„Das Martyrium der Schöpfung“ und „Die Anästhesie der Menschen“ – beide Ausdrücke sind Wortschöpfungen des 2013 verstorbenen Philosophen und Schriftstellers Jean Bastaire. Im Blick auf die Klimakonferenz in Paris geht Anton Rotzetter den Gründen und Hintergründen des Verhältnisses von Mensch und Schöpfung nach.
Ein Leben lang hat sich der Franzose Jean Bastaire mit Fragen einer christlichen und franziskanischen Ökologie beschäftigt und die allgemeine Empfindungslosigkeit vor allem auch der Christen gegenüber dem Martyrium der Schöpfung beklagt.
Martyrium
Dass die Erde Opfer menschlicher Machenschaften ist und darunter leidet, sagt auch die päpstliche Umwelt-Enzyklika Laudato si. „Diese Schwester [Erde] schreit“, sagt der Papst und fügt hinzu: „Darum befindet sich unter den am meisten verwahrlosten und misshandelten Armen diese unsere unterdrückte und verwüstete Erde“ (Abschnitt 2). Er beklagt, dass der Einsatz von „-ziden“, von Tötungsmitteln die ausschliessliche Lösung landwirtschaftlicher Probleme geworden ist und so oft noch mehr Probleme schafft (Abschnitt 20). Er beschreibt auf wissenschaftlich genaue Weise den Zustand unseres Planeten, der durch Macht, Gier und egoistische Ausbeutung der Ressourcen je länger je mehr zu einem Ort des qualvollen Leidens und Sterbens geworden ist.
„Darum befindet sich unter den am meisten verwahrlosten und misshandelten Armen diese unsere unterdrückte und verwüstete Erde.“ (Laudato si, 2)
Dabei äussert der Papst eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus, am einseitig ökonomischen Denken, am Konsumismus, aber auch an den Politikern, die immer noch primär ihre nationalen Interessen vertreten und so internationale und wirksame Entscheidungen zu Gunsten der Schöpfung ganz allgemein und des Klimas im Besonderen blockieren. In seiner Rede vor der UNO spricht er sogar von der Möglichkeit, dass der Mensch sich selber eliminiert: „Die ökologische Krise könnte zusammen mit der Zerstörung eines grossen Teils der biologischen Vielfalt die Existenz der Spezies Mensch selbst in Gefahr bringen. Die unheilvollen Auswirkungen einer unverantwortlichen Zügellosigkeit der allein von Gewinn- und Machtstreben geleiteten Weltwirtschaft müssen ein Aufruf zu einer ernsten Reflexion über den Menschen sein.“1
Anästhesie in Politik und Wirtschaft
Im Zusammenhang mit dem Flüchtlingselend von Lampedusa hat der Papst von der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ gesprochen. Da er das ökologische und soziale Elend wesentlich miteinander verbunden sieht, wird er seinen Vorwurf auch auf den Zustand der Erde und die einzelnen Geschöpfe ausdehnen können. Jean Bastaire jedenfalls spricht von „Anästhesie“ der Menschen gegenüber dem Martyrium der Schöpfung.
Man kann sich natürlich fragen, ob sich dieses Urteil halten lässt angesichts der grossartigen Willkommenskultur, die einen Teil der deutschen Politik und Bevölkerung angesichts der Völkerwanderungsströme unserer Tage erfasst hat. Anderseits zeigt sich die Stumpfheit und Empfindungslosigkeit gegenüber dem Leiden nicht zuletzt bei solchen, welche „christliche Werte“ verteidigen wollen, gerade aber so beweisen, dass sie nicht in der „Kultur der Barmherzigkeit“ verwurzelt sind, die ja für Jesus so wichtig war.
Ebenso kann man darauf hinweisen, dass doch an einigen Stellen eine grössere Offenheit zu Tage tritt, um der kommenden UNO-Klimakonferenz von Paris (COP 21) zu einem Erfolg zu verhelfen.
Dennoch bleibt das Urteil der globalisierten Gleichgültigkeit bzw. der Anästhesie bestehen. Während Wochen hat man im Zusammenhang der Wahlen in der Schweiz behauptet, dass die ökologischen Fragen unwichtig geworden seien gegenüber den wirtschaftlichen Fragestellungen. Deswegen würden Parteien, welche die Energiewende, den Klimawandel und den Schutz der Natur auf die Fahne geschrieben hätten, massive Verluste erleiden. Tatsächlich wurden diese Aussagen noch übertroffen. Mehr als die Hälfte des Parlamentes gibt sich „wirtschaftsfreundlich“. „Grüne Politik ist out“, heisst der Beitrag von Stefan Häne im Tagesanzeiger vom 20. Oktober 2015. Umweltprobleme genössen in der Bevölkerung keine Priorität. Das zuständige Bundesamt der Schweiz habe aufgrund von 118 Indikatoren den Zustand der Umwelt und der Ressourcen zu beschreiben versucht. Davon seien nur 26 Indikatoren (22 %) im positiven, 34 (28,8 %) im neutralen, aber sage und schreibe 58 (49,2 %) im negativen Bereich. Seit 1990 habe sich der Ausstoss von Treibhausgasen nicht verändert, die Hälfte der Tier- und Pflanzenarten seien mehr oder weniger vom Aussterben bedroht, die Belastung durch Feinstaub, Ozon und Stickoxiden immer noch über dem gesetzlich erlaubten Niveau….
