Über die Praxis als Königsweg des Lernens und der Bildung. Wie dies im Jugend- und Bildungshaus St. Arbogast konkret wird, schildert der Leiter des Hauses, Josef Kittinger.
„Ich wundere mich, dass nicht mehr Leute den Bus benutzen“ sagt eine Kursteilnehmerin, als sie heute morgens mit mir aus dem Bus aussteigt und die dreihundert Schritte von der Bushaltestelle zum Bildungshaus zu Fuß geht. „Für mich ist das Busfahren eine besinnliche Zeit. Und ich komme rechtzeitiger an, als die Autofahrer und kann vor Kursbeginn noch in Ruhe einen Kaffee trinken.“ Ich pflichte ihr bei. Die Reisezeit von zu Hause zur Arbeitsstelle und zurück ist eine willkommene „Schwellenzeit“, in der sich aus der Stille des Morgens heraus die bevorstehenden Aufgaben des Tages allmählich abzeichnen, aber noch nicht aufdrängen, sondern sich noch von innen heraus fast von selbst ordnen. In dieser entspannten Wachheit, die etwas von der Qualität der Meditation in sich hat, fallen mir oft die besten, das heißt lebensnahen, selbstverständlichen oder überraschenden Ideen und Herangehensweisen zu den Aufgaben des Tages ein.
So sind mir heute auch die Eckpunkte eingefallen, die ich für diesen Beitrag wähle. Die Einladung lautete, etwas zur Praxis ökologischer Nachhaltigkeit im Jugend- und Bildungshauses St. Arbogast in Vorarlberg zu schreiben. Der Anlass sind die Welt-Klimakonferenz in Paris und für mich als berührende und willkommene „Hintergrundmusik“ die Enzyklika Laudato si´ von Papst Franziskus.
In unserem Leitbild haben wir in unsere Werthaltungen in Bezug auf ökologisches Wirtschaften seit über zwanzig Jahren so ausgerichtet:
- Wir verfolgen in allen Bereichen eine ökologische Grundlinie: Energiesparen, Energiegewinnung aus Sonne, Biomasse und Abwärme, Wassersparen und Regenwassernutzung, regionaler Einkauf, Lebensmittel von Biobauern, umweltfreundliche Mobilität, Abfallvermeidung, natürliche Gartengestaltung u.a.
- Wir haben nicht nur die kurzfristigen Kosten im Auge, sondern auch die Umwelt und das Leben kommender Generationen und anderer Regionen. Dies ist Ausdruck der Achtung vor allem Leben und der ganzen Schöpfung.
- Wir beteiligen uns an der bewusstseinsbildenden und politischen Arbeit zur dementsprechenden Veränderung der Rahmenbedingungen.
Vom Handeln zum Wissen
In der Arbeitsweise folgen wir einer erfahrungs- und handlungsorientierten Pädagogik. Sowohl für unser Wirtschaften als auch für unsere Bildungsarbeit gilt: „Was wir tun, sagt mehr, als was wir sagen. Wie wir sind, wirkt mehr, als worüber wir reden.“ Orte wie Bildungshäuser, aber eigentlich alle Bildungseinrichtungen und Organisationen, haben ja die Möglichkeit und die Aufgabe, die Werte und Haltungen, die sie lehren, in eine konkrete Praxis und Kultur zu formen. Immer haben wir einen Spielraum, unseren Werten entsprechend zu entscheiden und zu handeln. Manchmal ist er winzig klein. Wenn aber die Umstände und der richtige Zeitpunkt gekommen sind, dann kann eine scheinbare kleine Entscheidung und Handlung große Wirkung haben.
Ich erzähle hier kurz von einigen aktuellen Beispielen, wo wir unseren Handlungsspielraum im Sinne sozialer und ökologischer, globaler und regionaler Verantwortung nutzen. Das gibt Sinn und bereitet Freude. Freude ist meines Erachtens ein guter Gradmesser für stimmige Handlungen, wiewohl auf dem Weg dorthin oft nüchterne Analyse und Entschiedenheit notwendig sind. Und der Mut zum Experiment und Fragment.
Café por la paz
Friedenskaffee in Arbogast. Ein Kooperationsprojekt im Rahmen der Lernpartnerschaft „Nord-Süd“. 260 Familien in La Union/Kolumbien liefern uns jetzt direkt einen exzellenten handverlesenen biologischen Hochlandkaffee, der in Dornbirn frisch geröstet wird. Kaffee trinken verbindet! Fairness ist der Weg. „Wir wollen keine Hilfsprojekte. Wir haben viel zu geben. Wir brauchen nur eine faire Chance“, sagt Danilo Ortiz, der als Gastkünstler in Arbogast wohnt und arbeitet. Das Schwesterprojekt dazu ist sein Kunstprojekt „Escultura por la paz“, ein 17 m hoher Halb-Bogen für einen zentralen Platz in Pasto / Kolumbien mit der hundertfachen, vielsprachigen Inschrift „Möge Frieden auf Erden sein“. Hergestellt aus eingeschmolzenen Waffen, die von Freiheitskämpfern abgegeben wurden.
