Seit dem 25. März ist das lange unter Verschluss gehaltene Gutachten der Münchener Kanzlei Westphal – Spilker – Wastl (WSW) zu den Missbrauchsfällen im Erzbistum Köln unter strengen Auflagen einsehbar. Johannes Ludwig hat Einblick in das Gutachten genommen und bewertet dessen Bedeutung für den Aufarbeitungsprozess.
Während Kardinal Rainer Woelki lange Zeit betont hatte, das WSW-Gutachten genüge allgemeinen juristischen Standards nicht und sei insofern nicht rechtssicher, hat sich die Kanzlei WSW bis zuletzt gegen den Vorwurf der Rechtsunsicherheit gewehrt und sogar eine Veröffentlichung des Gutachtens auf der Kanzleihomepage angeboten. Selbst wenn der Kölner Kardinal den Inhalt des Gutachtens nicht gekannt und sich in seinem Urteil bzgl. der Rechtssicherheit auf Zweitgutachten gestützt haben mag, hat seine Vorgehensweise eine Vertrauenskrise ausgelöst, deren langfristige Folgen nicht zu unterschätzen sind.
Methodische Mängel oder konsequenter Gutachtenstil?
Tatsächlich wird Kardinal Woelki sowohl im kürzlich vorgestellten Gutachten der Kanzlei Gercke Wollschläger (GW) als auch in dem nun einsehbaren WSW-Gutachten in juristischer Hinsicht kein Fehlverhalten nachgewiesen. Im Gegenteil habe dieser gegenüber seinen Vorgängern besondere Sensibilität für das „Leid jedes Einzelnen“ gehabt und das Gespräch mit Betroffenen gesucht (165). Auffällig ist, dass die Gutachter(innen) der Kanzlei WSW den Gutachtenauftrag weit auslegen und die „aus ihrer Sicht bestehende[n] Ursachen“ der mangelhaften Aufarbeitung deutlich thematisieren. In dem ca. 500 Seiten umfassenden Gutachten wird eine Auswahl 15 exemplarischer Fälle getroffen, ohne freilich zu thematisieren, anhand welcher Kriterien die Fallauswahl vorgenommen wurde. Diesbezüglich wurde berechtigterweise ein „mangelnder methodischer Mindeststandard“ (so das externe Gutachten von Jahn/Streng) moniert.[1] Kritisiert worden war zudem eine „Überschreitung des Gutachtenauftrags“. Tatsächlich wird im WSW-Gutachten zu Protokoll gegeben, man beschränke sich in der Würdigung „nicht auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle, also darauf ob das Handeln der Verantwortungsträger mit dem Buchstaben des Gesetzes‘ in Einklang stand. Darüber hinaus wird auch die Angemessenheit der Reaktion auf Missbrauchsfälle auch und gerade unter dem Aspekt der (präventiven) Opferfürsorge in den Blick genommen“ (184). Ausführlich wird insofern auf die systemischen Ursachen eingegangen und insbesondere der „Klerikalismus und die Angst als handlungsbestimmende Motive“ in der „Aufarbeitung“ identifiziert (166). Das Konstatieren einer „Wagenburgmentalität“ (167), einer „paranoiden Angst der kirchlichen Hierarchie vor einem Skandal“ (170) oder eines „Schattendaseins des kirchlichen Strafrechts“ (175) illustrieren, dass die Gutachter(innen) neben der juristischen Sachlage auch grundlegendere Aspekte berücksichtigen und dabei an Kritik nicht sparen. Dass das Gutachten – wie von Jahn/Streng moniert – teilweise die „Anmutung einer Anklageschrift“ (19) hat, ist angesichts der Drastik der Fälle beinahe unvermeidbar. Der Vorwurf einer mangelnden Trennung von Faktensammlung und Bewertung mag allerdings allenfalls punktuell zutreffend sein.
Gerade im Hinblick auf die Identifikation systemischer Ursachen mangelnder Aufarbeitung ist das WSW-Gutachten aussagekräftiger als das kürzlich vorgestellte GW-Gutachten, das insofern hinter dem Standard vergleichbarer Gutachten (etwa der Kanzlei WSW für das Bistum Aachen oder der Kanzlei Brand Wildfeuer für das Bistum Berlin) zurückbleibt. In ihrem Gutachten für das Bistum Köln haben GW konstatiert, dass „nicht von ,systematischer Vertuschung‘ durch Verantwortungsträger des Erzbistums Köln, wohl aber von ,systembedingter oder systeminhärenter Vertuschung‘“ (748) gesprochen werden könne.[2] Demgegenüber spricht WSW im vermeintlich rechtsunsicheren Gutachten deutlich von systematischer Vertuschung und systemischen Ursachen. Insofern ist nicht verwunderlich, dass auch die abschließenden Empfehlungen der Gutachter(innen) teils systemischer Natur sind. Die Liste der Empfehlungen kulminiert auf der letzten Seite in der Feststellung, dass durch eine Erhöhung des Anteils von Frauen in kirchlichen Leitungsfunktionen, „die mit entsprechenden Leitungsfunktionen auch im Verhältnis zu Klerikern ausgestattet sind“ ein innerkirchlicher Kulturwandel begonnen oder wenigstens forciert werden könne (347f.).
