Auf den letzten Seiten ihrer Familiengeschichte mit dem schönen Titel „Stille Post“ berichtet Christina von Braun von einem aufregenden Fund beim Durchstöbern der Briefe und Tagebücher ihrer verstorbenen Mutter. Eine historische Miniatur zum Klerikalismus als pastoraler Handlungsform. Von Rainer Bucher.
Christina von Braun entstammt einer prominenten protestantischen deutschen Familie: Sie ist die Nichte Wernher von Brauns, der erst den Nationalsozialisten und dann den Amerikanern Raketen baute, die Enkelin von Hildegard Margis, die wegen Verbindungen zum kommunistischen Widerstand im September 1944 verhaftet wurde und kurz darauf an den Folgen der Folter in einem Berliner Frauengefängnis starb, aber auch die Enkelin von Magnus von Braun, der 1917 erster deutscher Reichspressechef war und schließlich 1920 als Regierungspräsident im ostpreußischen Gumbinnen den reaktionären Kapp-Putsch unterstützte, was ihm nach dessen Niederschlagung seinen Posten, nicht aber seine Karriere kostete. Und Christina von Braun, feministisch ausgewiesene, nunmehr emeritierte Berliner Humboldt-Professorin, ist schließlich die Tochter von Hilde von Braun, die als (protestantische) Ehefrau des deutschen Diplomaten Sigis von Braun das Ende des II. Weltkrieges in einer Art goldenem Gefängnis im Vatikan überlebte.
Hilde von Braun nun hatte von 1946 bis 1947 einen priesterlichen Geliebten, und das nicht irgendwo, sondern eben just im Vatikan, eine Affäre, die sie an die Grenze des Selbstmordes und der Trennung vom Ehemann führte, was beides dann schließlich doch nicht geschah. So weit ist alles erst einmal sehr menschlich, also kompliziert und auch ein wenig tragisch.
Doch da ist mehr, etwas Besonderes in der Beziehung zum priesterlichen Liebhaber. Hilde von Braun berichtet, dass ihr priesterlicher Partner angesichts ihrer „Liebe in ‚Wonne und Seligkeit‘ aufgeblüht“ sei. „Allmählich begann sie sein ‚restloses Wohlbehagen‘ stutzig zu machen. Seinem katholischen Glauben gegenüber fand er die Formel, ‚dass er sich gegen das allgemein gueltige verging, aber nicht gegen das Gesetz in sich, seinen inneren Menschen, denn er liebte mich ja, glaubte mich zu lieben‘. Es gebe ‚nichts wichtigeres als die innere Wahrheit‘, fing er schon damals an zu predigen“.1
Als Hilde von Braun „bemerkte, dass sie sich in dieser Beziehung hilflos und seinen Entscheidungen ausgeliefert fühle, antwortete er: ‚Du solltest beten, dass Du auch auf die Hoehe kommst, lies die Psalmen‘. Sie habe gebetet, ‚war aber nicht glücklicher’. Bei anderen Gelegenheiten habe er gesagt, dass er seinen ‚Einfluss als Geliebter nicht ausnutzen wolle, um Dich vom Katholizismus zu ueberzeugen‘. Im Katholizismus sei für alle Platz, ‚aber vielleicht bist Du noch nicht innerlich reif dazu. Vielleicht wenn Dir einmal ein Kind stirbt und schwere Schicksalschlaege kommen, dann wird die Zeit unseres Zusammenseins ihre Fruechte zeigen‘“2.
Sie solle beten und gehorchen.
„Am Morgen nach einer Nacht mit mir las er keine Messe, 24 Stunden darauf ja“ – so Hilde von Braun in ihren Tagebüchern. Ihre Tochter dazu: „Wenn sie ihn nun auf solche ‚Unwahrhaftigkeiten‘ hinwies, sagte er, das sei ‚zersetzende Großstadt-Menschen-Analyse‘. Sie solle beten und gehorchen. ‚Dir fehlt Demut und Guete.‘ Bei den immer heftiger werdenden Auseinandersetzungen warf er ihr vor, ‚dass Gott nicht im Mittelpunkt meines Lebens stehe‘“3.
Als sich Hilde von Braun von ihrem priesterlichen Geliebten trennen will, weil sie die Aussichtslosigkeit der Beziehung sieht, und sie ihm mitteilt, dass, „‚wenn es wieder begaenne, er die Verantwortung truege, ein zweites Mal braechte ich diese Kraft nicht auf‘“, habe er geantwortet: „‚Daran erkenne ich Deine Liebe, aber fuer meine Arbeit bleibst Du doch weiter auf mich konzentriert‘. Das habe sie abgelehnt. Nach einem Monat nahm er jedoch die Beziehung wieder auf. ‚Ich wehrte mich nicht lange. Ich konnte nicht mehr. Aber von diesem Moment an, wo die Verantwortung auf ihm ruhte, empfand er die Beziehung als Buerde. Spaeter nannte er dies dann die Transformation seiner Liebe‘“4.
