Wie würde angesichts aktueller Entwicklungen der Nahrungsaufnahme heute wohl das Letzte Abendmahl aussehen? Stefan Gärtner macht einen kritischen Blick auf heutige Essgewohnheiten und plädiert dafür, dass Essen mehr meint als die Aufnahme von Kalorien.
Wäre Jesus im Silicon Valley geboren worden – das Letzte Abendmahl würde ausfallen. Das hat ausnahmsweise einmal nicht Donald Trump zu verantworten. Es geht darum, dass im hippen Kalifornien Essen zunehmend aus der möglichst effektiven Aufnahme von Kalorien besteht. Essen macht satt – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Zeit für ein freundschaftliches Tafeln in einem Restaurant bleibt nur selten, Zeit um selber zu kochen und Gäste zu empfangen, gibt es gar nicht. Essen und Trinken ist im Silicon Valley beschleunigt und entzieht sich den vertrauten Rhythmen von Frühstück, Mittag- und Abendessen.
Man stillt seinen Hunger flexibel zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Möglich machen dies unter anderem die sogenannten Soylent-Drinks nach dem englischen soy (Soja) und lentil (Linse). Der amerikanische Softwareentwickler Rob Rhinehart hat sie als erfolgreiches Crowdfunding-Projekt 2014 auf den Markt gebracht. Es handelt sich um ein Fertiggetränk beziehungsweise um ein Pulver, das alle wichtigen Nährstoffe enthält. Was für den Menschen schädlich ist, kann so vermieden werden. Das passt zur Selbstoptimierung im Silicon Valley: nur wer gesund ist, ist leistungsfähig. Außerdem spart jemand mit den Soylent-Drinks viel Zeit. Man stillt seinen Hunger flexibel zu jeder Tages- und Nachtzeit. Zudem ist alles vegan und Laktose-frei, und Allergiker müssen keine Angst vor unerfreulichen Überraschungen haben. Food that frees you, so das Werbeversprechen der Firma. Alles lecker also?
Es gibt keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr, sondern nur noch eine individuelle Nahrungszufuhr.
Wer sich auf diese Weise ernährt, verhindert, dass die Nahrung nach der Aufnahme zunächst durch den Speichel im Mund angereichert wird. Dies ist nicht gut für die Verdauung und spricht übrigens auch gegen die populären Smoothies. Der Geschmackssinn verkümmert ebenfalls. Außerdem ist die Frage, welche Langzeitwirkungen eine solche Ernährung hat. Wichtiger als die medizinische Seite ist aber, dass der Soylent-Drink das Essen nicht nur beschleunigt, sondern auch vereinzelt. Es gibt keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr, sondern nur noch eine individuelle Nahrungszufuhr.
Das perfekte Dinner kann nie gelingen, solange die Teilnehmenden um eine bessere Bewertung streiten.
Gleiches gilt auch für das Fastfood am Arbeitsplatz, das ständige Essen und Trinken unterwegs (noch vor wenigen Jahren trug niemand eine Wasserflasche mit sich herum) und es ist Realität in vielen Familien. Zwar gibt es die Bioenthusiasten, den Kaffeekult, das bewusste Slowfood und die Kochbegeisterung junger Menschen. Das ist die Gegenbewegung zum beschleunigten und entrhythmisierten Trinken und Essen. Auch das Fernsehen geht in Kochsendungen auf diesen Gegentrend ein und pervertiert ihn gleichzeitig. Denn das Zubereiten von Nahrung oder das gemeinsame Mahl bekommt hier Wettbewerbscharakter. Das perfekte Dinner, so der Name einer der Sendungen, kann nie gelingen, solange die Teilnehmenden um eine bessere Bewertung streiten.
Essen und Trinken haben symbolische Qualität
Essen und Trinken sind nicht nur biologische Notwendigkeiten, sondern sie haben darüber hinaus eine symbolische Qualität. Das gilt sogar für die alleinige Nahrungsaufnahme. Ein Grundbedürfnis wird gestillt, was den Einzelnen oder die Einzelne mit anderen Menschen und sogar mit allen Lebewesen verbindet. Die Todesbedrohung durch den Hunger und Durst wird abgewendet. Essen und Trinken tut gut, tröstet und befriedigt.
Es kann Erinnerungen hervorrufen, wie bei dem jungen Soldaten, von dem Heinrich Böll in seiner Erzählung Der Zug war pünktlich berichtet. Er ahnt, dass er dem sicheren Tod entgegenfährt. Bei seiner Henkersmahlzeit wird eine Flasche Sauternes getrunken. Der süße Weißwein löst bei Andreas Erinnerungen an seine Zeit in Frankreich aus. „Ich habe ein unglückliches Leben gehabt … ein verfehltes Leben, wie man so sagt, ich habe gelitten jede Sekunde unter dieser scheußlichen Uniform, und sie haben mich totgeschwätzt und sie haben mich bluten gemacht auf ihren Schlachtfeldern, richtig bluten, dreimal bin ich verwundet worden auf den Feldern der sogenannten Ehre (…) und zwölf Stunden oder elf Stunden vor meinem Tod muss ich einsehen, dass das Leben schön war. Ich habe Sauterne getrunken…“[1]
Ein ausführliches Mahl unterbricht den Alltag und schafft eine Insel der Zweckfreiheit in einem Meer des Müssens.
Noch deutlicher wird der symbolische Mehrwert des Trinkens und Essens, wenn es um das gemeinsame Mahl geht. Ich habe während meiner Studienzeit eine Zeitlang in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche gelebt. Dort war die Regel, dass die Erwachsenen, die ansonsten konfliktreich ihren Daumen auf alles und jede(n) drückten, beim Essen die Jugendlichen am Tisch bedient haben. Das war ein eindrückliches Zeichen. Gemeinsam zu essen kann versöhnen; es stiftet und erhält Gemeinschaft. Ein ausführliches Mahl unterbricht den Alltag und schafft eine Insel der Zweckfreiheit in einem Meer des Müssens. Gemeinsamer Genuss erfreut und entspannt. Wer zusammen gegessen und getrunken hat, lässt den anderen oder die andere danach eher so sein, wie er oder sie ist.
Es ist kein Zufall, dass dieser symbolische Gehalt mit der Eucharistiefeier in eines der Sakramente eingegangen ist. Das Zeichen wäre allerdings noch eindrücklicher, wenn der Mahlcharakter dieser Feier deutlicher wäre, wenn also das Brot als Brot erkennbar wäre und der Wein an alle gereicht würde (und dabei leckerer wäre als der approbierte Messwein). Das scheint umso wichtiger zu sein in einer Zeit, in der sich die Gewohnheiten von immer mehr Menschen vom Verweischarakter des Essens und Trinkens verabschieden. Das gilt trotz der genannten Gegentendenzen. Dadurch gerät langsam in Vergessenheit, was diese über die Nahrungsaufnahme hinaus bedeuten können. Hierdurch wird auch das Verständnis für den Zeichencharakter des gemeinsamen Essens und Trinkens während der Liturgie geschwächt. Das Letzte Abendmahl würde heute ausfallen.
[1] Heinrich Böll, Der Zug war pünktlich, Frankfurt/M./Berlin 1958, 93f.
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Autor: Dr. Stefan Gärtner ist Assistent Professor in Tilburg
Bild: pixabay