Karl Christian Friedrich Krause ist ein zu Unrecht kaum bekannter Denker der philosophischen Moderne. Benedikt Paul Göcke demonstriert seine Diskursgrenzen überschreitende Aktualität an aktuellen Geschlechterdebatten.
Eine naturrechtliche Begründung der Menschenrechte, die dafür argumentiert, dass es ein metaphysisches Wesen des Menschen gibt, welches wir nicht nur hinreichend erkennen können, sondern auch als normatives Ideal der politischen Gestaltung von Gesellschaft und Kirche verwenden können, steht in den gegenwärtigen theologischen Reformdebatten im Umfeld des synodalen Weges oft vor verschlossener Tür. Unzeitgemäß, überwunden, veraltet scheint das Naturrecht zu sein, wie ein Schlüssel, der nicht mehr ins Schloss der Freiheit passt.
Tür zur Selbstverwirklichung verriegelt?
Schlimmer noch: Das Naturrecht erscheint einigen geradezu selbst das Schloss zu sein, das die Tür zur freien Selbstverwirklichung des Menschen fest verriegelt. Ist es etwa nicht das lehramtliche Festhalten an einer natürlichen Ordnung der Dinge, also an der Idee, dass es etwas der menschlichen Verfügungs- und Gestaltungsmacht Vorgelagertes gibt, das zu unermesslichem existentiellen Leid auf Seiten derer führt, die in dieser Ordnung keinen Platz finden können oder sie als zutiefst ungerecht empfinden? Und geht das Naturrecht nicht Hand in Hand mit der Metaphysik? Ist die Metaphysik nicht der Motor des Naturrechts, da dort die Begründungsleistung für jenes erbracht wird?
Normative Schöpfungsordnung
Wer Metaphysik betreibt, wer mit metaphysischen Wahrheitsansprüchen auftritt, der scheint ja gewissermaßen einen direkten Draht zum Willen Gottes und in Eins damit Einblicke in die normative Schöpfungsordnung für sich zu reklamieren. Und resultiert aus dieser Reklamation nicht die Macht der Proklamation, die nolens volens auf so vielen Ebenen kirchlichen Lebens missbrauchsbegünstigende Strukturen mit sich bringt? Naturrecht und Metaphysik, das hört sich beides an nach November; das steht zurecht vor verschlossener Tür, so der Tenor in gegenwärtigen theologischen Diskursen.
Naturrecht ist nicht gleich Naturrecht
Naturrecht aber ist nicht gleich Naturrecht, und auch die Metaphysik hat mehr als ein Gesicht. Niemand wusste das besser als Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832), jener Jenaer Privatdozent, der als Meisterschüler Johann Gottlieb Fichtes und Vertrauter Arthur Schopenhauers wohl eine der seltsamsten philosophisch-theologischen Rezeptionsgeschichten der Moderne sein eigen nennen darf: Obwohl die Jenaer begriffsschriftliche Tradition, die in Gottlob Frege, dem Vater der analytischen Philosophie, ihren Höhepunkt finden sollte, mit Krause begann, und obwohl noch Nicolai Hartmann Krause in einem Atemzug mit Fichte, Hegel und Schelling als einen der führenden Köpfe des Deutschen Idealismus bezeichnete, ist er seit Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Heimatland fast vollständig in Vergessenheit geraten.[1]
Spuren Krauses im Pontifikat von Papst Franziskus
Anders in Spanien und Lateinamerika: Dort galt Krause bis zur Diktatur Francos als einer der größten deutschen Philosophen, denn Krauses Philosophie ermöglichte und prägte zu großen Teilen nicht nur die spanische und lateinamerikanische Moderne, sondern wurde in Gestalt des spanischen und lateinamerikanischen krausismo auch zur historischen Brutstätte der lateinamerikanischen Befreiungsphilosophie und Befreiungstheologie. Die subkutanen Spuren der Philosophie Krauses lassen sich daher mühelos bis in das Pontifikat von Papst Franziskus nachzeichnen.[2]
Positive Freiheit
Krauses Naturrecht, das er vor dem Hintergrund seiner metaphysischen Alleinheitsphilosophie entwickelt, scheint mir ein Naturrecht zu sein, das, im Gegensatz zu anderen naturrechtlichen Entwürfen, kein Hindernis, sondern durchaus der Schlüssel zur freien Selbstverwirklichung des Menschen sein kann. Der Grund: Freiheit ist schlicht die leitende Maxime der gesamten Philosophie Krauses. Im Gegensatz zu einem rein formal bestimmten Freiheitsbegriff, der oft auf einen negativen Freiheitsbegriff im Sinne einer Freiheit von Einschränkungen bestimmter Art hinausläuft, vertritt Krause allerdings einen material gehaltvollen Begriff von Freiheit. Wahre Freiheit des Menschen, so Krause, ist nicht nur negative Freiheit von, sondern auch und vielmehr positive Freiheit für die Verwirklichung des Wesens des Menschen, was für Krause letzten Endes bedeutet, dass der Begriff der Freiheit impliziert, dass jeder Mensch – unabhängig von Geschlecht, Herkunft und körperlicher Konstitution – einen moralischen wie universalrechtlichen Anspruch darauf hat, dass ihm die gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen werden, dass er ein menschenwürdiges Leben führen kann.
