Angesichts der aktuellen Ereignisse im Erzbistum Köln stellt Thomas Schüller Fragen zum Umgang mit der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. Und er nimmt auch die kirchlichen Gremien, vor allem das ZdK, in die Pflicht.
Sei Tagen bewegt im Erzbistum Köln die Gläubigen die Frage, warum Kardinal Woelki und sein Generalvikar den ersten, bereits fertiggestellten Untersuchungsbericht einer bekannten Münchener Kanzlei zur Frage, wer im Zeitraum von 1975 bis heute von den Verantwortungsträgern in dieser Erzdiözese möglicherweise Anzeigen von sexuellem Missbrauch vertuscht bzw. nicht sachgerecht verfolgt hat, nicht veröffentlichen wollen. Stattdessen wurde nun ein neuer Gutachter beauftragt, bis zum 18.3.2021 einen ganz neuen Untersuchungsbericht zu dieser Frage zu erstellen. Juristisch und kanonistisch könnte man jetzt viel dazu anmerken, aber dies bliebe an der Oberfläche und ist letztendlich theologisch auch nicht entscheidend.
Nicht bereit, sich mit ganzer Person den Betroffenen von sexueller Gewalt zu stellen.
Willfährige Juristen findet man immer, wenn man mit der Keule des Rechts im Grunde davon ablenken will, dass man nicht bereit ist, sich mit offenem Herzen und ganzer Person den für ihr ganzes Leben gezeichneten Betroffenen von sexueller Gewalt zu stellen und damit existentiell betreffen zu lassen. Und: anschließend die persönlichen Konsequenzen aus der eigenen Schuld zu ziehen.
Auch viele Gläubigen und ihre offiziellen verbandlichen Organisationen schweigen dieses Thema eher verschämt aus
Doch dies scheint nicht nur ein Problem hoher Würdenträger der Kirche zu sein, sondern auch viele Gläubige und ihre offiziellen verbandlichen Organisationen schweigen dieses Thema eher verschämt aus. Verbunden mit der Hoffnung, dass irgendwann die Opfer sexueller Gewalt sterben, sprachlos werden, den Mut verlieren, denen und damit auch sich selbst Stimme zu geben, denen durch Missbrauch die Kehle zugeschnürt wurde. Betroffene sexueller Gewalt kämpfen jeden Tag darum, sich zu entscheiden, ob sie noch angesichts des an ihnen begangenen Seelenmordes weiterleben wollen. Nerven, protestieren, klagen an, lassen nicht locker, markieren eine offene Wunde in der Kirche, deren Glaubwürdigkeit massiv in Frage gestellt wird.
Frage nach denjenigen, die Verantwortung für dieses Leid tragen
In diesen Kontexten kommt mir mein hochbetagt verstorbener Münsteraner Kollege Johann Baptist Metz in den Sinn, der meine Generation von Theologiestudierenden mit seiner Rede von einer leidsensiblen Theologie ins Stammbuch geschrieben hat, auf welcher Seite wir zu stehen haben. Michael Seewald hat hierzu anlässlich des Todes von Metz zutreffend festgestellt: „Dort, wo von Leid die Rede ist, stellt sich auch die Frage nach denjenigen, die Verantwortung für dieses Leid tragen. Genau diese Thematik – das Leid des Menschen und die Verantwortung für dieses Leid von Individuen und Strukturen – ist das, was er unter dem Begriff Neue Politische Theologie zu fassen versucht.“[1]
Die Flucht in die eigene Wehleidigkeit versucht letztlich nur, die eigene Empathie- und Hilflosigkeit zu kaschieren.