Gutes Leben schmecken
Das miteinander Essen spielt eine zentrale Rolle in unserem Leben, folglich auch in einem Bildungshaus. Unsere Küche ist seit langem der Philosophie der internationalen Slow-Food-Bewegung zugetan: Saisonal, regional, biologisch, fair, gut, gastfreundlich. Die 7000 Jugendlichen und 20.000 Erwachsenen, die jährlich nach Arbogast kommen, erfahren sinnlich-konkret, wie gutes Leben für alle schmeckt. Ein besonderer Slow-Food-Abend fand kürzlich statt: Acht junge Spitzenköche, die in Vorarlberg bei ihrem wertschätzenden Lehrer Wolfgang Ponier ihre Ausbildung erhielten und jetzt weltweit in renommierten Restaurants tätig sind, bereiteten ein siebengängiges Menü für 100 Gäste eines Sponsoring-Abends. Gratis, als ihren Beitrag für das Jugendgästehaus, das 2016 generalsaniert wird.
Die Bedürftigen sind unsere Freunde
Flüchtlinge aus Syrien kommen wöchentlich nach Arbogast zum Deutsch lernen, noch mehr aber, um nach all dem Erlebtem an einem friedlichen Ort anzukommen. Freundschaftliche Kontakte auf Augenhöhe wachsen. Wir haben einander viel zu geben. Der 17jährige Edwar ist begeisterter Koch und arbeitet gelegentlich in der Küche mit und wird vielleicht bei uns die Koch-Lehre machen. Simeon, ein junger Mitarbeiter im Haus, Musiker, organsiert mit seinen Freunden ein Konzert. Eintritt: ein Strickpullover oder ein anderes warmes, schönes Kleidungstück für Flüchtlinge. Demnächst erproben Mitglieder der Forschungsgruppe des Dialogprojekt Arbogast mit Flüchtlingen den Kreisdialog, trotz sprachlicher Begrenzung. Der persische Sufi-Mystiker Dschalal ad-Din ar-Rumi ist ihnen nicht fremd und verbindet uns mit seinem Wunsch: „Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort, da will ich dich treffen.“
Jede und jeder hat Talent
Viele Talente sind verborgen und werden vergraben, weil sie nicht wertgeschätzt und am geldgesteuerten Markt nicht nachgefragt werden. Tauschkreise sind selbstorganisierte Initiativen, wo verborgene Talente sichtbar werden. Sie sind ein Experimentierfeld regionaler, gemeinwohlorientierter Formen des Wirtschaftens. Der Tauschkreis „Talente Vorarlberg“ wurde vor zwanzig Jahren in St. Arbogast gegründet. Seit damals können Menschen Kurse des Bildungshauses auch ohne Euro besuchen und die Teilnahme an einer Bildungsveranstaltung mit eigenen Talenten ausgleichen.
Von wegen Utopie
Ein Highlight im Bildungsprogramm des Jugend- und Bildungshauses ist das biennale Bildungsfestival „Tage der Utopie“. Internationale Fachleute stellen ihre „Entwürfe für eine gute Zukunft“ vor und für den Dialog zur Verfügung. Begleitet werden die Festivalabende und Workshops von Uraufführungen von Auftragskompositionen zeitgenössischer Musik. Mehr als 1300 Menschen folgten jeweils der Einladung. Die Utopie wagt, unerprobt, zerbrechlich, experimentell, ergänzungsbedürftig, manchmal scheinbar geradezu mickrig gegenüber der festverankerten Realität, einen Perspektivenwechsel. Dadurch, dass die Utopie sich nicht darauf konzentriert, ein bestehendes System zu kritisieren, ist sie in der Lage, sich von dessen Logik unabhängig zu machen. Sie wechselt das Feld. Sie setzt nicht auf die verbesserte Organisation des Mangelsystems. Sie beginnt mit der gefährdeten Besiedlung des „Morgenlandes“, eines Ortes, der in der Geschichte immer der war, den wir später dann bewohnten.
Die Visionen, Vorträge, Musik, Gespräche inspirieren zu konkretem Handeln im Alltag und pro-vozieren Eigeninitiativen. Im Rahmen der „WIRKstätten der Utopie“ werden von Festivalbesucherinnen und -besuchern Umsetzungsideen eingereicht. Einige vielversprechende werden bei der Umsetzung von der Idee zum Prototypen professionell begleitet.
Wähle also das Leben
„Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, hör auf seine Stimme, und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben.“ (Dtn 30,19). Wie immer die Umstände unseres Lebens sind: Wir haben eine Wahl, wir haben im Kleinen wie im Großen einen Entscheidungs- und Handlungsspielraum. Gleichzeitig ist es gut, nicht zu meinen, wir hätten das Leben im Griff. Vielmehr sollen wir wach sein, auf „seine“ Stimme, auf die Stimme des Lebens hören – sie ist jedem und jeder unmittelbar zugänglich – und uns dem göttlichen Geheimnis anzuvertrauen. Mit unserer Bildungsarbeit und unserem Wirtschaften wollen diesen Raum der Freiheit und des Vertrauens hüten und pflegen, die Spielräume bewusst machen, offen halten und erweitern.
Josef Kittinger, Mag. theol., Leiter des Jugend- und Bildungshauses St. Arbogast in Götzis, Vorarlberg.Vgl. auch www.tagederutopie.org; Bild: Homepage St. Arbogast