Das Volk Gottes ist die große Unbekannte in der Kirche. Es braucht daher eine entdeckungsfreudige und zugleich befremdungsfähige Ethnologie des Volkes Gottes, meint Birgit Huber.
Seit einigen Jahren herrscht in der Pastoral in Mitteleuropa zunehmende Verunsicherung, teilweise auch Ratlosigkeit und Enttäuschung. Mit welchen Erfahrungen heutiger Menschen soll und kann sie überhaupt (noch) Kontakt aufnehmen, und auf welche Weise? Welche Sozialgestalten und Kommunikationen nach innen und nach außen hin muss sie aufbauen, damit darin das Evangelium entweder in Wort und Tat oder in beidem erfahrbar wird?
Pastoral heute – Verunsicherung, Ratlosigkeit, Enttäuschung
Bereits aus den Jahren 1989 und 1999 liegen repräsentative Zahlen aus der Schweiz vor, die darauf hindeuten, dass KatholikInnen überdurchschnittlich dazu neigen, religiöse Inhalte verschiedener Herkunft zu kombinieren (sog. „Typus synkretistische Christen“, 30,2 % der Befragten). Sie stimmen etwa dem Glauben an die Auferstehung Jesu Christi und einer Wiedergeburt der Seele gleichzeitig zu.[1] Auch im innerkatholisch-religiösen Feld herrscht Pluralisierung: Katholiken fühlen sich mehr als einer religiösen Tradition aus dem katholischen Kontext zugehörig und praktizieren diese parallel.[2] So kombinieren zum Beispiel junge katholische Frauen und Männer Aktivitäten im Rahmen von Movimenti (wie der eucharistisch-marianischen Lorettobewegung) mit dem Besuch freikirchlicher oder freikirchlich inspirierter Events, Lobpreisabenden und Anbetungsmarathons.
Dehierarchisierungen erschüttern die Pastoral.
Auch Dehierarchisierungsprozesse im religiösen Feld erschüttern die Pastoral. So werden etwa ehrenamtlich in katholischen Pfarren tätige Frauen von Diözesen zu religiösen Spezialistinnen ausgebildet und für die partizipative Leitung in den Grundvollzügen Pastoral, Liturgie und Diakonie eingesetzt.[3] Und die meisten Katholiken schlagen ohnehin als „Pilger“ (Danièle Hervieu-Leger) in den Pfarren auf zu Zeiten der Lebenswenden Taufe, Kommunion, Trauung und Tod. Sie sind „nur“ alle heiligen Zeiten einmal da – aber in dem Moment voller Hoffnung auf Segnung und Segnen. So wünschen sich Eltern meist eine klassische Taufe und keine „Notlösung Segensfeier“, obwohl sie bereits in der zweiten Generation entkirchlicht sind.
„What the hell is going on here?“ (Clifford Geertz)
All diese Beispiele sind Ausprägungen eines „multifaceted, choice Catholicism“, aufgrund dessen sich die katholische Kirche innerhalb eines Zeitraums von 500 Jahre zum dritten Mal neu erfinden muss.[4] Haupt- und Ehrenamtliche in den Pfarren sind hier oft am Ende mit ihrem Erfindungsreichtum. Sie reagieren besonders in der Sakramentenvorbereitung mit Frustration und Erschöpfung. Und in der Mitte der katholischen Kirche entsteht eine Welle von Sympathie für Evangelisierung und „missionarisch Kirche sein“ in der eigenen Gesellschaft, inspiriert von Freikirchen, manifest in Büchern wie dem „Mission Manifest“, höchst umstritten, explizit unterstützt von den Bischöfen in deutschen Bistümern und österreichischen Diözesen. Überall ist der Bedarf an Wissen über Formen von Spiritualitäten, die der Pastoral bisher fremd waren, inzwischen groß, um (wieder) handlungsfähig zu werden. So fordert etwa Martin Hochholzer: „Deshalb sollte eine missionarisch denkende Kirche offen sein für vielfältige Ausdrucksformen des Glaubens und auch für Experimente.“[5]
Schluss mit falschen Vertraulichkeiten
Um diese vielfältigen, der Kirche fremden Ausdrucksformen von Glauben zu identifizieren, braucht es geeignete Methoden. Diese werden von den Wissenschaftsdisziplinen Ethnologie/Europäische Ethnologie in Form der Ethnografie zur Verfügung gestellt. Ethnografie ist eine Forschungshaltung und umfasst spezifische Herangehensweisen und Methoden. Ihr Gegenstand ist „das Fremde im Eignen“ und ihr Blickwinkel ist das „Befremden des Eigenen“. Die ethnografische Vorgehensweise lässt sich wie folgt beschreiben: „Das weitgehend Vertraute wird (betrachtet) als sei es fremd, es wird nicht nachvollziehend verstanden, sondern methodisch ‚befremdet‘: es wird auf Distanz zum Beobachter gebracht.“[6]
Distanzieren, um wieder anschlussfähig zu werden
Es geht darum, selbstverständlich Hingenommenes der eigenen Gesellschaft zu einem fragwürdigen Gegenstand zu machen. Durch die Entwicklung dieses neuen Blicks gelingt es, „eine Fachlichkeit und Professionalität voranzutreiben, die sich im Modus einer falschen Vertraulichkeit mit der eigenen Kultur nicht mehr weiterentwickeln kann.“[7] Der Pastoral ist die Form des Volkes Gottes verloren gegangen, die ihr jahrhundertelang vertraut war. Nun ist es an der Zeit, falsche Vertraulichkeiten aufzugeben. Pastoraltheologie muss sich methodisch von ihrem Gegenstand distanzieren, das „Volk Gottes“ zum unbekannten Wesen machen – und damit die eigene Fachlichkeit und Professionalität vorantreiben und wieder anschlussfähig werden an die Erfahrungen heutiger Menschen.
