„Anderssprachige Seelsorge“ gerät im Zeitalter der Migration vermehrt in den Blick. Simon Foppa erforscht ein noch weitgehend unbekanntes Terrain, spricht mit Betroffenen und zeigt Perspektiven für eine Entstaubung des klassischen Blicks auf einen wichtigen Teil der Migrationspastoral.
Das „klassische“ Modell der katholischen Anderssprachigenseelsorge war in vielen Ländern Europas, so auch in der Schweiz, auf die Migration der südeuropäischen «Gastarbeiter» zugeschnitten. Es entsprach ihrem Bedürfnis nach Heimat in einem fremden Land, das nicht unbedingt selbst zur neuen Heimat werden sollte. Ein Teil der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter blieb dennoch permanent in der Schweiz, ohne das Bedürfnis nach einer eigenen sprachspezifischen Seelsorge aufzugeben. Später kamen weitere Zuwanderungsgruppen aus der ganzen Welt dazu. Heute existieren allein in der Schweiz über 100 katholische Migrationsgemeinden. Oft bilden sie jeweils Netzwerke kleiner lokaler Gemeinden. So wird aktuell Seelsorge in mehr als 15 verschiedenen Sprachen gewährleistet. Diese Gemeinden werden oft auch von Angehörigen der zweiten oder der dritten Einwanderungsgeneration besucht, obwohl sich diese sprachlich mühelos in die lokalen Pfarreien integrieren könnten.
Katholische Migrationsgemeinden: von „Heimat auf Zeit“ zu dauerhafter Präsenz
Die Sprache scheint also nicht der einzige Grund zu sein, wieso manche katholische Migrantinnen und Migranten eigene Gemeinden bevorzugen. Für viele Kirchensteuerzahler sind sprachliche Verständigungsschwierigkeiten jedoch eines der zentralen Argumente, das den Unterhalt solcher Strukturen überhaupt legitimieren könnte. Da viele Kirchgemeinden heute unter Priestermangel, Mitgliederschwund und Überalterung leiden, sind sie vielmehr daran interessiert, die Migrationsbevölkerung in die lokalen Pfarreien zu integrieren. Der zivilgesellschaftliche Nutzen von eigenen Gemeinden für Anderssprachige wird vielerorts jedoch kaum wahrgenommen. Ein genauerer Blick könnte neue Gestaltungsoptionen offen legen. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung, konnte ich zahlreiche Einblicke gewinnen und von Migrantinnen und Migranten lernen.
Integration in Pfarreien oder bleibende Eigenständigkeit anderssprachiger Gemeinden?
Die Erfahrung der Migration in eine kulturell und sprachlich fremde Umgebung kann für katholische Migrantinnen und Migranten mit ähnlichen Schwierigkeiten verbunden sein wie für Zuwanderer anderer Religionsgemeinschaften. Je nach kulturellem Hintergrund und religiöser Prägung nehmen manche von ihnen kaum wahr, dass sie einer der im Aufnahmeland etablierten Religionsgemeinschaften angehören.
Fremdheitserfahrungen in der eigenen Religion
Oft sind die Unterschiede bezüglich Glaubenspraxis und Glaubensinhalten zu gross, um als die eigenen wiedererkannt zu werden. Mary, eine asiatische Migrantin, berichtet von ihren Schwierigkeiten, das europäische Verständnis von Religion und Wissenschaft nachzuvollziehen:
«Ich kenne jemanden, der an die Wissenschaft glaubt. Christen glauben an Wissenschaft! Was ist da passiert? [schmunzelt]. Wissenschaft benötigen wir, um diese Dinge herzustellen [zeigt auf den Fernseher]. Wissenschaft ist eben Wissenschaft. Wie kann man aber nur an Wissenschaft glauben?! [lacht]
Was ist das denn?!»