Umweltprobleme genössen in der Bevölkerung keine Priorität.
Man muss sich das einmal vorstellen. Im gleichen Augenblick, wie der Papst den möglichen Untergang der Spezies Mensch beschwört und eine andere Art des Wirtschaftens verlangt, ist man taub für den Schrei der Erde. Und die Politik erlaubt sich wieder einmal, wirtschaftliche und ökologische Probleme gegeneinander auszuspielen. Man vergisst, dass nur die ökologischste Politik am wirtschaftlichsten ist. Alles andere ist Augenwischerei und mangelnde Einfühlung in das Leiden der Schöpfung.
Man beruft sich stolz auf seine „Wirtschaftskompetenz“ und übersieht wohlweislich, dass das ökonomische Gesetz „Immer effektiver, immer schneller, immer mehr, immer sparsamer…“ geradewegs in den Abgrund führt. Erst wenn ökologische, humanisierende und tierethische Aspekte integriert sind, kann man von wirklicher wirtschaftlicher Kompetenz sprechen. Was heute verfehlt wird, wird sich morgen rächen.
In fast allen Bereichen der Ökonomie reihen sich die Beispiele des nicht wahrgenommenen Martyriums der Kreatur:
- Am 2. Dezember 2014 sendete der „Kassensturz“ des Schweizer Fernsehens einen Beitrag, in dem gezeigt wird, dass in der Schweiz ¾ der Poulets mit antibiotikaresistenten Bakterien (ESBL) kontaminiert sind. Dies ist das Ergebnis des Eierimportes, der grossangelegten Tierhaltung und der Fleischproduktion. Bereits von der ungeschützten Berührung des Fleisches kann eine Todesgefahr ausgehen. Die Zahlen stammen von einer bundesrätlichen Kommission, die eine sofortige drastische Reduktion der Antibiotika mit dem Ziel einer antibiotikafreien Landwirtschaft fordert. Die Fleischbranche wiegelt ab, der Bauernverband bleibt vage. Der Präsident des Bauernverbandes meint, dass es in der Schweiz keine industrielle „Pouletproduktion“ gäbe. Man hat nicht den Eindruck, dass die Dramatik des Problems erkannt wird. – Antibiotika werden zudem prophylaktisch und therapeutisch ganz allgemein in der Tierhaltung eingesetzt.
- Die Kuh- und Rinderhaltung wird heute weitgehend mit importiertem Kraftfutter betrieben. Die Schweiz braucht zu dessen Herstellung nochmals so viel Ackerfläche im Ausland wie in der Schweiz. Sie betreibt demnach eine Art Kolonialismus, um Tiere zu ernähren, die schliesslich auf dem Teller der Menschen landen. Regenwald wird abgeholzt, Bewohner werden vertrieben, Landbesitzer geraten ins Elend, und bei uns erreicht die Menge der Tiere eine Grösse, die in keinem Verhältnis steht zum vorhandenen Land – und Tiere müssen leiden. Aber nicht nur dies ist fragwürdig, sondern auch das Kraftfutter selbst, das den Tieren verfüttert wird. Die ARD sendete am 20. Juli 2015 einen Film von Monika Anthes und Edgar Verheyen. Verzweifelte Bauern erzählen, wie ihre Hochleistungskühe wegen des Kraftfutters krank werden (Euterentzündung, Klauenrehe, Abmagerung, Wunden in Fleisch und Knochen, Magendurchbrüche…). Der Leistungsdruck – immer mehr Milch! – sei so gross, dass es dazu keine Alternative gäbe, sagen sie. Tierärzte und Professoren bezeugen, dass die kranken Tiere systembedingt seien, also die gesamte „Landwirtschaftspolitik“ betreffen. „Entweder man holt das Maximum heraus oder man riskiert den Ruin!“ Mehr Milch und mehr kranke Tiere – das sei in Kauf zu nehmen. Dass es auch anders geht, zeigt in der gleichen Sendung ein Bauer aus dem Allgäu. Er reduzierte die Zahl der Kühe, verzichtete auf Kraftfutter und fütterte Gras und Heu, sparte dabei Arztkosten und kann so nach eigenen Angaben sehr gut leben. Er hat eine totale Kehrtwende vollzogen, erst jetzt sei er Bauer, sagt er. Der Bauernverband freilich behauptet, dass es der deutschen Kuh sehr gut gehe. Anästhesie auf der ganzen Linie! Auch bei den Milchkonsumenten!