Davon ist wenig in den Kreisen der Bischofskonferenzen und des ZdK als Organ des organisierten Laienkatholizismus zu spüren. Sicher: es gibt eine junge Generation von Bischöfen, die sich inzwischen direkt den Gesprächen mit den Opfern stellen, sich von ihrem Leid und ihrem geschundenen Körper und ihrer verletzten Seele berühren lassen. Anders als die Generation vor ihnen, wie diese Tage der emeritierte Bischof von Aachen öffentlich eingestanden hat. Mussinghoff sprach davon, dass er sich bei Gesprächen mit Opfern überfordert gefühlt habe und daher andere Mitarbeiter mit dieser Aufgabe betraut habe. Es schmerzt, dieses Leid, verursacht durch Mitbrüder in einer Täterorganisation wie der katholischen Kirche aushalten zu müssen. Aber diese Flucht in die eigene Wehleidigkeit versucht letztlich nur, die eigene Empathie- und Hilflosigkeit zu kaschieren. Ist nicht in der Weiheliturgie beim Bischof die Rede davon, dass er der erste Diener der Ärmsten zu sein hat? Wie kann man sein Bischofsamt dann so diametral verfehlen, dass man die Opfer von sich fernhält oder wie Kardinal Meisner in Köln verhöhnt?
Das Thema sexueller Missbrauch muss in der katholischen Kirche systemisch betrachtet werden.
Lange bin ich selbst zu sehr auf dieser Spur geblieben, in meiner kritischen Begleitung und Kommentierung des bischöflichen Verhaltens in Vergangenheit und Zukunft. Inzwischen wird mir aber angesichts auch der Empathie- und Sprachlosigkeit zum Beispiel des ZdK immer deutlicher, dass man das Thema sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche systemisch, oder nennen wir es besser, ekklesiologisch betrachten muss. Aus vielen Fällen der direkten Begleitung von Opfern sexueller Gewalt weiß ich nur zu genau, wie oft das soziale Umfeld in Familie, Freundeskreis und Pfarrei den Kindern und Jugendlichen eben nicht geglaubt haben, wenn sie von diesen verbrecherischen Taten berichteten. Ihnen wurde oft nicht geglaubt, wohl aber den Tätern, die man als heilige Männer Gottes nicht anfragen wollte.
Hat jemals ein geschundenes Opfer von sexueller Gewalt in der Kirche vor der Vollversammlung des ZdK gesprochen?
Das Volk Gottes hat sich unwissentlich oder wissentlich mitschuldig gemacht durch Verschweigen, Wegducken und Ignorieren dessen, was doch oft so offenkundig war, dass es jede und jeder wusste. Und dieses Verhalten prägt auch den organisierten Katholizismus bis heute: das Präsidium des ZdK residiert und konferiert bisher gerne mit Bischöfen, die man befragt, wie sie es mit der Aufklärung und Prävention von sexuellem Missbrauch denn so halten. Ehrenwert, aber nicht genug. Hat jemals ein geschundenes Opfer von sexueller Gewalt in der Kirche vor der Vollversammlung des ZdK gesprochen? Haben sich so deren Mitglieder einmal diesen Opfern leibhaftig ausgesetzt? Mir ist nichts davon zu Ohren gekommen. Man agiert wie in den Hinterzimmern schlechter Politik und ist maximal bereit, nichtssagende Grußadressen an die zu richten, von denen man wohl insgeheim hofft, dass sie irgendwann verschwinden mögen, um das kirchliche, laikal organisierte Establishment nicht zu stören, wenn es Reformanliegen besprechen möchte. Nur langsam verändert sich die Sicht, wie die aktuelle Erklärung des ZdK[2] belegt, die die Opfer in den Mittelpunkt stellt. Doch bis dahin gilt: Schweigen der Lämmer – und die Opfer sterben darüber einen qualvollen Tod.
Karfreitag.
[1] Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/theologe-michael-seewald-die-intellektuelle-strahlkraft-des.886.de.html?dram:article_id=464912.
[2] Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/missbrauchsskandal-katholische-kirche-zdk-1.5122323.
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Autor: Thomas Schüller, Univ.-Prof. für Kirchenrecht, Münster
Bild: Pixabay