Recht auf das Recht gesellschaftlicher Partizipation
Wir selber, als Teil der Menschheit, sind aus Sicht Krauses daher unmittelbar zur politischen Partizipation im Sinne einer global governance in die Pflicht genommen, um die gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechend zu gestalten: Nahrung, ein Dach über dem Kopf, Bildung, Versammlungsorte, schöne Städte, Freiheit von Diskriminierung, Möglichkeiten zur unmittelbaren Einbindung in gesellschaftliche Entscheidungsprozesse sind für Krause dabei nur ein Teil der materialen Bedingungen, die geschaffen werden müssen, damit ein wahrhaft freies und menschenwürdiges Leben für jeden Menschen möglich ist. Jeder Mensch hat, so Krause – Hannah Ahrendt vorwegnehmend – ein Recht auf das Recht gesellschaftlicher Partizipation. Jeder Mensch hat, so Krause – Amartya Sen und Martha Nussbaum antizipierend – Anspruch auf die materiellen Güter, die er zu einem menschenwürdigen Leben braucht.
Absolute Gleichwertigkeit von Mann und Frau
Da jeder Mensch, so Krauses Naturrechtslehre weiter, seinem Wesen nach ein individuelles Abbild Gottes ist, jeder Mensch, metaphysisch gesprochen, eine absolut gleichberechtigte Idee Gottes ist, und daher jeder Mensch auf seine Weise die Idee der einen Menschheit, die Idee der einen Humanität, ausdrückt, folgt für Krause selbstverständlich, dass „[a]lle Menschen gleich sind, sie sind neben, nicht unter einander, kein Mensch ist dem andern Unterthan.“ (Krause 1890: 127). Im Gegensatz zu vielen seiner chauvinistischen Zeitgenossen, hat Krause allerdings ernst gemacht mit den weiteren Implikationen der Idee der Gleichberechtigung. Denn für Krause war offenkundig, dass die Gleichwertigkeit aller Menschen die absolute Gleichwertigkeit von Mann und Frau in allen Bereichen des Lebens impliziert:
„Mann und Weib sind der Menschheit gleich wesentlich, also das Weib dem Manne in keiner Hinsicht untergeordnet. Das Weib ist in allen Kräften des Geistes und des Gemüts und des Leibes zu allen Theilen der menschlichen Bestimmung so fähig, so originell, als der Mann.“ (Krause 2022: 102-103).
Ansätze einer gendergerechten Sprache
Um die Gleichwertigkeit von Mann und Frau auch sprachlich hervorzuheben, schlug Krause daher bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts Ansätze einer gendergerechten Sprache vor, um diese Gleichwertigkeit auch sprachlich sichtbar zu machen:
„Dem Weibe Wissenschaft absprechen, sagen: es sei nicht für die Wissenschaft bestimmt, heisst soviel als ähnlicherweise: es soll bloss einen Leib, keinen Kopf haben. Mann und Weib allhinsichtlich gegenartig wesenheitgleich, gliedbaulich, gleich wesenhaft, in gleich wesentlicher, eigenthümlicher Vortrefflichkeit. Das Weib ist Männin, der Mann Weib(n)er, Frauer.“ (Krause 1900: 474).
Gegen die Unterdrückung der Frau durch den Mann
Krause wendet sich aus naturrechtlicher Sicht konsequenterweise vehement gegen die Unterdrückung der Frau durch den Mann und fordert im Sinne des Differenzfeminismus die Abschaffung gesellschaftlicher Strukturen, die die absolute Gleichwertigkeit von Mann und Frau verhindern:
„Das weibliche Geschlecht ist eben so allseitiger, eigenthümlicher und harmonischer Bildung fähig als das männliche; und die Menschheit selbst bleibt so lange nur mangelhaft und theilweis gebildet, als das schöne, schwächere Geschlecht der Weiber von der rohen Kraft der Männer undankbar und fühllos unterdrückt, in irgend einem Theile menschlicher Bestimmung hinter dem männlichen zurückbleiben muß. Tugend und Liebe, Wissenschaft und Kunst, Recht und Religion, alle wollen erst auf männliche und weibliche Weise eigenthümlich gestaltet und vollendet sein, ehe die Menschheit sich rühmen kann, sich allseitig harmonisch ausgesprochen zu haben. Erst männliche und weibliche gleichförmige Bildung, in freiem harmonischen Wechselspiele, ist der Triumph der Menschheit.“ (Krause 2022: 103).
