Die Würde des Menschen ist unantastbar. Gilt dies auch über den Tod hinaus? Gibt es ein Recht Gestorbener auf einen würdigen Umgang mit dem leblosen Körper? (Franziska Loretan-Saladin)
Das Recht Gestorbener[1]
Für die Tora ist dies gemäss der Alttestamentlerin Luise Metzler so selbstverständlich, dass Vorschriften zum Recht Gestorbener auf einen würdigen Umgang mit dem leblosen Körper nur für Grenzfälle formuliert sind. Dazu gehört die Weisung für den Umgang mit den toten Körpern von hingerichteten Verbrechern oder Kriegsopfern. Im Buch Deuteronomium Kapitel 21 Vers 22f. ist dazu zu lesen:
Wenn an jemandem eine Schuld ist, auf der die Todesstrafe steht, und er oder sie wird hingerichtet und an einen Baum gehängt, so lasse den Leichnam nicht über Nacht im Baum hängen. Begrabe ihn unbedingt noch am gleichen Tag, denn er ist ein Fluch der Gottheit.
Die hier angeführte Übersetzung nach der „Bibel in gerechter Sprache“ macht darauf aufmerksam, dass ein über Nacht am Galgen hängender Mensch etwas mit Gott macht. Er ist gemäss dieser Übersetzung ein „Fluch der Gottheit“. Die Einheitsübersetzung weist demgegenüber in eine andere Richtung, wenn dort zu lesen ist:
…denn ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter.
Worum geht es genau bei dieser Stelle? Luise Metzler zeigt dies auf (vgl. 33-38):
Ein Hingerichteter soll nicht über Nacht am Baum hängen bleiben, weil er von Tieren angefressen und so geschändet werden kann. Damit aber wird Gottes Ehre (Gottes „Gewicht“, hebräisch kabod) vermindert, das bedeutet: Gott selbst wird entwürdigt. Denn die Gottebenbildlichkeit jedes Menschen, auch eines Hingerichteten, reicht über den Tod hinaus. Einen Leichnam nicht zu bestatten, sondern den wilden Tieren auszusetzten, stellt damit auch eine Entwürdigung Gottes dar.
Im Gegensatz zu bisherigen Übersetzungen gibt Luise Metzler die Stelle daher mit folgenden Worten wieder:
… dann darf deren Leiche nicht über Nacht an dem Holz bleiben. Du sollst sie unbedingt noch am selben Tag begraben. Denn Aufgehängte sind eine Entwürdigung der Gottheit.
Das Recht auf Bestattung gilt für jeden Menschen und über den Tod hinaus. Die Bestattung von Toten ist in der jüdischen Tradition ein Liebeswerk, weil jeder Mensch auch nach dem Tod Ebenbild Gottes bleibt. Dies gilt im Besonderen für die Opfer von Gewalt, von Hungersnot und Krankheit. „Sichtbar, aber auch verletzbar ist Gott besonders in den Hilflosen, in den Bedrängten, in denen, die Unrecht und Gewalt erleiden. (…) Denn Gott will die Würde ihrer Ebenbilder nach dem Tod gewahrt wissen, auch durch eine angemessene Bestattung, sogar für VerbrecherInnen“ (37).
Sorgfältig listet die Autorin in Teil II ihres Buches die Begräbnisnotizen der hebräischen Bibel, der apokryphen Schriften und des Neuen Testaments auf. Besonders beeindruckend ist die Überlegung, dass auch Jesus gemäss der Weisung der Tora in Dtn 21,22f. bestattet wurde.
Jesus wurde wie ein Verbrecher hingerichtet. Für die Römer war es gang und gäbe, die Gekreuzigten tagelang hängen und von den wilden Tieren fressen zu lassen. Trotz der grossen Gefahr durch die Römer bestatteten einige der Jüngerinnen zusammen mit Josef von Arimathäa den Leichnam Jesu. Seine Auferstehung kann in diesem Kontext unter einem neuen Aspekt gelesen werden: Als solidarische Antwort Gottes auf das toragemässe Handeln Josefs und der Jüngerinnen, welches die Entwürdigung Gottes verhinderte (vgl. 109f.).
Auch Rizpa erwies diesen Liebensdienst an Gestorbenen, und zwar an Opfern kriegerischer Auseinandersetzung. wie Luise Metzler im vierten Teil ihres Buches aufzeigt. Rizpa war die Mutter von zwei Söhnen Sauls. David liess Rizpas Söhne zusammen mit fünf Enkeln Sauls aus politischen Gründen töten. Mit dem Sackgewand als Trauerkleidung geht Rizpa zum Feld, auf dem die sieben getöteten Nachkommen Sauls liegen, und wacht schweigend bei den Toten. Sie stellt sich deutlich sichtbar der brachialen Gewalt und der Entwürdigung der Getöteten entgegen (vgl. 304-310). Rizpas wortlose und beharrliche Totenwache entspricht der Weisung von Dtn 21,22f. und bringt David dazu, die Hingerichteten zu begraben. Nachdem David den Getöteten Gerechtigkeit hat widerfahren lassen, ist auch Gott wieder ansprechbar und lässt sich für das unter Dürre und Hungersnot leidende Land erbitten (2 Sam 21,14).
Das prophetische Handeln Rizpas verdeutlicht das Recht Gestorbener auf Bestattung. Die Würde des Menschen ist universal und unveräusserbar über den Tod hinaus. Aufgrund der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott stellt die Verletzung der Menschenwürde eine Verletzung von Gott selbst dar.
Diese Buchbesprechung erscheint demnächst in der Schweizerischen Kirchenzeitung. Vgl. auch die Radiosendung Perspektiven auf SRF2 am 25. Oktober 2015.
Luise Metzler wird für ihre Dissertation mit dem Marga Bührig-Förderpreis für feministisch-befreiungstheologische Arbeiten ausgezeichnet. Die Preisverleihung findet statt am Freitag, 30. Oktober um 18.30 Uhr im Literaturhaus Basel, Barfüssergasse 3, 4051 Basel. Ein Seminar mit der Preisträgerin wird am Samstag, 31. Oktober im Forum für Zeitfragen, Basel, durchgeführt.
Nähere Informationen: www.marga-buehrig.ch
[1] Luise Metzler, Das Recht Gestorbener. Rizpa als Toralehrerin für David, Münster/Berlin (LIT) 2015 (Dissertation Marburg 2012). Die Zahlen in Klammern im Text beziehen sich auf dieses Buch.