Je nach Herkunftsland und Ausbildung passiert es, dass im Ausland erworbene Schul- und Universitätsabschlüsse in der Schweiz nicht anerkannt werden. Damit verlieren sie im Zusammenhang mit Migration ihren Wert und damit das Potenzial, Handlungsspielräume zu erschliessen. Das gleiche gilt für das mitgebrachte kulturelle Kapital, also die Kompetenzen und die Handlungsrationalität der Zuwanderer. So können Weltanschauungen und Handlungsweisen, die im Herkunftsland als «normal» gelten, in der Schweiz hinterfragt werden oder sogar Unbehagen erregen.
Verlust kulturellen Kapitals verarbeiten
Vanessa, eine Migrantin aus England mit tertiärem Bildungsabschluss, ist ein Beispiel dafür, dass selbst Personengruppen, denen eine «kulturelle Nähe» zur Schweiz attestiert wird, durch kulturelle Fremdheit herausgefordert sind:
«Wissen Sie, als ich in der Schweiz ankam, konnte ich es kaum erwarten, wieder zurückzugehen und in mein ehemaliges Leben zurückzuschlüpfen. Mich nicht dumm fühlen. In England grüsst man die Leute, wenn man sich auf der Strasse begegnet: ‹Hello, how are you doing?› Ich habe das auch hier gemacht, aber Roger [ein Schweizer] hat mir gesagt: ‹Was tust du nur?
Hier sagt man nicht einfach hallo zu jedem, dem man auf der Strasse begegnet.› So musste ich eben diese Regeln lernen.»
Wer im Alltag stets das Gefühl hat, sich aus der Perspektive der Aufnahmegesellschaft «dumm» anzustellen, läuft Gefahr, die Motivation für eigenständiges Handeln und Partizipation an der Aufnahmegesellschaft zu verlieren. Damit wird auch der Handlungsspielraum der Individuen reduziert, da nur noch diejenigen Situationen als realistische Handlungsoptionen wahrgenommen werden, in denen Migrantinnen und Migranten mit ihren Handlungsweisen nicht anecken.
Wer eine Kultur nicht versteht, verliert Handlungsspielräume.
Ähnlich verhält es sich mit den Sprachkompetenzen. Aufgrund ihrer kulturellen und sprachlichen Sonderstellung fällt es vielen schwer, sich in Schweizer Institutionen zu integrieren, die ihnen helfen könnten, neue Ressourcen zu generieren und damit neue Handlungsfelder zu eröffnen.
In diesem Umfeld bieten Migrantengemeinden ihrer Klientel einen «Schonraum» an, in dem ähnliche soziale Gesetzmässigkeiten wie in den Herkunftsländern vorherrschen. Indem sie eine sprachliche und kulturelle Kontinuität gewährleisten, helfen sie, den Kulturschock abzufedern. Gleichzeitig eröffnen sie dadurch Handlungsspielräume, die es Zugewanderten ermöglichen, an ihrem bestehenden Wissen anzuknüpfen und darauf aufzubauen. In Migrantengemeinden können Migrantinnen und Migranten ihre mitgebrachten Sprachkenntnisse, Kompetenzen und kulturell geprägten Handlungslogiken anwenden, um sich neue und für die Anforderungen im Aufnahmeland nützliche Ressourcen anzueignen. Hierzu gehören der Zugang zu migrationsrelevanten Unterstützungsleistungen, Informationen und Hilfsangeboten sowie Bildungsmöglichkeiten. Der grösste Nutzen für das Wohlbefinden ergibt sich allerdings durch die sozialen Anschlussmöglichkeiten, die in diesen Gemeinden angetroffen werden.