Der priesterliche Geliebte „begann sich nun zurückzuziehen. ‚Er sah den Weg vor sich, in dem er mir Freund und Priester ist. Ich solle auf ihn verzichten als Mann und ihm versprechen, keinen anderen Geliebten in meinem Leben mehr zu haben‘“. Hilde von Braun gehorcht vorerst und teilt dem Geliebten mit, „dass sie sich von Sigis“, ihrem Ehemann, „trennen werde.“5
„Mir schreibt er, er wäre vernichtet, aber durch mich erst zum wahren Christen geworden.“
Die Geschichte geht schließlich über zwei Jahre, da verlässt der Kleriker Hilde von Braun. Der Grund: Sie will sich nun von ihrem Mann scheiden lassen. Da taucht ein Freund ihres priesterlichen Geliebten auf und teilt ihr mit, dass jener abgereist sei. Sie reist ihm nach, sie treffen sich, sie kauft eine Waffe, denkt an Selbstmord, man reist nach Rom zurück, doch die Beziehung ist beendet. „Darauf“, so Christina von Braun, „bekam er Angst, als Scheidungsgrund genannt zu werden – und ergriff die Flucht“6. Der Kleriker „floh zurück in den Glauben: ‚Mir schreibt er aus der Verbannung, er wäre vernichtet, aber durch mich erst zum wahren Christen geworden.‘“7
Derweil hatte die Affäre auch öffentlich die Runde gemacht. Der Kleriker tat sein Bestes, so Christina von Braun, „Hilde die Schuld an der ganzen Affäre zu geben und ihr Beziehungen mit anderen Männern zu unterstellen.“8 Er selbst offenbarte seinen Kölner Oberen die Affaire, verzichtete auf den Titel „Monsignore“ und war sogar bereit, auf die ihm in Aussicht stehende Professur zu verzichten. Doch der Ehemann zog die mittlerweile bei der Kirche gestellte Anzeige um seiner Ehe willen zurück, der Kleriker wurde Ordentlicher Professor in Bonn, und wäre er es nicht geworden, gäbe es Hubert Jedins monumentale Kirchengeschichte wohl nicht.
Klerikalismus als pastorale Handlungsform
Wir haben nur den Bericht einer Seite und den noch einmal gebrochen durch die Historiografie der Tochter. Es geht also nicht um den Charakter von Hubert Jedin, so merkwürdig er hier scheint, es geht um einige Phänomene des Klerikalismus als pastoraler Handlungsform.
Nimmt man dieses markante Beispiel, dann wäre pastoraler Klerikalismus nicht, wie in früheren Zeiten der Kirchengeschichte, die religiös begründete Herrschaft von Klerikern über Gesellschaft und/oder Kirche, sondern eine religiös begründete Herrschaft, der es in allem um die eigene Person, letztlich um die eigene Erlösung im Hier und Heute geht.
Religiös begründete Herrschaft, der es um die eigene Erlösung im Hier und Heute geht.
Es sind offenkundig drei Elemente, die den Klerikalismus als pastorale Handlungsform charakterisieren: die extreme Selbstbezüglichkeit des Klerikers, die Verfügung über das Archiv religiöser Begriffe und Praktiken als Mittel der eigenen Selbstbezüglichkeit und das alles und alle anderen unterordnende und degradierende Ziel der eigenen Erlösung hier und in transzendenter Perspektive.
Alles erscheint als Zweck zur Selbstfindung, zur persönlichen Weiterentwicklung, der oder die andere wird primär unter der Perspektive der eigenen Existenz wahrgenommen. Die interessengesteuerte extreme Selbstbezüglichkeit eines solchen Klerikalismus arbeitet ganz selbstverständlich mit den diskursiven Autoritäten der christlichen Religion. Alles aber dient dem eigenen, inneren religiösen Weg, es geht immer um ein religiöses „Mehr“, das in allem gesucht und entdeckt wird. Diese außerordentliche Selbstbezüglichkeit geht mit einer umfassenden Abwertung der anderen einher.
Der Klerikalismus startet historisch als kirchlicher Herrschaftsanspruch über die Gesellschaft, wurde mit der „Verkirchlichung“ des Christentums in der Neuzeit zu einem Führungsanspruch über das Leben der Laien, und wird zu einer mehr oder weniger fatalen Identitätstechnik von Priestern. „Etwas sehr Hässliches“ hat Papst Franziskus den Klerikalismus genannt. Er hat Recht. Und gebracht hat er auch nie etwas, auch den Priestern nicht.
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Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Graz und Mitglied der feinschwarz Redaktion.
Von Rainer Bucher u.a. auf feinschwarz erschienen:
Nicht in Idyllen flüchten. Nochmals zur „Kurskorrektur“ von Pfarrer Frings.
Photo: Josh Applegate, unsplash