten? Dabei geht es zunächst um die Frage der zeitlichen Verortung, denn die Kritik der Kirchenmusiker betrifft ausdrücklich auch die Zeit im Kirchenjahr: ein «Stabat mater» habe in der Fastenzeit nichts verloren, es gehöre in den Zusammenhang des «Gedächtnisses der Schmerzen Mariens» (so heißt das heute als Gedenktag begangene Fest vom 15. September). Ein Blick in die Geschichte zeigt dagegen, dass eine Aufführung des «Stabat mater» in der Fastenzeit keine abwegige Verortung ist. Dazu kommt, dass das «Stabat mater» als Hymnus zuerst und immer wieder auch außerhalb des liturgischen Rahmens verwendet wurde. Wer sich eine Verortung nur im Kontext des liturgischen Gedenktages der Schmerzen Mariens vorstellen kann, ist in eine fundamentalistische Falle getappt.
immer wieder auch außerhalb des liturgischen Rahmens
In analoger Weise wird man auch eine Bibellesung außerhalb des liturgischen Rahmens nicht auf die liturgische Leseordnung verpflichten wollen. Auf die Spitze getrieben würde eine verbindliche Synchronizität der persönlichen Bibellesung und der liturgischen Leseordnung beispielsweise Ignatianische Exerzitien obsolet machen. Denn Ignatius schlägt vor, in den vierwöchigen Exerzitien unter anderem den Evangelien entlang das ganze Leben Jesu zu betrachten. So müsste man in Exerzitien beispielsweise in der Adventszeit ungeachtet des Kirchenjahres erwägen, «was Christus Unser Herr in seiner Menschheit leidet oder leiden will» und der Übende müsste sich auch «anstrengen, zu leiden, zu trauern und zu weinen».
ein in Musik gesetzter Text gewinnt eine neue Qualität
Damit sind wir beim Kontext – sei es eines Hymnus, sei es eines biblischen Textes. Im Unterschied zum stillen Lesen oder zum Vortrag eines biblischen oder spirituellen Textes gewinnt ein in Musik gesetzter Text eine neue Qualität: die Musik «illustriert» den Text nicht, sondern gestaltet ihn eigenständig in einer anderen Sprache so, dass die musikalische Gestalt für sich stehen und wirken kann. Dieser Gestalt, diesem Klangbild begegnet der und die einzelne mit einem mehr oder weniger ausdrücklichen Vorverständnis, namentlich mit einem religiösen bzw. spirituellen oder einem kulturellen Selbstverständnis. Ein spirituelles Selbstverständnis kann Inhalte einer religiösen Tradition benennen und auf sich beziehen, während ein strikt kulturelles Selbstverständnis Daseinserhellung durch Kunst erfährt.
Compassio gestern und heute
In einem religiös ansprechbaren Hörer von Pergolesis «Stabat mater» können, ähnlich dem mittelalterlichen Passionsfrommen, Affekte der «compassio», des Mit-Leidens oder der Mit-Leidenschaft geweckt, körperliches oder seelisches Leiden, Schmerz und Trauer gefühlt werden, die schließlich mit der Sequenz in die Bitte münden könnten,
«dass die Seel sich mög erheben
frei zu Gott im ewgen Leben,
wann mein sterbend Auge bricht».
Auch einer kulturell ansprechbaren Hörerin wird die «compassio» nicht fremd sein, vor allem wenn sie ihre Jenseitsbezogenheit säkular in eine Diessseitsbezogenheit wendet. So kann sie an sozialverpflichtete Haltungen wie Solidarität, Kooperation, Kommunikation und Engagement für Menschen, die auf die Hilfe von Mitmenschen angewiesen sind, denken und darin bestärkt werden. Was aber im einzelnen Hörer, in der einzelnen Hörerin geweckt oder verstärkt wird, wird nicht von außerhalb vorgegeben: das ist ein Geschehen zwischen der Musik und ihrem Hörer und ihrer Hörerin, das entscheidet weder ein Liturge noch ein Kirchenmusiker, das entscheidet sich in der Begegnung der und des einzelnen mit der Musik.
Was aber im einzelnen Hörer, in der einzelnen Hörerin geweckt oder verstärkt wird, entscheidet sich in der Begegnung mit der Musik.