Migrationsgemeinden: Schon-, Ermöglichungs- und Ermächtigungsräume
Die meisten Zuwanderer lassen den grössten Teil ihrer Familien und Freunde im Herkunftsland zurück und sind in der Schweiz weitgehend auf sich allein gestellt. Manche leiden daher unter Einsamkeit und Problemen der sozialen Isolation. Freundschaftliche Beziehungen erleichtern nicht nur den Zugang zu Ressourcen, die bei der Etablierung an einem neuen Ort behilflich sein können, sie stellen angesichts der Herausforderungen der Migration auch eine wichtige emotionale Stütze dar, wie dies Seth ausdrückt:
«Wenn du keine freundschaftlichen Beziehungen hast und vieles nicht klappt, ist das deprimierend. In solchen Situationen ist für mich die Gemeinde ein Schongebiet, eine Art Refugium. Dorthin kann ich jederzeit gehen, alles vergessen und zu neuen Kräften kommen.»
Katholische Migrationsgemeinden, aber auch jene anderer Konfessionen, sind nicht nur Netzwerke, sondern auch Interessengemeinschaften, in denen Personen zusammenfinden, die ähnliche Wertvorstellungen, Bedürfnisse und Lebenssituationen teilen. Diese geteilten Grundvoraussetzungen stärken das gegenseitige Vertrauen und vereinfachen damit das Eingehen neuer zwischenmenschlicher Beziehungen. Zur Beschreibung dieser Beziehungen verwenden Migrantinnen und Migranten immer wieder die Metapher der «Familie». Sie unterstreichen, dass sich die Freundschaften in der Gemeinde durch eine besonders hohe Qualität auszeichnen, ähnlich der Familienbande im Herkunftsland.
„Wie Familie“: Qualitätsmerkmal menschlicher Beziehungen in Migrationsgemeinden
Bereits kleine Gesten der Anerkennung wie die Tatsache, dass sie vermisst werden, wenn sie an einem Sonntag nicht zur Kirche erscheinen, oder jemand bei ihnen anruft, um nach ihrem Wohlbefinden zu fragen, tragen dazu bei, der Migrationserfahrung einen neuen Sinn zu verleihen. Zoe drückt dies wie folgt aus:
«Durch die Kirche und die dort versammelten Menschen umarmt mich Gott und sagt mir: ‹Hier kannst du dich zuhause fühlen. Du musst nicht zurückkehren, wirklich nicht.›»
In den katholischen Migrationsgemeinden, die ich kennengelernt habe, herrschen andere soziale Rahmenbedingungen vor als in Schweizer Pfarreien. Hier treffen Migrantinnen und Migranten auf Menschen, die wie sie nach sozialen Anschlussmöglichkeiten suchen. Zudem sind diese häufig offener dafür, Neuankommende mit ihrem jeweiligen sprachlichen, kulturellen und religiösen Hintergrund in die Gemeinschaft und sogar in ihren Freundeskreis zu integrieren.
«Durch die Kirche und die dort versammelten Menschen umarmt mich Gott und sagt mir: ‹Hier kannst du dich zuhause fühlen. Du musst nicht zurückkehren, wirklich nicht.›»
Diese zwischenmenschlichen Kontakte ermöglichen und erweitern die Handlungsspielräume und Ressourcen der Migrantinnen und Migranten und sie bilden eine wesentliche emotionale Stütze angesichts der Herausforderungen der Migration. So werden genau diejenigen Bedürfnisse befriedigt, die Migranten in ihren religiösen Gemeinschaften oft an erster Stelle zu stillen versuchen. So lange Schweizer Pfarreien Zuwanderern keine solche Anschlussmöglichkeiten bieten, werden sie die Rolle der Migrationsgemeinden wohl nicht ersetzen können.
Die im Beitrag erwähnte Untersuchung wurde publiziert in: Simon Foppa: Katholische Migrantengemeinden. Wie sie Ressourcen mobilisieren und Handlungsspielräume schaffen. St. Gallen, Edition SPI, 2015.
ISBN: 978-3-906018-12-6
Der Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Version eines Artikels, der unter dem Titel „Potenzial von religiösen Migrantengemeinden“ in der Zeitschrift Terra Cognita (2016/28) erschienen ist.
(Bild: Buchcover, Foto: Annette Stratmann, „Koffer in Berlin“)