Wertvoller Impuls
Für gegenwärtige theologische Debatten scheint mir der naturrechtliche Ansatz Krauses, obschon eingebettet in eine hochkomplexe monistische Einheitsmetaphysik, ein wertvoller Impuls zu sein, da er sowohl die Würde des Menschen unabhängig von diskurs- und anerkennungstheoretischen Geltungsdebatten sowie deren Problemen, als etwas dem Menschen Vorgelagertes und damit unbedingt Geltendes begründet, also auch die Idee der absoluten Gleichwertigkeit aller Menschen metaphysisch letztbegründet und uns so ein Ideal an die Hand gibt, zu schauen, wo und an welchen Stellen in Gesellschaft und Kirche diesem Ideal noch nicht entsprochen wird. Wie Krause es formuliert:
„Daher behaupte ich, daß das Überlieferte, als solches, und deßhalb, weil es überliefert worden, kein Recht, noch Gültigkeit, habe, für alle Zeiten zu bestehen, sondern bloß, wenn und soweit es noch jetzt zeitgemäß ist.“ (Krause 1820: xxxviii).
Dr. Benedikt Paul Göcke ist Professor für Religionsphilosophie und Wissenschaftstheorie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bochum.
[1] Siehe auch Göcke (2012), Göcke (2018), Göcke (2021).
[2] Wie Dierksmeier (2016: 5) es nach einer Analyse der päpstlichen Enzyklika Laudato si formuliert: „Wenn man die Philosophie Krauses mit den Schriften des Papstes vergleicht, so bemerkt man sogleich große Übereinstimmungen beider Denker. Diese treten besonders klar hervor in ihrer jeweiligen kosmopolitischen Ausrichtung auf das Ziel einer aus verantwortlicher individueller wie institutioneller Freiheit zu bewirkenden Befriedung der natürlichen wie sozialen Lebensverhältnisse.“
Verwendete Literatur:
Dierksmeier, Claus. 2016. „Umwelt als Mitwelt. Die päpstliche Enzyklika Laudato si´ und der argentinische krausismo.“ In: Kirche und Gesellschaft. Vol. 428. 3-16.
Göcke, Benedikt Paul. 2012. Alles in Gott? Zur Aktualität des Panentheismus Karl Christian Friedrich Krauses. Friedrich Pustet.
Göcke, Benedikt Paul. 2018. The Panentheism of Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832). From Transcendental Philosophy to Metaphysics. Oxford, Berlin: Peter Lang.
Göcke, Benedikt Paul. 2021. „Karl Christian Friedrich Krauses Einfluss auf Arthur Schopenhauers ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘“ In: Archiv für Geschichte der Philosophie. Vol. 103 (1). 148-168.
Krause, Karl Christian Friedrich. 1820. Die die ältesten Kunsturkunden der Freimaurerbrüderschaft, mitgetheilt, bearbeitet und in einem Lehrfragstükke urvergeistiget. Zweite, neubearbeite, mit dem Lehrlingsrituale des neuenglischen Zweiges der Bruderschaft, sowie mit einigen anderen Kunsturkunden und Abhandlungen vermehrte Ausgabe. Erster Band. In zwei Abtheilungen. Dresden: Arnoldinische Buchhandlung.
Krause, Karl Christian Friedrich. 1890. Das Eigenthümliche der Wesenlehre nebst Nachrichten zur Geschichte der Aufnahme derselben, vornehmlich von Seiten deutscher Philosophen. Aus dem handschriftlichen Nachlasse des Verfassers herausgegeben von Dr. Paul Hohlfeld und Dr. August Wünsche. Leipzig: Otto Schulze.
Krause, Karl Christian Friedrich. 1900. Der Menschheitbund nebst Anhang und Nachträgen. Aus dem Handschriftliche Nachlasse von Karl Chr. Fr. Krause herausgegeben von Richard Vetter. Berlin: Verlag von Emil Felber.
Krause, Karl Christian Friedrich. 2022. Das Urbild der Menschheit. Ein Versuch, herausgegeben und eingeleitet von Benedikt Paul Göcke und Johannes Seidel SJ. Hamburg: Meiner. Philosophische Bibliothek.
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