Wie zahlreiche andere lateinische Hymnen verdient es auch die «compassio» des «Stabat mater», nicht nur im christlichen, sondern auch im kulturellen Gedächtnis gehalten zu werden. Nun ist es offenkundig, dass es in unseren Breitengraden um das christliche Gedächtnis nicht gut bestellt ist. Das hat gewiss auch mit dem zu tun, was zuweilen undifferenziert als Entkirchlichung bezeichnet wird. Die «compassio» des «Stabat mater» hat nämlich zwei Dimensionen: die menschliche stellt empathisch die Frage:
«Ist ein Mensch auf aller Erden,
der nicht muss erweichet werden,
wenn er Christi Mutter denkt…»
Die theologische Reflexion antwortet auf einer anderen Ebene:
«Ach, für seiner Brüder Schulden
sah sie ihn die Marter dulden…
Dass ich weiß, was ich verschuldet,
was dein Sohn für mich erduldet…»
Diese kreuzes- bzw. erlösungstheologische Grundierung der «compassio» unterscheidet das kulturelle vom christlichen Verständnis der darin zum Ausdruck kommenden Empathie. Ähnlich wird ein kulturelles Gedächtnis das «Stabat mater» als Paradigma einer überzeitlich gültigen «compassio» bewahren, während einem christlichen Gedächtnis darüber hinaus auch an einer persönlichen Verbundenheit mit dem Kreuz als «signum salutis – Zeichen des Heils» gelegen ist.
Die «compassio» des «Stabat mater» hat eine menschliche und eine theologische Dimension.
Wenn nun ein Konzertveranstalter beispielsweise Pergolesis «Stabat mater» programmiert, werden ihm kulturell Interessierte und Engagierte zweifellos dankbar sein. Denn so wird die «compassio» der Sequenz zumindest mit der Musik im Gedächtnis gehalten. Dass ein Konzertveranstalter genügend Eintritte benötigt, um die Kosten einer Aufführung decken zu können, ist dabei nicht anrüchig. Auch ein Kirchenchor müsste für die Kosten, welche die Aufführung beispielsweise von Pergolesis «Stabat mater» für ihn verursachen würde, aufkommen.
Wer mit der Institution Mühe hat, von ihrer Botschaft aber nach wie vor angesprochen wird, weicht vielleicht auch einmal in einen Konzertsaal aus.
Eine spirituell ansprechbare Hörerin, ein spirituell ansprechbarer Hörer wird hinter der musikalischen Gestalt auch das deutende Wort vernehmen, aufnehmen und im Gedächtnis behalten können. Dass die Musik im Rahmen eines Konzertes und nicht im Rahmen eines Gottesdienstes erklingt, hat gewiss auch mit einer Entfernung der Menschen von der Institution Kirche zu tun. Wo sie zur «compassio», zum Mit-Leiden aufruft, ruft sie gerade auch heute in Erinnerung, wie sie selber «passio», Leiden verursacht hat. Wer mit der Institution Mühe hat, von ihrer Botschaft aber nach wie vor angesprochen wird, weicht vielleicht auch einmal in einen Konzertsaal aus. Wenn die Musik dort Inhalte der christlichen Botschaft zum Klingen und so zum Hören bringt, ist es geistliche Musik. Wo der Umstand kritisiert wird, dass es außerhalb der kirchlichen Liturgie geschieht, kann ich nur Paulus zitieren: «Doch was soll’s! Es geht doch einzig darum, dass so oder so, aus echten oder unechten Motiven, Christus verkündigt wird, und darüber freue ich mich» (Phil 1,18).
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Rolf Weibel, Dr. theol., war Redaktionsleiter der «Schweizerischen Kirchenzeitung» und arbeitet nachberuflich weiterhin als Fachjournalist.
Bild: Giovanni Battista Pergolesi, Stabat Mater Autograph / Wikimedia Commons
[1] https://www.kath.ch/newsd/kirchenmusiker-sehen-geistliche-musik-als-opfer-der-entkirchlichung/
[2] Josef Andreas Jungmann, Missarum sollemnia, Band 1, Wien 41958, 561.