- Am 29. September 2015 berichtet der „Kassensturz“, dass in Uruguay schwangere Stuten mit Schlägen betäubt werden, um ihnen bis zu zehn Liter Blut zu entnehmen. Viele würden eingehen, der Fötus getötet. Das Blut aber wird von der Schweizer Pharmazie zu einem Fertilitäts-Medikament verarbeitet, das dann Schweinen, die erst gerade geworfen haben, eingeimpft wird. Auf diese Weise soll erreicht werden, dass die Schweinezüchter eine grössere Effizienz haben, indem mehrere Schweine zur gleichen Zeit Ferkel werfen. Für den beteiligten Tierarzt ist das kein Problem. Überhaupt zeigt sich, dass Tierärzte, die ja eigentlich die Gesundheit der Tiere vor Augen haben müssten, zu Handlangern des Todes werden. Inzwischen hat der Vertreter von „swissporcs“ mitgeteilt, dass das genannte Medikament nicht mehr angewendet werden sollte.
- Tags zuvor hatte „10vor10“ berichtet, wie Stierkälber immer öfter gleich bei der Geburt oder kurz darnach getötet werden, weil sie keinen Profit einbringen. Neues Leben als Abfallprodukt – das gibt es seit langem bereits beim Schlüpfen der Küken, wo nur weibliche willkommen sind, die männlichen aber verschreddert oder vergast werden. Im Übrigen finden auch in Deutschland bei der Schweinezucht bis zu einem Drittel den direkten Weg in den Abfall, noch bevor das Fleisch auf dem Markt angeboten werden könnte.
- Am 20. Oktober 2015 sendete „arte“ einen Film über die Lederproduktion. Der Grossteil des tierischen Leders wird in asiatischen Staaten verarbeitet. Kinder und Erwachsene arbeiten in den dortigen Gerbereien unter bedenklichen Bedingungen: 12 Stunden am Tag, bei kleinem Lohn, inmitten von giftigen Säuren und Laugen, bei Stoffen, die in Europa verboten sind (Quecksilber). Aber die Schuhe, Gürtel, Taschen, Armbänder, Portemonnaies…, die daraus entstehen, tragen wir in Europa. Doch kaum jemand hört den Schrei der Kranken, der Armen und der Tiere.
Man könnte fortfahren mit den Beispielen: Abgaskandal bei VW, der ruinöse Abbau von Sand für unsere Strassen oder zur Gewinnung von Erdöl, die Abfallbewirtschaftung, der rücksichtslose Abbau von Diamanten und Gold, die Pelzindustrie, die Lebensmittelindustrie, die Lebensmittelspekulation, die Finanzindustrie und die Banken…. Es gibt praktisch keinen ökonomischen Bereich, der nicht in grossem Ausmass Leiden und Tod und klimatische Veränderungen impliziert. Die Gewinnmaximierung ist überall das Ziel. Eine Bank, die nicht über 25% Gewinn erzielt, ist keine richtige Bank. Ein Verlust gegenüber dem Gewinn des Vorjahres wird immer negativ beurteilt, auch wenn der Gewinn immer noch Milliarden beträgt. Die Wirtschaft muss wachsen, die vorgeschlagenen Alternativen werden nicht ernsthaft geprüft.
Geld macht blind. Schon deshalb hat der Papst für seine Worte nicht nur Applaus gefunden.
Geld macht blind.
Eine chassidische Geschichte gibt die Erklärung. Ich hatte sie in einer Predigt auf Französisch vorgetragen, in der Sprache, in der „Silber“ und „Geld“ mit dem gleichen Wort „argent“ ausgedrückt werden. Sie „erzählt von einem Mann, der sich beim Rabbi darüber wundert, dass die Armen viel hilfsbereiter als Reiche sind. Der Rabbi lässt den Fragenden zum Fenster hinausschauen: Was siehst du? Der Blick hinaus lässt ihn eine Frau, ein Kind und einen Wagen sehen. Dann fordert ihn der Rabbi auf, vor den Spiegel zu treten: Was siehst du? – er sieht sich selbst. Und die Antwort des Rabbi: Nun siehst du: Das Fenster ist aus Glas gemacht und der Spiegel ist aus Glas gemacht. Man braucht bloss ein bisschen Silber dahinter zu legen, schon sieht man nur noch sich selbst“ (SKZ 3/2008).
Anästhesie in der Kirche
Die vorhin genannten Probleme erinnern mich an eine Erfahrung aus dem Jahre 2009. Da hatte ich im Auftrag des Hilfswerks „Misereor“ einen „Kreuzweg der Schöpfung“ verfasst. Darin habe ich die traditionellen Kreuzwegstationen konsequent ausgeweitet auf das Leiden der Menschen, der Tiere, der Erde. Während er von vielen Gemeinden gut aufgenommen wurde, verlangte der Deutsche Bauernverband von den bayrischen (Erz)Bischöfen mit Erfolg eine Distanzierung von meinem Text…
Schon seit längerer Zeit stellt man innerkirchlich eine Art Selbstimmunisierung gegenüber den Problemen der Welt fest. Einst sehr engagierte Zeitschriften flüchten sich in die Ästhetik. Schöne Fotos und schöne Gedichte scheinen nichts anderes im Sinn zu haben als Beschwichtigung und Beruhigung. Auch viele spirituelle Autorinnen und Autoren sind dem „Kitsch aus dem Kloster“ verfallen, wie das vor einiger Zeit ein Journalist des Tagesanzeigers formuliert hat. Ich selbst mache die Erfahrung, dass ich mit vielen meiner Gebets- und Meditationstexte Applaus ernte. Sobald ich aber über konkrete Fragen einer ökologisch und tierethisch orientierten Theologie und Spiritualität spreche, treffe ich auf Unverständnis und massive Kritik selbst innerhalb des eigenen Ordens.
Auch viele spirituelle Autorinnen und Autoren sind dem „Kitsch aus dem Kloster“ verfallen
Heute muss man sich fragen, ob man dem Papst in seinem Einsatz für die schreiende Erde folgen will. Wo haben sich Gemeinschaften und Einzelpersonen mit dem Text auseinandergesetzt und konkrete Veränderungen vorgenommen? Man freut sich zwar, dass der Papst so „modern“ ist und heutige Probleme zur Geltung bringt, hat aber nicht den Eindruck, dass man selber gemeint sein könnte.
Vielleicht liegt das auch am Papst selbst. Seine Analyse ist wissenschaftlich gut begründet, bleibt aber letztlich abstrakt. Es fehlt das Konkrete sowohl bei der Beschreibung als auch bei den Lösungsansätzen. Dass die moderne Landwirtschaft und die heutige intensive Tierhaltung ungefähr einen Drittel der umwelt- und klimaschädigenden Gase produzieren, wird in der Enzyklika nicht deutlich, der Fleischkonsum nirgendwo erwähnt. Zwar verpflichtet der Papst die Kirche als solche, vor allem auch die Orden, und die einzelnen Gläubigen, ein neues schöpfungsorientiertes Verhalten zu praktizieren. Aber es fehlt an einer konkreten und überzeugenden Selbstverpflichtung, an der man ablesen könnte, was gemeint ist.
„Die Erde, unser Haus, scheint sich immer mehr in eine unermessliche Mülldeponie zu verwandeln“ (Abschnitt 21), schreibt der Papst.
… es fehlt an einer konkreten und überzeugenden Selbstverpflichtung
Wo aber in Italien ist die kirchliche Institution, die den obligaten Espresso nach dem Essen nicht in Wegwerfbechern anbietet? Wo ist da das Bildungshaus, das die Frühstückselemente (Rahm, Zucker, Butter, Margarine, Käse, Konfitüre, Honig, Zwieback …) nicht in Plastikverpackungen portioniert? Während man diesbezüglich in deutschsprachigen Ländern schon seit Jahren auf einem guten Wege ist, fehlt es ganz allgemein in lateinischen Ländern an der nötigen Sensibilität. Erst vor kurzem war ich in einem diözesanen Bildungshaus der Westschweiz, in dem massenweise Abfall produziert wurde. Neben den eben erwähnten Plastikportionen legte man da vier Mal täglich Papiersets auf den Tisch, die nachher die Papierkörbe füllten. Auch kirchliche Hilfswerke meinen, dass man Spenden im Voraus mit Schiefertäfelchen, Schlüsselringen (ich habe inzwischen gegen 20 Stück!) und anderen unnützen Artikeln verdanken müsse. Als ich vor ein paar Jahren versetzt wurde, habe ich eine Unmenge solcher Objekte entsorgt, inzwischen bin ich bereits wieder zugemüllt. Immer noch meint man, dass man bei Besuchen ein Mitbringsel dabei haben müsse….
