Das Oratorium „Der Messias“ von Georg Friedrich Händel (1685–1759) ist in vielerlei Hinsicht etwas ganz Besonderes. Und das liegt nicht nur an Händels Musik. Großen Anteil daran hat der Librettist Charles Jennens (1700—1773). Ihm gelang mit dem Libretto des „Messias“ so etwas wie der Bau einer weithin sichtbaren Kirche. Von Elisabeth Birnbaum.
Der Grundriss: Das Glaubensbekenntnis
Der Grundriss von Jennens‘ Kirche ist außergewöhnlich. Der „Messias“ ist nicht, wie die meisten Oratorien, eine Art konzertante geistliche Oper. Es gibt keine handelnden Personen, weder Maria, noch Johannes der Täufer, die Jünger oder Pontius Pilatus kommen vor. Es gibt keine Dialoge oder Szenen. Und obwohl der „Messias“ Geburt, Leben und Tod des Messias thematisiert, bietet er keine Biografie Jesu entlang der Evangelien. Dem Wirken Jesu auf Erden ist kaum ein Halbsatz gewidmet. Der erste Teil setzt weit vor der Geburt bei der prophetischen Vorankündigung des Messias an. Der dritte Teil greift weit über Jesu Himmelfahrt hinaus, auf die Auferstehung aller Menschen beim Jüngsten Gericht. Zudem endet das Werk mit einem Amen.
Der Grundriss des „Messias“ inspiriert sich … am nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis.
Der Grundriss des „Messias“ inspiriert sich somit nicht an einem der Evangelien, sondern an einem Glaubensbekenntnis, genauer: am nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis, besser bekannt als „Credo“ jeder musikalischen Messe. Es weist gegenüber dem kürzeren, heute gebräuchlicheren Apostolischen Glaubensbekenntnis einige Zusätze auf, etwa die Formulierung: „Gott von Gott, Licht von Licht“. Beides sind Aspekte, die im ersten Teil des Oratoriums besonders akzentuiert werden.
Die Verbindung von Hag 2 und Mal 3 in den Nummern 5-7 etwa lässt den Messias mit dem Kommen Gottes in seinen Tempel verschmelzen. Die Zusammenstellung von Jes 40; Jes 60 und Jes 9 in den Nummern 8-10 betont, dass Jesus „Licht vom Licht“ ist.
Der Baustil: Verkündigung des Glaubens
Der Baustil von Jennens‘ Kirche ist dem Grundriss entsprechend nicht erzählend, sondern verkündigend, bekennend und beweisend.
Jennens steht hier in der Tradition der frühen Kirchenschriftsteller, die den Glauben an den Messias mit Schrifttexten belegten und rechtfertigten, allerdings ohne deren Polemik zu übernehmen. Der gelegentlich vorgebrachte Vorwurf des Antijudaismus des „Messias“ wird m.E. der Intention Jennens‘ nicht gerecht. Das zeigt sich schon daran, dass gerade die sonst einschlägig antijüdisch missbrauchten Textstellen (z.B. Hag 2,9) fehlen. Jennens‘ „Messias“ ist ein Glaubensmanifest, ein selbstbewusstes, freudiges Bekenntnis des christlichen Glaubens, keine Kampfschrift.
Die Bausteine: Bibeltexte
Die Bausteine, die Jennens verwendet, um diese Kirche aufzubauen, sind ausschließlich Bibeltexte. Weder in den Rezitativen noch in den Arien kommen beschauliche Eigentexte vor wie z.B. in Haydns Schöpfung oder in den Passionen Bachs. Das ist für ein Oratorium zwar nicht einzigartig, aber doch keineswegs selbstverständlich. Und selten sieht man eine derart durchdachte Auswahl an Bibeltexten in einem Oratorium.
… selten sieht man eine derart durchdachte Auswahl an Bibeltexten in einem Oratorium
Zum einen sind alle Bibeltexte innerbiblisch verflochten: Die zitierten alttestamentlichen Texte werden durchwegs im Neuen Testament wieder aufgenommen und die zitierten neutestamentlichen Texte spielen auf alttestamentliche an. Ein besonderes Kunststück gelingt Jennens, wenn er so gut wie die gesamte Passion, den Tod und die Auferstehung Jesu verkündet, ohne einen neutestamentlichen Text zu verwenden.
Zum anderen sind die Texte eng mit der kirchlichen Tradition verbunden:
Der Mörtel: Die frühanglikanische Tradition
Der Mörtel, der die Bausteine der Bibeltexte nach dem Grundriss des Glaubensbekenntnisses im Stile einer Verkündigung zusammenfügt, ist die anglikanische Tradition, wie sie im Common Book of Prayer vorgegeben ist. Dieses Buch ist Gebetsbuch, Katechismus und Lese- und Gottesdienstordnung in einem. Die Bibeltexte des Librettos sind der Leseordnung entnommen und spiegeln auch den kirchlichen Jahreskreis. Sie beginnen mit Texten um Advent und Weihnachten und enden mit Texten der Allerheiligenliturgie.
Jennens, als Nonjuror und damit Anhänger der high church, orientierte sich allerdings an der ersten Fassung des Common Book of Prayer von 1549, die im Vergleich zur damals aktuellen Fassung von 1662 noch „katholischer“ ausgerichtet war.
Jennens orientierte sich an der ersten Fassung des Common Book of Prayer, die … noch „katholischer“ ausgerichtet war
Die bedeutendsten Veränderungen in der jüngeren, „protestantischeren“ Fassung sind: die Verlegung des „Gloria“ an das Ende des Gottesdienstes, der Entfall des „Agnus Dei“ vor der Kommunion sowie der Entfall von Eucharistiefeier und Kommunionempfang in der Begräbnisliturgie. Es fällt daher um so mehr auf, dass Jennens gerade diese umstrittenen Elemente in den „Messias“ eingearbeitet hat.
Das „Agnus Dei“ findet seinen Ort am Beginn des 2. Teils mit dem Chor: „Behold the lamb of God“ (Joh 1,23). Und im dritten Teil des Oratoriums, der sich an der anglikanischen Begräbnisliturgie orientiert, wird Röm 8,31.33-34 zitiert. Diese Verse dienen im Common Book of Prayer 1549 als Postkommunion-Texte und stellen somit den Konnex zur älteren „katholischeren“ Begräbnisliturgie her, die ja eine Kommunionfeier beinhaltet.
Vielleicht lag es ja auch an solchen katholisierenden Textteilen, dass der „Messias“ bei seiner Uraufführung in Dublin hymnisch gefeiert, in London jedoch kritisch beäugt wurde.
Diese vier Besonderheiten des „Messias“ bilden also die vom Libretto errichtete Kirche, die weithin sichtbar Jesus als den Messias verkünden soll.
Und die Kirchenglocken
Zu guter Letzt braucht eine Kirche Kirchenglocken, die mit ihrem wohltönenden Klang Menschen von weither neugierig machen und zum Kirchgang einladen sollen. Und diese Kirchenglocken fand Jennens in der begnadeten Musik Händels.
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Bildnachweis: wikimedia commons
Buchhinweis: Elisabeth Birnbaum, Messias von Georg Friedrich Händel (bibel&musik), Stuttgart 2016.
Elisabeth Birnbaum, Wien, ist promovierte Alttestamentlerin und seit 2017 Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks.