Im Archiv stößt Anna Klein auf eine vergessene muslimische Wallfahrtstradition in Palästina: Die Nabi-Mūsa-Pilgerfahrt zum Grab des Propheten Moses.
„Unweit der Strasse von Jerusalem nach Jericho liegt auf einem Plateau in der judäischen Wüste der Komplex von Nabi Musa.“ So ist es im deutschen Wikivoyage-Artikel zu einem kleinen Ort im Westjordanland zu lesen. Nabi Mūsa? Ich forsche zu den jüdisch-christlich-muslimischen Beziehungen. Dennoch hatte ich bis zu meinem dritten Besuch im Generalarchiv der „Weißen Väter“ in Rom im Jahr 2013 weder etwas von diesem Ort noch von der mit ihm verbundenen islamischen Wallfahrtstradition gehört.
Nabi Mūsa? Über einen Moses zu Ehren errichteten muslimischen Wallfahrtsort war ich bislang nie gestolpert.
Dem Namen nach hatte Nabi Mūsa etwas mit dem Propheten Moses („nabi“ = Gesandter; „Mūsa“ = Moses) zu tun. Um seine Verehrung in Koran und Islam wusste ich natürlich.1 Über einen ihm zu Ehren errichteten muslimischen Wallfahrtsort war ich hingegen nie gestolpert. Und tatsächlich: Sichtet man die deutschsprachige wissenschaftliche Literatur, findet man zum besagten Thema – nichts.
Lediglich Überblickswerke zur Geschichte Palästinas vor 1948 verweisen hie und da mal auf die sogenannten „Nabi-Mūsa-Unruhen“ von 1920: Im Zuge antizionistischer Ausschreitungen gegen jüdische Einwanderer während des Nabi-Mūsa-Festes kamen zwischen dem 4. und dem 7. April auf beiden Seiten neun Menschen ums Leben, mehr als 200 wurden zum Teil schwer verletzt.
Ein religiöses Fest mit politischer Dimension
Die neuere historische Beschäftigung mit dem Jerusalemer Nabi-Mūsa-Fest fand also bisher stets vor dem Hintergrund seiner politischen Dimension statt; der deutsch-israelische Historiker Tom Segev bezeichnet die 1920er Nabi-Mūsa-Unruhen gar als „Startschuss für den Kampf um das Land Israel.“2 Gewiss ist es richtig, dass die Wallfahrt seit langem auch politischer Natur war. Richtig ist aber ebenso, dass es sich bei der Nabi-Mūsa-Pilgerfahrt in erster Linie um ein religiöses Fest handelt(e).
Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es sogar das wichtigste Ereignis seiner Art für palästinensische Muslime. Bisher wurde ihm dennoch kaum historisch-theologisches Interesse zuteil – von einer arabischsprachigen Monographie und einigen wenigen englischsprachigen Aufsätzen abgesehen.3
Gott habe Moses einst versprochen, dass er nur sterben werde, wenn er sich selbst in sein eigenes Grab legte.
Über die Geschichte des als Todesstätte des Mose verehrten Pilgerortes ist bisher nur wenig bekannt. An ihrem Anfang stand jedoch eine Legende: Gott habe Moses einst versprochen, dass er nur sterben werde, wenn er sich selbst in sein eigenes Grab legte. Als der Todesengel Azrael zu ihm geschickt wurde, um seine Seele zu fordern, verweigerte Moses dies jedoch. Aus Angst vor dem eigenen Tod sei er zwischen den Bergen umhergewandert und auf drei als Männer verkleidete Engel gestoßen, die dabei waren, eine Höhle aus einem Felsen auszuhauen. Da er erschöpft war, habe er gebeten, sich in der Höhle kurz von seinen Strapazen ausruhen zu dürfen, woraufhin sein Geist letztlich aus seinem Körper entflohen sei.
Angenommen wird, dass das Nabi-Mūsa-Fest bereits in der Zeit Saladins (1174–1193), spätestens aber während der Regentschaft Beibarsʼ I. (1260–1277) initiiert wurde. Es wird gemeinhin als Reaktion auf die ersten Kreuzzüge gedeutet. Insbesondere seine Erneuerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte vermutlich eine Abwehr der zunehmenden christlichen Aktivitäten in Palästina zum Ziel. Für die Zeit dazwischen gibt es kaum verlässliche Anhaltspunkte für den weiteren geschichtlichen Verlauf des unweit des Toten Meeres gelegenen Ortes oder der alljährlichen Pilgerfahrt. Bekannt sind lediglich Bauarbeiten zwischen 1737 und 1819, wobei der Gebäudekomplex während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch einer Ruine glich.
Erst auf Anregung und mit finanzieller Unterstützung der einflussreichen Jerusalemer Husseini-Familie wurde das Heiligtum („maqam“) im Jahr 1885 wieder aufgebaut. Der Husseini-Clan stand zu jener Zeit gemeinsam mit der Nashashibi-Familie der Stadtgemeinde vor. Beide spielten bei der Organisation und Durchführung der Nabi-Mūsa-Wallfahrt Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine tragende Rolle.
Ausführliche Reiseberichte bieten wertvolle Informationen. Gleichzeitig sind sie kritisch zu bewerten.
In diese Zeit fallen einige ausführliche Reiseberichte oft deutschsprachiger Pilger, Theologen und Orientalisten.4 Aus ihren Berichten gewinnt die Nachwelt einerseits wertvolle Informationen über das Fest und das Heiligtum. Gleichzeitig sind sie, postkolonial gelesen, kritisch zu bewerten.
Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet der in den 1920ern nach Amerika ausgewanderte anglikanische Pastor Hans Henry Spoer, der während der ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts einige Zeit in Palästina und Ägypten verbracht hatte. Von ihm erfahren wir zunächst den dreiteiligen Ablauf des am Karfreitag des julianischen Kalenders beginnenden und sieben Tage andauernden Fests:
- die Versammlung der (männlichen) Pilger, sowohl derjenigen aus der Stadt als auch derjenigen vom Lande, und ihr gemeinsamer Auszug aus Jerusalem;
- die Rituale und weitere Aktivitäten am Heiligtum selbst;
- die Rückkehr der Pilger nach Jerusalem.
Was seinen Bericht aus dem Jahr 1909 jedoch besonders bemerkenswert macht, ist, dass er, wie kaum eine andere Quelle zu dem Thema, die ganze Ambivalenz des abendländischen Denkens über „den“ Orient (und „den“ Islam) offenbart – eine Ambivalenz, die sich im Falle der Sicht auf das Nabi-Mūsa-Fest zwischen fascinatio und formido bewegt. Denn einerseits zeugt sein Bericht von großer Demut, von Dank und Bewunderung:
„Das Entfalten der [heiligen; A. K.] Flagge ist der Beginn des offiziellen Teiles dieses Festes und eine interessante Ceremonie. Nur wenige, die nicht offiziell damit zu tun hatten, haben diesem feierlichen Akte jemals beigewohnt. Ich war mir daher des Privilegiums wohl bewußt, welches ich genoß, als ich dieser Feier beiwohnte.
[…] Nachdem Kaffee serviert worden war, intonierte die Kapelle. Man hatte uns viel von einem sehr beliebten Musikstücke erzählt, welches die Kapelle immer bei dieser Gelegenheit zu spielen pflegte, und wir warteten mit Spannung darauf, es zu hören. Als es aber nicht gespielt wurde, baten wir, daß man uns doch diesen Genuß nicht versagen möge. Nach kaum merklichem Zögern wurde unserem Wunsche aufs höflichste entsprochen. Während die sanft klagenden Töne aufstiegen, gab sich zu unserer Verwunderung eine allgemeine tiefe Bewegung kund. Auf unser Befragen nach der Ursache erzählte man uns, daß dieses Stück hier nicht mehr gespielt worden sei seit dem Tage, an dem während dieser Feier die Nachricht von dem plötzlichen Dahinscheiden des Sohnes des Mufti eintraf. Der Greis führte zwar die Feier mit bewunderungswürdiger Selbstverleugnung zu Ende, jedoch war dieser traurige Zwischenfall nicht vergessen worden.“
Nur wenige Zeilen später jedoch beklagt er, nicht ohne Spott und Ausdruck von Überlegenheitsgefühl, den „Fanatismus der Menge“:
„Die ersten Haufen Pilger […] erschütterten die Luft mit ihrem Ruf lā ilāha illaʼllāh (es gibt keinen Gott außer Gott), und ihr Benehmen glich mehr dem Besessener als dem vernünftiger Menschen. Jedoch ab und zu wurden diese Phantasten in die kalte Wirklichkeit versetzt durch den Schlag mit einem kurbādsch von einem Soldaten oder Polizisten, der sie auf diese nachdrückliche Art zum Weitergehen animierte.“
Berichte wie diese bewerten das Fest aus einer folgenreichen abendländischen Perspektive. Dennoch liefern sie Einblicke darüber, welchen Stellenwert das Pilgerfest für die palästinensischen Muslime zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte – vor allem für jene, die dem Sufismus anhingen.