Schon oft habe ich beklagt, dass die Orden, was Essgewohnheiten angeht, quer zu den ökologischen Bedürfnissen unserer Zeit stehen. Da gibt es immer noch Klöster, für die das Fleisch sowohl zum Mittagessen als auch zum Abendessen und möglicher Weise auch noch zum Frühstück und zum Zvieri gehört. Und dass nach der Organisation „fair-fish“ nur noch einmal im Monat ein Fisch drin liegt, wenn man einen nachhaltigen Lebensstil praktizieren will, hat man noch nicht gehört. Aber auch sonst hat man vielerorts noch nichts gehört von „Bio“, von saisonalen und lokalen Produkten, von energiesparenden Massnahmen, vom schonenden Umgang mit den Dingen. Schon oft wurde moniert, dass sich Kirchgemeinden, bischöfliche Kurien und Seelsorger, was Ökologie betrifft, nicht besonders hervor tun. Inzwischen gibt es Gott sei Dank die ökumenische Initiative „Grüner Gockel/Grüner Güggel“, welche auf der Ebene der Gemeinden wirksame Massnahmen und Perspektiven in Gang setzen will. Aber es sind immer noch zu wenige, die da mitmachen. Wo bleiben die kirchlichen Feste, die ihre Speiseangebote ökologisch oder noch besser vegetarisch gestalten? Und wo sind die Orden, die bei ihren vegetarischen oder gar veganen Traditionen anknüpfen? Obwohl doch gerade Orden eine „Konsumaskese“ (Karl Rahner) leben müssten.
Beschämend ist es, dass gerade nichtpraktizierende Christen oder gar Ungläubige mehr als viele, die der Kirche angehören, den Schrei der Erde, der Pflanzen, Tiere und Menschen wahrnehmen.
Das „Evangelium der Schöpfung“
Sowohl der Papst wie Jean Bastaire betonen, dass das, was man Schöpfungsspiritualität nennt, zum Kern der christlichen Botschaft gehört und nicht einfach zur Wahl steht. Papst Franziskus spricht sogar vom „Evangelium der Schöpfung“ (Abschnitt 62ff), das es zu hören und zu verkünden gilt.
Die Schöpfung kann nur als Glaubensakt begriffen werden. Denn wenn wir dieses Wort in den Mund nehmen, dann setzen wir das Geheimnis Gottes voraus, der die Welt in einem freien Akt der Liebe aus sich heraus freisetzt. Alles, was so geschaffen ist, ist aus ihm hervorgegangen, alles liegt ihm am Herzen, alles wird in seine ewige Herrlichkeit einziehen. Jedes Geschöpf hat uns eine Botschaft auszurichten: der Stein, das Sandkorn, die Blume, der Baum, die Lerche, die Forelle, der Wolf, der Mensch. Ich habe einmal den Prolog zum Johannesevangelium in eigene Worte gesetzt:
Am Anfang war das Wort.
Noch vor aller Schöpfung,
noch vor dem Beginn,
noch bevor etwas angefangen hat,
ist das Wort:
der Wille Gottes,
sich zu zeigen,
sich zu offenbaren,
sich selbst mitzuteilen
– dir und aller Welt.
Das Wort war bei Gott
und das Wort war Gott.
Im Anfang war es bei Gott.
Gott sagt sich selbst,
drückt sich aus,
teilt sich mit,
ist Wort und Antwort,
Beziehung,
ein ewiges Gespräch,
ein großer Dialog
– noch ehe etwas war,
und auch jetzt, da du bist!
Alles ist geworden durch das Wort
und nichts wurde ohne das Wort, was geworden ist.
jeder Stein ist Wort,
jede Blume Botschaft,
jedes Tier Mitteilung,
jeder Mensch Offenbarung,
Himmel und Erde Kundgebung,
das Universum Verlautbarung Gottes
und wir haben Ohren, um zu lauschen.
Im Wort ist Leben,
und das Leben ist das Licht der Menschen.
Gott ist offenbar, nicht in sich verschlossen.
Sein Wort hebt ins Licht
und stößt nicht ins Dunkle.
Es ist Gnade, Huld, Zuwendung,
Liebe, Leben sonst nichts!
Und so wird lebendig und hell,
wer sich öffnet und lauscht und hinhört.
Das Licht, Jesus Christus,
leuchtet in der Finsternis,
doch die Finsternis hat es nicht erkannt.
Der Mensch verschließt sich,
schließt die Augen,
schließt sich ein in selbstgewählte Dunkelheit.
Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet,
Jesus Christus, kam in die Welt.
Er war in der Welt,
und die Welt ist durch ihn geworden.
