Dass sich hinter wohlklingenden Begriffen der Gleichheit auch strukturelle Ungerechtigkeit identifizieren lässt, zeigt Katja Winkler in ihrer Lektüre des Buches „Gegen Chancengleichheit“.Die politische Debatte um Chancengleichheit, die häufig mit dem Ruf nach „mehr Eigenverantwortung“ und dem Prinzip des „Förderns und Forderns“ einhergeht, wird hierzulande seit der Agenda 2010 eigentlich fast ununterbrochen geführt. Aktuell kommt das Konzept wieder im CDU-Papier „Neue Grundsicherung“, das Kritik am Bürgergeld übt, zum Tragen. Der Sozialstaat funktioniere „immer nur auf einem guten Verhältnis von Solidarität auf der einen Seite und Eigenverantwortung auf der anderen Seite“. Das Bürgergeld sei aber zu sehr Richtung Solidarität ausgeschlagen – und zu wenig Richtung Eigenverantwortung, so Karl Josef Laumann (CDA) in der SZ vom 18.März 24.Längst ist diese Semantik der Chancengleichheit in die Kritik geraten, weil sie nämlich häufig – darauf weisen insbesondere die Sozialverbände immer wieder hin[1] – mit einer Verunglimpfung, Herabwürdigung und Diffamierung von Personen einhergeht. So werden Menschen, die Rechtansprüche auf Transferleistungen haben und geltend machen, z.B. im o.g. CDU-Papier, als „Totalverweigerer“ bezeichnet oder Transferleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, wie die Kindergrundsicherung, z.B. vom FDP-Abgeordneter Frank Schäffler, „Sozialklimbim“ genannt. In sozialpolitischen Debatten beruft man sich in der Regel auf Chancengleichheit, um einen, mehr oder weniger massiven, Rückbau des Sozialstaates voranzutreiben. In diesem Sinne dechiffriert auch César Rendueles – spanischer Soziologe und Hochschullehrer an der Universidad Complutense Madrid, der sich ausdrücklich als Teil der „Linken“ (178) sieht – das Konzept der Chancengleichheit. Er räumt ein, dass die Vorstellung, soziale Gerechtigkeit gehe mit gleichen Ausgangsbedingungen einher, die vor allem durch bildungspolitische Maßnahmen hergestellt werden können, zunächst einmal eine hohe Plausibilität besitzt. Nachdem gleiche Chancen für alle hergestellt sind, können die Menschen in die Eigenverantwortung entlassen werden und müssen sozusagen nur noch ihre Chancen nutzen. Rendueles Hauptkritik betrifft die „raffinierte“ (38)
Vordergründige Plausibilität der Leistung
Verknüpfung der Chancengleichheit mit dem meritokratischen Prinzip, das besagt, dass Ungleichheit in Form von Besserstellung nicht willkürlich sein darf, also nicht auf bestimmten Privilegien, die etwa mit Abstammung, Geschlecht oder Alter in Zusammenhang stehen, beruhen darf. Besserstellung sei vielmehr nur dann legitim, wenn sie durch Anstrengung und Leistung „verdient“ worden ist. Wer würde dem widersprechen? Genau in dieser vordergründigen Plausibilität liegt aber, Rendueles zufolge, das Problem und deshalb spricht er von einer „meritokratischen Perversion des Egalitarismus“ (10), einer „meritokratischen Erpressung“ (61) oder auch von einem „meritokratischen Fegefeuer“ (230). Als Beleg dafür, dass das meritokratische Plädoyer für Leistungsgerechtigkeit häufig eine Verschleierungstaktik ist, führt er empirische Daten an, die zeigen, dass die familiale Herkunft viel entscheidender für Bildungs- und Berufsbiografien ist als die individuelle Leistung. (44)
Menschen grundsätzlich ungleich