Nachfolgend wurde die Nabi-Mūsa-Wallfahrt zunächst eingeschränkt und später gänzlich untersagt: Ab 1908 wurde sie durch die von den Jungtürken repräsentierte osmanische Regierung behindert. Ihre Aufhebung erfolgte sodann durch die britische Mandatsregierung (1939), später durch die jordanische (1948–1967) und schließlich nach dem Sechs-Tage-Krieg (1967) durch die israelische Regierung.
1987: Freude und Hoffnung, die mit der Erneuerung des Nabi-Mūsa-Fests einhergingen, waren der Wut und der Aggression gewichen.
Erst 1987 hörte man wieder von einem punktuellen Aufleben der Nabi-Mūsa-Wallfahrt: Etwa 15.000 Menschen folgten dem Aufruf des Waqf und nahmen an der Prozession teil. Von den Organisatoren angestrebt war in erster Linie ein fröhliches Fest, das dem religiösen Charakter einer Pilgerfahrt gerecht werden sollte. Dies sollte größtenteils auch gelingen.
Es zeigte sich allerdings, dass ein Teil der jüngeren Pilger, vermummt und in paramilitärischer Kleidung, die von den Organisatoren betonte religiöse Bedeutung der Wallfahrt mit palästinensisch-nationalistischen Anliegen zu verflechten suchte.5 Einige Monate später, im Dezember desselben Jahres, brach die erste Intifada aus – die Freude und Hoffnung, die mit der 1987er Erneuerung des Nabi-Mūsa-Fests einhergingen, waren der Wut und der Aggression gewichen.
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Anna Klein ist Theologin. Sie promoviert an der Universität Hamburg.
Bild: loc.gov
- Vgl. Lejla Demiri, Mose: ein Prophet des Islams, in: Anja Middelbeck-Varwick u. a. (Hg.), Die Boten Gottes. Prophetie in Christentum und Islam (Theologisches Forum Christentum–Islam 6), übers. aus dem Englischen von Anna Gliszczynski, Regensburg 2013, 89–102. ↩
- Tom Segev, Es war einmal in Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, übers. v. Doris Gerstner, München 2005. ↩
- Vgl. Kamil J. Asali, Mawsim al-Nabi Musa fi Filastin, Tarikh al-Mawsim wa-al-Maqam, Amman 1990; Roger Friedland/Richard D. Hecht, The Power of Place: The Nebi Musa Pilgrimage and the Origins of Palestinian Nationalism, in: Sara J. Denning-Bolle/Edwin Gerow (Hg.), The Persistence of Religions. Essays in Honor of Kees W. Bolle (= Other Realitites 9), Malibu 1996, 337–359; Ifrah Zilberman, The renewal of the pilgrimage to Nabi Musa, in: Marshall J. Breger/Yitzhak Reiter/Leonard Hammer (Hg.), Sacred Space in Israel and Palestine. Religion and Politics (= Routledge Studies in Middle Eastern Politics 41), London/New York 2012, 103–115. ↩
- Zu ihnen zählen etwa Hans H. Spoer, Das Nebi-Mūsa-Fest, in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 32 (1909), 207–221, der im Folgenden zu Rate gezogen wird; Richard Hartmann, Nebi Musa, in: Mitteilungen des Deutschen Palästina-Vereins 33 (1910), 65–75, und Hermann von Soden, Reisebriefe aus Palästina, Berlin ²1901. Der ausführlichste Bericht wurde allerdings auf Englisch verfasst und stammt aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre: Tewfik Canaan, Mohammedan Saints and Sanctuaries in Palestine, London 1927. ↩
- Vgl. Ifrah Zilberman, renewal, 109. ↩