Zum Nationalfeiertag der Schweiz stellt Franziska Loretan-Saladin den Roman „Das Flirren am Horizont“ von Roland Buti vor. Er schildert das Familiendrama auf einem Bauernhof in der Westschweiz, berührend und sinnlich.
Es ist Sommer. Der Hitzesommer 1976. Ein Bauernhof im Kanton Waadt, am Rande eines kleinen Dorfs. Es gibt noch traditionelle kleine Bauernhöfe, doch die industrielle Landwirtschaft mit Massentierhaltung wächst selbst in der kleinräumigen Schweiz.
Das Buch packte mich von Anfang an durch seine schwebende Atmosphäre. Es liest sich leicht, und dabei werden alle Sinne angesprochen: Der Bauernhof mit seinen Menschen und Tieren, der zukunftsverheissenden Geflügelzucht im grossen neugebauten Stall, den Gerüchen aus Küche und Garten, dem Summen der Fliegen und des Geigenspiels, dies alles unter der endlosen, drückenden Hitze. Seit Wochen hat es nicht mehr geregnet. Die Natur leidet. Tiere müssen notgeschlachtet werden. Felder werden von der Armee mit Tankwagen bewässert.
eine verletzte Taube und die Katastrophe
Auguste („Gus“) ist 13 Jahre alt und hat Schulferien, aber auch verschiedene Aufgaben auf dem Hof. Gus findet eine verletzte Taube, die nicht mehr fliegen kann. Von nun an begleitet sie ihn auf seiner Schulter sitzend. Am Ende des Buches bringt Gus all die Katastrophen des Sommers mit der Taube in Verbindung. Sie wird für ihn zum Schicksalsvogel, der das Unglück brachte.
In einem langsamen Crescendo steigert sich die Erzählung bis zu ihrem traurigen Ende: Da taucht eine unbekannte Frau auf, eine Freundin der Mutter, und spaltet die Beziehung. Das Pferd des Grossvaters, das Gus täglich spazieren führt, reisst aus und verharrt an einem Waldrand. Der Grossvater, der zuvor beim Pferd im kühleren Stall geschlafen hat, zieht mit in das kleine Wäldchen, wo das Pferd schliesslich stirbt. Um den Küken bei der Hitze etwas mehr Luft zu geben, öffnet der Vater das Dach des grossen Hühnerstalls mit der Geflügelzucht. Die Mutter zieht aus in die Stadt, zu ihrer Freundin. Gus‘ Schwester Léa spielt erfolgreich ihr erstes Geigenkonzert, hat sich aber de facto von der Familie verabschiedet. Der Vater wird von Nachbarsbauern verspottet, weil seine Frau mit einer anderen Frau zusammenlebt. Es kommt zu einer Schlägerei. Als er Rausch und Schmerzen ausschläft, bringt ein heftiges Gewitter Scherben, Überschwemmung und Tod in den Hühnerstall. Rudy, der Knecht mit leichtem Down-Syndrom, der stets treu und zuverlässig arbeitete, findet bei der Inspektion der Zerstörung auf tragische Weise den Tod. Ein Balken wirft ihn zu Boden, und er ertrinkt im Wasser mit den toten Küken. Der Hof und mit ihm der Bauer sind am Ende.
Trost
Fünfundzwanzig Jahre später blicken Gus und Léa zurück auf die damaligen Ereignisse. Der Vater hat zwar mit knapper Not den Hof behalten können, jedoch ohne die einst so vielversprechende Geflügelzucht. Er lebte allein, gerade mit dem Nötigsten, nachdem auch Sohn und Tochter ausgezogen waren. Nun sollen die landwirtschaftlichen Geräte versteigert werden. Der Vater will nicht dabei sein. Er hat sich versteckt beim kleinen Wäldchen, wo damals Grossvaters Pferd den Tod gefunden hatte. Nachdem Gus und Léa ihn gefunden haben, sitzen sich lange schweigend im Gras. Das heisere Brummen des Bauern deutet der Erzähler als Trost, den der Vater in diesem Moment in den Tiefen seines Innern gefunden hatte.
So tragisch die Geschichte endet, so poetisch und mit viel Liebe zu den Personen schreibt Roland Buti von einer vergangenen Zeit. Seine Sprache ist stets nahe an Dingen und Menschen. Mit einer Prise Humor lässt er die Leserinnen und Leser mit den verschiedenen Personen mitleben, auch als Gus seine erste Liebe in der von vielen gemiedenen Mado entdeckt.
und die Taube?
Und die Taube? Gus meint: „Ich weiss nicht, welche Bedeutung weissen Tauben bei Weissagungen in der Antike zukam, aber für mich war dieser Vogel eindeutig ein schlechtes Omen, ein verletzter Vogel, dessen Auftauchen in unserer Mitte uns hätte warnen sollen.“ (S. 164) Nach der Katastrophe im Hühnerstall und dem Tod Rudys schleuderte er das Tier wie einen Stein aus dem Fenster – und sie konnte wieder fliegen. Allerdings war ihr die Anstrengung zu viel, sodass sie in den Garten stützte, unmittelbar in der Nähe des Nachbarkaters…
Text und Bild: Franziska Loretan-Saladin, katholische Theologin und Mitglied des Redaktionsteams von feinschwarz.net. Sie arbeitet u.a. als Lehrbeauftragte für Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.
Buch: Roland Buti, Das Flirren am Horizont. Roman, Zürich (Nagel & Kimche) 2014, 185 S., ISBN 978-3-312-00636