Vielen Missbrauchstätern mangelt es an Einsicht und Reue. Dennoch haben viele ihre Taten gebeichtet. Dieser Widerspruch gibt Hildegund Keul zu denken.
Bei meiner erneuten Lektüre der MHG-Studie[1] bin ich auf einen seltsamen Widerspruch gestoßen. Auf der einen Seite zeigt die Studie, dass viele Missbrauchstäter sich durch eines auszeichnen: mangelnde bis gänzlich fehlende Einsicht. Sie wollten ihre Verbrechen in dem Ausmaß, in dem sie diese begangen haben, nicht eingestehen.
Nur 30,1 % der Täter gestanden ihre Taten ein, während es in der nicht-katholischen Vergleichsgruppe 40 % waren (MHG-Studie 2018, 163f). Nur 9,1 % zeigten Reue / Unrechtseinsicht (ebd. 166). Wenn sie später mit ihren Taten konfrontiert wurden, war die beliebteste Strategie, die Taten entweder ganz (27,8) oder teilweise (23,4) zu leugnen (ebd. 163f); das „teilweise“ bezog sich meist auf die schwerwiegenderen Tatvorwürfe oder strafrechtlich relevanten Handlungen, oder es wurde die Zahl der Taten oder Opfer bestritten (ebd. 164). Zweidrittel der Täter bagatellisierten ihre Taten und leugneten damit die destruktive Macht ihres Handelns bei den Opfern und Überlebenden.
Die Täter wollen nicht einsehen, was sie gemacht haben.
Das Priestertum aufzugeben oder frühzeitig in Rente zu gehen, kam den wenigsten in den Sinn (13,9 Prozent), und zwar oft erst nach Aufforderung durch die Institution. Täter lassen sich alle möglichen und unmöglichen Gründe einfallen, um ihre Taten zu ‚entschuldigen‘. Die Täter wollen nicht einsehen, was sie gemacht haben, obwohl die Tatsachen klar vor Augen stehen. Dabei gehört eine Kultur von Sündenbekenntnis, Buße und Umkehr zum Kerngeschäft der Kirche und in besonderer Weise zum Priestertum.
Aber: „Eine aufgrund der besonderen religiösen oder moralischen Verantwortung von katholischen Geistlichen vielleicht zu erwartende Haltung, nach einem sexuellen Missbrauch häufiger als andere Sexualstraftäter Reue zu zeigen, lässt sich aus den Daten nicht ableiten.“ (ebd. 290)
Was genau haben die missbrauchenden Priester gebeichtet?
Auf der anderen Seite gaben 38 % der Beschuldigten an, dass sie ihre Taten gebeichtet haben (ebd. 113). Wie passt das mit der Zahl zusammen, dass nur 9,1 % Reue zeigten? Die MHG-Studie schließt daraus: „Beschuldigte Kleriker sehen nicht selten die Beichte als Möglichkeit, eigene Missbrauchsdelikte zu offenbaren.“ (ebd. 17) Dies würde auf ein klares Schuldbewusstsein hinweisen.
Zwischen beiden Punkten besteht ein innerer Widerspruch, denn wer beichtet und bereut, muss auch dazu stehen. Daher frage ich mich: Was haben die Täter eigentlich gebeichtet, ganz konkret? Was haben sie genau über ihre Taten gesagt, mit welchen Worten haben sie diese beschrieben? Die Begriffe „sexueller Missbrauch“ oder „sexualisierte Gewalt“ gehörten bis 2010 bei den meisten Klerikern vermutlich nicht zum aktiven Sprachgebrauch, auch wenn sie davon schon gehört oder gelesen hatten. Der Sprachgebrauch im Beichtstuhl ist traditionell ein ganz anderer. Ich schaue im Internet unter dem Stichwort „Beichtspiegel für Priester“ nach und finde im Anhang I einer Arbeitshilfe der vatikanischen Kongregation für den Klerus (clerus.org, PDF) eine „Gewissenserforschung für Priester“.
