Sheila Hetis neuer Roman „Reine Farbe“ über Vergänglichkeit und Vergebung wird von Silke Zäh vorgestellt.
Ein Vater liebt seine Tochter. Nach dem Tod des Vaters geht seine Seele in die Tochter über. Zusammen werden sie als Baumblätter wiedererwachen. „Reine Farbe“ ist der neue Roman der kanadischen Schriftstellerin Sheila Heti. Ihr letzter Roman „Mutterschaft“ war in Deutschland ein großer Erfolg. Für ihren Roman „Reine Farbe“ wurde sie 2022 mit dem kanadischen Governor’s General Literary Award ausgezeichnet. Heti schreibt für den New Yorker und die New York Times; ihr abwechslungsreiches Werk vermischt auf raffinierte Weise Elemente von Kunst, Autobiographie und Journalismus.
„Als Gott Himmel und Erde erschaffen hatte, trat er zurück, um die Schöpfung zu betrachten, wie ein Maler von der Staffelei. Dies ist der Moment, in dem wir leben – der Moment, in dem Gott zurücktritt.“ Diese Eingangssequenz gibt der Handlung einen Rahmen. Und die Handlung entspinnt sich in vielen verschiedenartigen Textarten zu einer ersten Version einer Schöpfungsgeschichte. Kurze Kapitel bilden die Geschichte aus einem Geflecht von Gattungen wie: Essay, Roman oder theologischen Abhandlungen, die mal in Dystopien, mal in Utopien ausufern.
Scheinbar leicht zu konsumieren sind diese klein portionierten Abhandlungen über die Protagonistin Mira. Sie zieht von Zuhause aus, arbeitet in einem Lampengeschäft, lernt Anni kennen und verliebt sich in sie. Die erste Version dieser Geschichte ist keine leichte Kost. Miras Vater stirbt. Voller Trauer transformiert sie sich mit ihrem Vater zu einem Blatt. Die Gestalten sind der Schöpfung nach in drei Kategorien geformt: Mira der Vogel, Annie der Fisch, Miras Vater der Bär.
„Im Abkühlen veränderte die Vergangenheit ihren Aggregatzustand.“
Herausfordernd wird es für die/den Leser*in zur Hälfte des Romans: die Transformation zum Blatt findet statt. Die Handlung driftet mal im „wir“, mal im „du“, mal im „Er“ dahin. Die kleinen Geschichten treiben wie mögliche Versionen hinfort: „Das Ich wird ständig bewegt wie Blätter an den Bäumen. Die Blätter zittern und beben wie wir.“ Ein zentrales Thema äußert sich in Miras Bewusstwerdung von Vergänglichkeit, manifestiert in einer Thermoskanne, in der ihre Erinnerungen warmgehalten werden. „So stellte sich das also in der Rückschau dar. Mira hätte eine neue Thermoskanne gebraucht, um es alles aufzubewahren, denn die alte konnte ihre Erinnerungen nicht warm genug halten. Im Abkühlen veränderte die Vergangenheit ihren Aggregatzustand: Einst war sie fest gewesen, jetzt wurde sie zu einem Gas.“
Anziehend und abstoßend wirkt der Text. Meist in schöner Verwirrung schwebt man in der Abfolge theologischer Abhandlungen gepaart mit Literarischem, das in klimapolitologischen Essenzen eine Denk- und Fühlweise der Gegenwart offenbart. „Heute erwärmt sich die Erde im Vorgriff auf ihre Zerstörung durch Gott, der entschieden hat, dass die erste Version des Daseins zu fehlerhaft war.“ Dabei wollte Mira nur die Schönheit der Vergänglichkeit spüren, „dieses Verlangen nach Korrekturen“. Zum Ende könnte der Text eine Gute-Nacht-Geschichte sein, die ein Vater seiner Tochter erzählt. Auch das ist möglich. Vergebung erfährt der Vater durch seinen Tod: „ … [es] geschah etwas mit der Seele des Vaters, sie wurde wiedererweckt zu dem, was er im Moment seines eigenen Todes erfahren hatte: dass alles auf dieser Erde vergeben wird.“ Es folgen weitere Versionen einer Fassung, die den Lesenden die Hoffnung gibt, einer Sehnsucht zu folgen; einer Sehnsucht im Rezipieren derer Texte, die einem zunächst nicht leicht vorkommen, und in ihrer Schwere dem Leben zugewandt sind. Einem Leben mit Gott und in Gott.
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Angaben: Sheila Heti: Reine Farbe. Aus dem Englischen von Thomas Überhoff, Rowohlt Verlag, 224 Seiten, 24 Euro.
Silke Zäh, 1980 in Darmstadt geboren, studierte Vergleichende Sprachwissenschaft und Komparatistik in Mainz. Zwischendurch schreibt sie für verschiedene online- und print-Medien. Als Pressereferentin arbeitet sie seit 2019 für die action 365 in Frankfurt am Main.
Foto: Anna Kumpan / unsplash.com