Annäherung an das „zu Fremde“
Zudem kann auf Basis des ethnografischen Blicks auch das „zu Fremde“ zum Forschungsgegenstand werden. Im katholischen Feld wäre dabei zu denken an „inoffizielle Praxen“ wie eucharistische Wandlung durch Laien und Frauenpriesterweihe, die Praxis des Kommunionempfangs durch Wiederverheiratete, Integration von Homosexuellen abseits von offiziellen Haltungen, widerständige Gruppierungen wie die „Priesterinitiative“ oder bekennende katholische Feministinnen, die sich genötigt fühlen, aus Protest aus der Kirche austreten – und nicht zuletzt die unauffälligen KatholikInnen in den Pfarren, die an die Auferstehung Jesu Christi und die Wiedergeburt der Seele gleichzeitig glauben. So fremd, so häufig.
Wohlerprobte Methoden
Die wissenschaftlichen Vorgehensweisen des methodischen Befremdens sind in der Ethnologie, der Europäischen Ethnologie und der Kultursoziologie traditionsreich und wohlerprobt: Erheben und Explizieren des Alltagswissens (Alfred Schütz), menschliches Verhalten als inszenierten Akt betrachten (Erving Goffman), Phänomene mit der heuristischen Annahme in den Blick nehmen, sie seien methodisch hervorgebracht, ein ‚doing being‘ (Harold Garfinkel). Der Einsatz verschiedener Methoden ist in der Ethnografie situativ und „anschmiegsam“, ganz an das Forschungsfeld angepasst. Und die Forscherin/der Forscher nimmt ganz und gar an den Handlungen der von ihm begleiteten Akteure teil, sie/er betreibt „teilnehmende Beobachtung.“ Dies kann vom Wetttrinken beim Firmvorbereitungswochenende bis zum gemeinsamen Praktizieren von Zungenrede im charismatischen Umfeld, vom Mitjubeln beim Mega-Lobpreisevent bis zum Mitfeiern individuell kreierter alternativer Tauf- und Beerdigungsrituale gehen.
Hinein ins Experiment!
So experimentell, wie Menschen heute ihre Glaubensformen leben, so experimentell müssen auch Pastoraltheologie und pastorale Praxis werden. So können sie sich dem einst (anscheinend) so vertrauten, nun so fremden „Volk Gottes“ annähern.
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Dr. Birgit Huber ist promovierte Ethnologin und Mitarbeiterin der Diözese Feldkirch.
[1] Michael Krüggeler, Rolf Weibel: Vom antimodernen Katholizismus zum vielgestaltigen „Volk Gottes“: Die Entwicklung der katholischen Kirche in der Schweiz. In: Martin Baumann, Jörg Stolz (Hg.): Eine Schweiz – viele Religionen. Risiken und Chancen des Zusammenlebens. Bielefeld 2007, S. 100-112, hier S. 110.
[2] Zur dieser „reflexiven hybriden Katholizität“ siehe Birgit Huber: Reflexive hybride Katholizität – gelebte Pluralisierung im katholisch-religiösen Feld. In: Anja Schöne, Helmut Groschwitz (Hg.): Religiosität und Spiritualität. Fragen, Kompetenzen, Ergebnisse. Münster 2014, S. 215-252.
[3] Dies geschieht in deutschen Bistümern in „Seelsorgeteams“, in österreichischen Diözesen in „Pastoralteams“.
[4] Staf Hellemans: From ‚Catholicism Against Modernity‘ to the Problematic ‚Modernity of Catholicism‘. In: Ethical Perspectives 8/2, 2001, S. 117-127, hier S. 124.
[5] Martin Hochholzer, Außenblick. In der Begegnung mit dem Anderen Mission und Kirche neu verstehen. In: Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral Hg.): „Lass mich dich lernen…“. Mission als Grundwort kirchlicher Erneuerung (KAMP kompakt 4), Erfurt 2017, S. 68-96, hier S. 94.
[6] Klaus Amann, Stefan Hirschauer: Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: Stefan Hirschauer, Martin Hochholzer (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt 1997, S. 7-52, hier S. 12.
[7] Ebd., S. 9 f.
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