Arbeitshilfe: schwerer Missbrauch ist, „wenn ich etwas lehre, was nicht mit dem … Lehramt der Kirche übereinstimmt.“
Die Arbeitshilfe wurde 2011 veröffentlicht, als die Ausmaße von Missbrauch und Vertuschung bereits bekannt waren (die Enthüllungen des Boston Globe geschahen 2002). In der Gewissenserforschung ist auch prompt von schwerem Missbrauch die Rede, aber ganz anders als erwartet. Der Priester soll sich die Frage stellen, ob er sich bewusst ist, dass es „einen schweren Missbrauch darstellt, der den Seelen Schaden zufügt, wenn ich etwas lehre, was nicht mit dem feierlichen oder ordentlichen und allgemeinen Lehramt der Kirche übereinstimmt?“ Die primäre Sorge ist hier, ob der Priester „nach den festgesetzten Riten und Normen, mit echter Motivation, nach den approbierten liturgischen Büchern“ die Hl. Messe feiert.
Auch von Sexualität ist die Rede, allerdings etwas verklausuliert: „Komme ich mit Freude der Verpflichtung meiner Liebe zu Gott nach, indem ich die zölibatäre Enthaltsamkeit lebe? Habe ich mich bewusst auf unreine Gedanken, Wünsche oder Handlungen eingelassen; habe ich unziemliche Unterhaltungen geführt? Habe ich mich unmittelbar in eine Gelegenheit begeben, gegen die Keuschheit zu sündigen? Habe ich meinen Blick in Acht genommen?“
Verschwurbelte Art, über Sexualität zu reden, ohne das Wort in den Mund zu nehmen.
Dieser Gewissenserforschung entsprechend könnte ein Missbrauchstäter beichten: Ich habe nicht immer die zölibatäre Enthaltsamkeit gelebt. Ich habe mich bewusst auf unreine Gedanken, Wünsche und Handlungen eingelassen. Ich habe unziemliche Unterhaltungen geführt. Ich habe mich unmittelbar in eine Gelegenheit begeben, gegen die Keuschheit zu sündigen. Ich habe meinen Blick nicht in Acht genommen.
Aber die Frage ist: Hätte der Täter damit seinen Missbrauch gebeichtet? Davon kann keine Rede sein. Er hätte einen Verstoß gegen seine Zölibatsverpflichtung gebeichtet, aber nicht das Menschenrechtsverbrechen des sexuellen Missbrauchs. Trotzdem könnte er in der Befragung antworten, dass er den Missbrauch gebeichtet hat.
Sexueller Missbrauch als „la part maudite“ (G. Bataille) – der verworfene oder verfemte Teil.
Täter verleugnen die Taten, bagatellisieren sie – und beichten sie dann aber doch irgendwie. Hier zeigt sich, dass sexueller Missbrauch das ist, was Georges Bataille „la part maudite“ nennt, der verworfene oder verfemte Teil. Er ist unsagbar, drängt sich aber immer wieder ins Bewusstsein. Das Verfemte wird außerhalb des Sagbaren gehalten, lässt sich aber dennoch nicht aus der Realität verbannen. Im Gegenteil, je stärker es herausgehalten wird, desto unsäglicher kann es wirken.
Aber diese Sprachlosigkeit findet sich nicht nur beim Missbrauchstäter, sondern auch in der „Gewissenserforschung“ und ihrer verschwurbelten Art, über Sexualität zu reden, ohne das Wort in den Mund zu nehmen. Da hat das Synodalforum „Priesterliche Existenz heute“ wahrlich noch Kärrnerarbeit vor sich. Der part maudite des Missbrauchs kann deshalb so leicht verfemt werden, weil er in einem größeren part maudite stattfindet, der Sexualität. Das Verfemte des Verfemten ist doppelt verfemt. Solange es nicht sagbar ist, können alle getrost wegschauen.
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Hildegund Keul ist apl. Professorin für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Würzburg. Dieser Beitrag gehört zum theologischen Forschungsprojekt „Verwundbarkeiten“, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 389249041. Siehe auch www.verwundbarkeiten.de.
Bild: pixabay.com
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[1] Dreßing, Harald u.a. 2018: MHG-Forschungsprojekt: Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Dt. Bischofskonferenz (https://www.zi-mannheim.de/fileadmin/user_upload/downloads/forschung/forschungsverbuende/MHG-Studie-gesamt.pdf).