In Jesus verdichtet und konzentriert sich,
was jeder Stein kündet,
jede Blume singt,
jedes Tier ruft,
jeder Mensch offenbart,
das ganze All erglänzen lässt:
das Wort, durch das alles erschaffen ist.
Allen, die ihn aufnahmen,
gab er Macht!
Nicht die Macht,
die Meere zu beherrschen
oder das All zu erobern
oder sich gegen andere durchzusetzen!
Sondern Macht,
Kinder Gottes zu werden,
sich als Töchter und Söhne des Wortes zu erweisen,
des Lichtes, des Lebens, der Liebe;
die Macht, zueinander in Beziehung zu treten
und mit allem geschwisterlich verbunden zu sein.
Und das Wort ist Fleisch geworden
und hat unter uns gewohnt.
Darum ist die Welt das Haus des Wortes,
der Leib seine Wohnung,
der Mensch sein Tempel.
Und wir
wir sind Hörer,
Wirte,
Mitbewohner des Wortes.
Wir haben die Herrlichkeit des Wortes gesehen,
den göttlichen Glanz, der widerstrahlt von dem Antlitz Jesu,
das spezifische Gewicht, das ihm zukommt:
Gnade und Wahrheit und Anerkennung und Liebe.
Jesus, das menschgewordene Wort Gottes!
In ihm ist alles gesagt, was Gott sagen kann.
Mehr gibt es nicht zu sagen: Gott ist Liebe, Leben, Licht,
nichts anderes, nichts weniger!
Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen,
Gnade über Gnade.
Auf diese Weise zeigt sich, wie sehr Schöpfungsspiritualität und Christusereignis zusammengehören und dass die Schöpfung in die Mitte des Glaubens gehört.
Postulate der Schöpfungsspiritualität
Aus dem „Evangelium der Schöpfung“ lassen sich einige ethische Postulate ableiten. Ich möchte diese im Folgenden in kurzen und klaren Sätzen formulieren und dazu jeweils ein paar erklärende Worte hinzufügen:
1. Entdecke das Geheimnis des Einzelnen!
Leider fehlt dieser Aspekt in der päpstlichen Enzyklika. Sie ist mehr an der Erhaltung der Biodiversität interessiert als an der einzelnen Pflanze oder dem einzelnen Tier. Wenn aber Franz von Assisi von Brüdern und Schwestern spricht, meint er das individuelle Wesen, das nicht einfach in der Art untergeht, sondern immer einen eigenen Stand hat. Jedes Geschöpf zeigt uns ein einmaliges und unaustauschbares Gesicht.
Jedes Geschöpf zeigt uns ein einmaliges und unaustauschbares Gesicht.
Es hat einen eigenen Wert, ist um seiner selbst willen da und steht nicht einfach zum Gebrauch zur Verfügung. Jedes Sandkorn unterscheidet sich vom andern, keine Blume ist gleich wie die andere, jeder Hund bellt anders, jeder Mensch ist einmalig. In der Suche und in der Anerkennung des Individuums verdichtet sich die Ehrfurcht, die dem Geschöpf gebührt.
2. Geniesse, ohne zu gebrauchen!
Etwas mit den Augen auskosten, es sich nicht aneignen, es bestaunen und bewundern, es in der nötigen Distanz halten, es gelten lassen, will gelernt und eingeübt werden. Wie armselig ist doch jener Forscher, der einen seltenen Vogel entdeckt, fotografiert und dann tötet, um weitere Forschungen an ihm zu betreiben.
Etwas mit den Ohren hören, davon betört werden, lauschen und ganz Ohr sein für Töne, Melodien, Worte – sie dauern lassen und nicht einfach zur Tagesordnung übergehen – das ist eine bewundernswerte Kunst.
Etwas schmecken und riechen, ohne es zu vereinnahmen oder gar zu verschlingen, die Lippen, den Gaumen und die Zunge ins Spiel setzen, etwas davon munden lassen ist mehr als Fressen und Saufen.
Etwas schmecken und riechen, ohne es zu vereinnahmen oder gar zu verschlingen…
Etwas ertasten, jemandem über die Haut oder das Gesicht streichen, einem Tier das Fell glätten, einen Grashalm berühren, zärtlich, sanft, ohne zu greifen oder gar besitzen zu wollen, die Gegenwart des andern als Wohltat und Genuss empfinden – was ist das doch für eine Fähigkeit, die den Menschen zum Menschen macht.
Ja, der Genuss ist zentral und wichtig, aber er muss nicht die Gestalt des Zugreifens und des Konsumierens annehmen. Denn was ich konsumiere, ist nachher nicht mehr da! Und vor allem: es gibt noch andere Lust als die des Essens, Trinkens und Gebrauchens.