Systemische Ursachen
Tatsächlich ist die Frage nach systemischen Ursachen für die Aufarbeitung des Missbrauchs von zentraler Bedeutung. Zwar ist zwischen den systemischen Ursachen der Missbrauchshandlungen und den systemischen Ursachen der mangelnden Aufarbeitung zu differenzieren. Dennoch dürfen beide nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Die mangelhafte Aufklärung ist nicht nur in kurativer, sondern vor allem auch in präventiver Hinsicht fatal. Durch bewusste Vertuschung, unklare Kompetenzbereiche, mangelnde Sachkenntnis und Fahrlässigkeit konnte eine „Kultur des Schweigens“ entstehen. Den Beschuldigten wird attestiert, in voller Kenntnis des Ausmaßes des Missbrauchs den Täterschutz priorisiert zu haben, die Möglichkeiten der Opferfürsorge nicht ausgeschöpft zu haben und teilweise bis heute nicht dazu in der Lage zu sein, das eigene Handeln selbstkritisch zu reflektieren.
Wo ist dein Bruder?
Auch wenn Kardinal Woelki in juristischer Hinsicht zu entlasten ist – was aus der Sicht führender Kirchenrechtler(innen) zumindest fragwürdig erscheint – ist mit der Darstellung der juristischen Sachlage keineswegs die Frage nach moralischen Verantwortlichkeiten beantwortet. So hat der Aachener Bischof Helmut Dieser im Anschluss an die Veröffentlichung eines Gutachtens zu den Missbrauchsfällen im Bistum Aachen in einem Hirtenbrief im November 2020 bekannt: „Jenseits aller rechtlichen Fragen ist es meine moralische Pflicht, und die Pflicht meiner Mitbrüder, dass wir uns der Verantwortung stellen.“ Bemerkenswert ist, dass das Gutachten für das Bistum Aachen ebenfalls von der Kanzlei WSW angefertigt worden war und in Gänze auf der Homepage des Bistums einsehbar ist. Fragen der Rechtssicherheit scheinen hier also der Veröffentlichung nicht entgegengestanden zu haben.
Das Schweigen der Lämmer
Welchen Stellenwert können und sollten die Gutachten allerdings in der künftigen Aufarbeitung einnehmen? Grundlegend ist zunächst: Wenn nicht nur die mangelhafte Aufarbeitung, sondern auch der Missbrauch selbst systemisch begünstigt wurde, missbräuchliche Strukturen der Macht aber unverändert fortbestehen, so könnte der Missbrauch in gleicher oder ähnlicher Weise auch heute und in Zukunft geschehen. Hier liegt die eigentliche Verantwortung, der gerecht geworden werden muss. Klar ist, dass der Verweis auf systemische oder systembedingte Ursachen niemals als Entlastung verstanden werden darf. Zwischen bestimmten Strukturen und individuellem Handeln mag ein Nexus bestehen, nicht aber eine Determination. Der Einzelne bleibt für sein Handeln in vollem Maße verantwortlich. Die Frage der Verantwortung – und letztlich auch von Schuld – muss allerdings weiter reichen. Einerseits sind die kirchlichen Leitungsfiguren verantwortlich dafür, dass einer Kultur des Missbrauchs kein Einhalt geboten wurde, dass Betroffene nicht geschützt und Täter nicht bestraft wurden. Andererseits – und diese Einsicht ist angesichts der systemischen Dimension des Missbrauchs unausweichlich – muss sich jede und jeder Gläubige fragen: „Wo bin ich selbst Teil eines Systems des Schweigens (gewesen), wo bin ich meiner Verantwortung als Teil einer Kirche, in der sexueller oder geistlicher Missbrauch – kurz Machtmissbrauch – über Jahrzehnte wuchern konnten, nicht gerecht geworden?“ Diese kollektive Verantwortung besteht einerseits dort, wo Gemeinden, in denen Betroffene an Mauern des Schweigens abgeprallt sind, wo Mechanismen der Täter-Opfer-Umkehr dazu geführt haben, das Leid der Betroffenen noch zu mehren und dem Handeln der Täter kein Einhalt geboten wurde. Unabhängig von diesen konkreten Fällen muss sich aber jede Gläubige und jeder Gläubige im Hinblick auf die Prävention andererseits aber auch fragen (lassen): „Wie kann ich weiterhin Teil eines Systems sein oder bleiben, in dem Missbrauch vielfach begünstigt wurde und – solange sich das System des Machtmissbrauchs nicht grundlegend ändert – auch heute noch begünstigt wird?“