Der Autor verfolgt dagegen ein anderes egalitaristisches Projekt, das er in seinem – nicht nur wegen der vielen anschaulichen Beispiele sehr gut lesbaren – kleinen Buch in Umrissen vorstellt. Er greift die alte Frage: „Equality of what?“ auf und warnt vehement davor die aktuell gängige Antwort: „Chancen!“ zu geben. Denn beim Egalitarismus gehe es nicht um eine Art „gesellschaftliche Dopingkontrolle“ (38), durch die Verzerrungen bei der gerechten Belohnung individueller Leistungen aufgedeckt werden. Er kritisiert an dieser Position zum einen, dass Gleichheit kein naturgegebener Ausgangspunkt ist, der nur wieder hergestellt werden muss. Menschen seien vielmehr grundsätzlich ungleich: „Für einen konsequenten Egalitarismus ist Gleichheit nicht Ausgangspunkt, sondern Ergebnis, ein Endziel.“ (43) Zum anderen legt er ausführlich dar, dass Ungleichheiten struktureller Art durch komplexe Wechselwirkungen im sozialen Raum bedingt sind und in Sozialisationsprozessen ständig reproduziert werden. Um diese strukturellen Ungleichheiten einzuhegen, kann also nicht einfach am Individuum angesetzt werden, wie es die Politik der Chancengleichheit suggeriert. „Echte Gleichheit kann nur durch politische Einmischung hergestellt werden; sie ist das Produkt gesellschaftlichen Handelns und einer systematisch gepflegten Demokratie. Egalität ist kein Rohzustand, sondern das Ergebnis komplexer sozialer Anstrengungen.“ (45)
Plädoyer für Verteilungsgerechtigkeit
Auf die Frage „Equality of What?“ ist für Rendueles die richtige Antwort: „Vermögen!“ Er plädiert nachdrücklich für mehr Verteilungsgerechtigkeit und weist darauf hin, dass für Umverteilungsmaßnahmen durchaus auch Gruppen zu gewinnen sind, denen diese gar nicht zugutekommen. Ein aktueller Beleg hierfür ist das Engagement Marlene Engelhorns und der Taxmenow Initiative [2] für Steuergerechtigkeit e.V. Umverteilung stütze den Wohlfahrtsstaat und mache die dazu notwendige Bürokratie finanzierbar.
Das bedingungslose Grundeinkommen lehnt der Autor hingegen ab, nicht zuletzt deshalb, weil in diesem Konzept Aushandlungsprozesse, z.B. um Lohn und Gehalt, eine untergeordnete Rolle spielen. In der Deliberation liegen nämlich für Rendueles die entscheidenden Ressourcen für gesellschaftliche Integration. Auf die Frage: „Was hält die Gesellschaft zusammen?“ antwortet der Soziologe wieder mit: „Gleichheit!“ Dabei stehe ein „effektiver Egalitarismus“ mit demokratischer Sozialisation in Verbindung: „Deliberation ist nicht nur ein Verfahren, um Entscheidungen zu treffen, sondern bietet uns auch die Erfahrung demokratischer Vergesellschaftung unter Gleichen. Sie prosperiert in Räumen dichter Interaktion, und zwar häufig durch oder im Rahmen von intermediären Organisationen […]“ (187)
Wohlfahrtschauvinismus
Das Büchlein ist lesenswert – wobei die Form des Pamphlets der Leser:in schon manchmal mit Sätzen wie „Sich für den Kapitalismus zu entscheiden, bedeutet […] den Tod zu wählen.“ (264-265) auf die Nerven gehen kann. Aber vielleicht ist diese Art zu schreiben auch die richtige Wahl. Denn solange es das Phänomen des Wohlfahrtschauvinismus gibt, der zwar Stimmung gegen Personen, die von Armut betroffen sind, macht, aber das Armutsproblem selbst nicht angeht, ist es relevant, begründet Stellung zu beziehen. Für solche Positionierungen in privaten Debatten oder im öffentlichen Diskurs ist Rendueles Pamphlet zweifellos eine Fundgrube mit reichhaltigem empirischen Material, schlüssigen Argumentationen und nicht zuletzt eingängigen Anekdoten.
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Literaturhinweis: César Rendueles: Gegen Chancengleichheit. Ein egalitaristisches Pamphlet, Berlin: Suhrkamp 2022.
Katja Winkler, PD Dr. theol., ist Assistenzprofessorin am Institut für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholischen Privatuniversität Linz.
[1] Grundsicherung: Sozialverbände üben scharfe Kritik an Bürgergeld-Plänen der CDU – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de)
[2] Marlene Engelhorn: Die unsichtbare Gefährdung der Demokratie | ZEIT ONLINE
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