3. Erkenne die wahren Bedürfnisse!
Es gibt so etwas wie eine Hierarchie der Bedürfnisse. Wir wissen, dass uns die Wirtschaft Bedürfnisse einredet und dass diese davon lebt. Aber brauchen wir wirklich immer schnellere Computerprogramme, selbsttätige elektronische Rasenmäher oder Staubsauger, gebogene Zahnbürsten, Fertigprodukte….? Wir können doch die Freiheit bewahren, indem wir aus dem Angebotenen auswählen und uns dem Zwang des Konsums verweigern. Wir müssen unterscheiden zwischen Primärbedürfnissen (was brauche ich unbedingt?), Sekundärbedürfnissen (was brauche ich für ein angenehmes Leben?) und Terziärbedürfnissen (was ist überflüssig und purer Luxus?). Oft gehen wir dabei ins hundertste und tausendste Bedürfnis und werden so ein Teil des unsinnigen und zerstörerischen Wachstumswahns.
… eine Hierarchie der Bedürfnisse
Bei diesem Einfühlungsprozess in die eigene Bedürfniswelt ist die individualistische Perspektive zu überwinden. Das Bedürfnis, sich schick zu kleiden, etwa sich mit einem Pelzmantel zu umhüllen, muss sich messen am Bedürfnis der damit verbundenen Tiere und Menschen. Das Bedürfnis, auf die Malediven zu reisen, muss sich an den Bedürfnissen der Menschheit und des Planeten Erde messen.
4. Empfinde die universale Verbundenheit der Geschöpfe
So sehr die einzelnen Geschöpfe sich unterscheiden, sie sind auch miteinander verbunden, ja miteinander verwandt. Sie bilden ein Ganzes, und das Ganze zeigt sich im Einzelnen. Franziskus hat in allen Geschöpfen eine einzige Familie gesehen. Der eine Gott erfüllt den einzelnen und das All. Viele davon haben denn auch Augen, Ohren, Mund und Nase. Viele haben ein zentrales Nervensystem, noch mehr sind sie sich eins im Fühlen und Empfinden. Früher hat man die Vielheit auf vier Elemente zurückgeführt, heute gibt es 118 bekannte Atome, die das All ausmachen. Und schon im Mittelalter hat man gesagt, dass der Mensch im Kleinen das darstellt, was das All im Grossen ist. Immer hat es auch Philosophen gegeben, welche daraus gefolgert haben, dass Veränderungen im Makrokosmos auch solche im Mikrokosmos zur Folge haben. Der Mensch wird weniger, wenn Geschöpfe verschwinden.
Der Mensch wird weniger, wenn Geschöpfe verschwinden.
Entdecke also deine Einheit mit der Schöpfung ebenso wie deine Verwandtschaft mit den Geschöpfen. In den asiatischen Kulturen nennt man das „advaita“ (= Nicht-Zweiheit). Mit andern Worten: es geht letztlich darum, dass das Eins-Sein mit allem ins Bewusstsein rückt und – franziskanisch gesprochen – die Geschwisterlichkeit gesucht und gelebt wird.
5. Bemühe dich, nichts und niemanden zu schädigen
Daraus folgt, dass man sich bemüht, keinem Geschöpf Schaden oder Verletzungen zuzufügen. Auch dafür haben die asiatischen Kulturen ein wichtiges Leitwort gefunden: „ahimsa“. Im lateinischen hätten wir dafür den Begriff „innocentia“ zur Verfügung. Nur betonen wir dabei eher den passiven Aspekt, das „Unschuldigsein“, unbedingt hinzufügen müssten wir das „Nichtschädigenwollen.“ Albert Schweitzer sagt es einmal so: „Jede Zerstörung von Leben ist unsittlich, jede Förderung desselben sittlich. Das sinnlose Zerschlagen eines Kristalls, den wir antreffen, und das gedankenlose Brechen einer Blume sind Taten der Unsittlichkeit, die darum nicht minder unsittlich sind, weil kein Bewusstsein ihres Charakters vorhanden ist“ .
6. Befreie aus dem Leiden
So sehr Albert Schweitzer fasziniert ist von den genannten asiatischen Wertvorstellungen (advaita und ahimsa), so sehr betont er, dass das nicht genügen kann. „Einen Wurm auf der Strasse von der Sonne sterben zu lassen, wo wir ihm mit einer einzigen Bewegung ins Gras und auf weiche Erde helfen könnten, ist eine Verfehlung gegen das Leben. An der unnötigen Vernichtung eines Tieres, das wir mit ansehen, ohne für es einzutreten, sind wir mitschuldig.