Die rasant ansteigende Zahl der Kirchenaustritte im Bistum Köln und darüber hinaus deutet darauf hin, dass viele Menschen in der Abkehr von der Kirche die einzig vertretbare Antwort auf dieses System sehen. Bezeichnend ist, dass Menschen den Schritt des Kirchenaustritts nicht deshalb gehen, weil ihnen der Glaube nichts mehr bedeuten würde, sondern im Gegenteil zunehmend gerade deshalb austreten, weil ihnen der Glaube alles bedeutet. Einer solchen Entscheidung ist in jedem Fall mit Respekt zu begegnen. Sie ist aber nicht die einzig mögliche Antwort. Denkbar ist vielmehr auch, die eigene Verantwortung durch ein Drängen auf eine Änderung des Systems einzulösen. Nicht der Austritt ist unverantwortlich, sondern das Verbleiben in Untätigkeit. Gerade aufgrund der Überzeugung, dass die Kirche auch heute noch eine Heilsfunktion einnehmen könnte, liegt es in der Verantwortung der Gläubigen, Sand im Getriebe missbräuchlicher Systeme und Strukturen zu sein. Passivität, Herdenzwang und Schäfchenmentalität dürfen keine Option mehr sein. Ob das Motiv des „Bleibens aus Verantwortung“ auch einen Verbleib der (Letzt)Verantwortungsträger im Amt rechtfertigt, steht freilich auf einem anderen Blatt geschrieben.
Nebelkerzen?
Der übermäßige Fokus auf juristische Gutachten droht, die moralische Verantwortung und vor allem auch systemische Bezüge in den Hintergrund treten zu lassen und die Gutachten damit ihres eigentlichen Zweckes zu berauben: die Betroffenen und nicht die Beschuldigten in den Mittelpunkt zu stellen. In der MHG-Studie, die sich aus interdisziplinärer Perspektive mit der Aufarbeitung des Missbrauchs befasst hat, wird insofern gewarnt, dass einzelne Aufarbeitungsmaßnahmen nicht nur wirkungslos, sondern gar kontraproduktiv sein könnten, wenn zugrunde liegende Machtstrukturen unberücksichtigt blieben:
„Die Sanktionierung einzelner Beschuldigter, öffentliches Bedauern, finanzielle Leistungen an Betroffene und die Etablierung von Präventionskonzepten und einer Kultur des achtsamen Miteinanders sind dabei notwendige, aber keineswegs hinreichende Maßnahmen. Wenn sich die Reaktionen der katholischen Kirche auf solche Maßnahmen beschränken, sind solche grundsätzlich positiven Ansätze sogar geeignet, klerikale Machtstrukturen zu erhalten, da sie nur auf Symptome einer Fehlentwicklung abzielen und damit die Auseinandersetzung mit dem grundsätzlichen Problem klerikaler Macht verhindern.“[3]
Es wäre fatal, wenn juristische Gutachten zu Nebelkerzen würden, die Systeme des Missbrauchs untermauern, statt auf deren Überwindung hinzuwirken und damit dem Schutz Betroffener zu dienen.
Dr. Johannes Ludwig hat Internationale Beziehungen in London, Paris, Boston und Dresden studiert. In seiner Dissertation hat er sich mit der Menschenrechtspolitik des Heiligen Stuhls befasst. Er ist als Doktorassistent am Lehrstuhl für Moraltheologie und Ethik der Universität Fribourg/CH tätig und widmet sich einem Habilitationsprojekt zum Thema: „Macht (in) der Kirche. Konturen eines theologisch-ethischen Paradigmenwechsels“.
Beitragsbild: Michael Carruth, www.unsplash.com
Der Text greift zahlreiche Fragen und Themen auf, die Thomas Schüller in seinem gleichlautenden Beitrag bei feinschwarz.net aufgeworfen hatte:
[1] https://www.erzbistum-koeln.de/export/sites/ebkportal/rat_und_hilfe/sexualisierte-gewalt/.content/.galleries/unabhaengige-untersuchung/Jahn_Streng-Endfassung-Gutachten-zu-RAe-Westpfahl-pp.-Oktober-2020-geschwarzt.pdf.
[2] https://mam.erzbistum-koeln.de/m/2fce82a0f87ee070/original/Gutachten-Pflichtverletzungen-von-Diozesanverantwortlichen-im-Erzbistum-Koln-im-Umgang-mit-Fallen-sexuellen-Missbrauchs-zwischen-1975-und-2018.pdf
[3] https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf, S. 18.
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