Dies ist keine Sentimentalität. Gehört die Ehrfurcht vor dem Leben zum wahren Menschsein, so müssen wir uns unserer Verantwortung gegen alles lebende Wesen, das in unserem Bereich ist, bewusst sein. Unser Beruf ist Leben erhalten. Leben zerstören ist Sünde, von der Schuld, die wir mit bereiteter oder angesehener Qual auf uns laden, nicht zu reden“.
„Unser Beruf ist Leben erhalten.“
(Albert Schweitzer)
„Nicht nur nicht töten sollen wir, sondern Leben erhalten, wo es möglich ist.“ Des Menschen Berufung ist: „das Lebenerhalten und das Helfenkönnen. Halte deine Augen offen, damit du die Gelegenheit nicht versäumst, wo du darfst Erlöser sein! Geh nicht achtlos an dem armen Insekt, das ins Wasser gefallen ist, vorüber, sondern ahne, was es heisst: mit dem Wassertod ringen. Hilf ihm mit einem Halm oder einem Hölzchen heraus, und wenn es sich dann die Flügel putzt, so wisse, es ist dir etwas Wunderbares widerfahren: das Glück, Leben gerettet zu haben, … im Auftrage und in der Machtvollkommenheit Gottes gehandelt zu haben. Der Wurm auf der harten Strasse, auf die er sich verirrt hat, verschmachtet, weil er sich nicht einbohren kann, lege [ihn] aufs weiche Erdreich oder ins Gras! ‚Was ihr getan habt einem dieser Geringsten, das habt ihr mir getan‘ (Mt. 25,40), … dies Wort Jesu gilt uns für alles, was wir an der geringsten Kreatur tun“.
7. Hebe jedes Geschöpf ins Licht!
Als Christen können wir noch einen Schritt weitergehen. Wir können jedes Geschöpf in das ewige und endgültige Licht Gottes stellen. Alles hat Bedeutung: das fallende Herbstblatt verweist uns auf Tod und Auferstehung Jesu. Es hat für mich eine Bedeutung, die ich feiernd begehen kann. Alles kann zum Gedicht und zum Lied werden, zum Fingerzeig, zum Schatten, zur Spur, zum Bild, zum Sakrament, in dem das Zukünftige gegenwärtig wird. Nichts ist ohne Bedeutung, nichts ohne Sinn. Alles, was ich vom Boden oder gar aus dem Dreck hebe, kann nicht mehr ins Nichts zurückfallen. Mindestens ich werde die Bedeutung, die es für mich bekommen hat, auf ewig schätzen.
8. Engagiere dich!
Es gibt viele Möglichkeiten, sich einzusetzen. So viele Organisationen und Vereine warten auf dich. Fast überall fehlt es an Kräften und an Geld. Suche das Feld aus, auf dem du dich einsetzen möchtest. Sei nicht überall Mitglied, beschränke dich, aber sei Feuer und Flamme, nicht erlöschende Glut und laues Wasser.
9. Suche Gleichgesinnte!
So viele fühlen sich ohnmächtig und unbedeutend. Darum suche Gleichgesinnte, mit denen du dich regelmässig austauschen kannst. „Wenn einer alleine träumt, bleibt es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist das der Beginn einer neuen Wirklichkeit“, sagte Dom Hélder Camara.
10. Lass dich nicht entmutigen!
Die Aufgabe ist gross, die Überforderung allgegenwärtig, die Enttäuschung nahe, die Resignation die grosse Gefahr. Erinnere dich an das grosse Wort Jesu vom Senfkorn (Mk 4, 31): Mag das, was wir tun, noch so unscheinbar und klein sein, eines Tages werden viele Vögel zwitschern in dem Gesträuch, das daraus gewachsen ist. Oder denk an den Schmetterlingseffekt, von dem die Chaostheorie spricht: Aus welchen Gründen auch immer der Schmetterling über den Azoren erzittert, tags darauf wird über dem Ort, an dem Du lebst, ein heftiges Gewitter niederprasseln. Auch die vielen Nullen nach dem Komma, werden einen grossen Ertrag abwerfen, wenn, sagen wir, an der 84sten Stelle eine 2 steht…. Auch das Kleinste, das du tun kannst, wirkt.
(Anton Rotzetter)
Zu den Bildern:
In Assisi gibt es seit ein paar Jahren den „Wald des Franz von Assisi“. Er besteht aus drei Teilen: der Wald, der nicht genutzt wird, als Raum der Ruhe und der Meditation; der Wald, der genutzt wird; und der Olivenhain, der Nutzung und Nichtnutzung miteinander versöhnt. Beim Eingang steht die Glocke, die zur Versöhnung ruft, gestützt von den grossen Religionen der Welt.
(Fotos von Annette Maria Forster)
- http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2015/september/documents/papa-francesco_20150925_onu-visita.html ↩