Grundlage von Glaube und Kirche ist – was nochmal eigentlich? Ach ja, die Bibel. Katrin Brockmöller, Direktorin des Katholischen Bibelwerks, erläutert, auf welche Weise Bibel in Gemeinde und Leben wirksam werden kann.
„Ich bewundere, wenn ein Mann ständig seine heiligen Texte rezitiert!“ Mit dieser Aussage würde ich mein persönliches Umfeld vermutlich schwer irritieren. Doch ist es eine von vielen Möglichkeiten, das erste Wort und den zweiten Vers aus Psalm 1 in modernes Deutsch zu übertragen.
In der Einheitsübersetzung liest sich derselbe Satz so: „Wohl dem Menschen, … der über seine Weisung nachsinnt Tag und Nacht.“
Ebenso ginge auch folgende Übertragung: „Glücklich sind die Frau und der Mann, die das Leitmotiv ihres Lebens gefunden haben.“
Drei Übersetzungen, drei Interpretationen
Es ist keine neue Einsicht und doch verblüffend: Je nach Übersetzung eines biblischen Verses entstehen neue Assoziationen und Deutungen. Die bewundernde Beschreibung „eines Mannes, der ständig seinen heiligen Text rezitiert“ würde derzeit wohl in einen muslimischen Kontext eingeordnet werden. In einer Gesprächsrunde würde dieser Satz dann vermutlich noch vor dem Wissen um den Zusammenhang von Koran und Rezitation ziemlich schnell eine Debatte über „Islamisierung“, „Flüchtlinge“ oder „Terrorgefahr“ auslösen. Vielleicht auch Bilder von verletzten oder toten Menschen aus Paris, Brüssel oder Istanbul in Erinnerung rufen.
Sicher nur wenige Menschen denken beim Hören dieser ersten Variante an einen christlichen Studenten (im Hebräischen steht wörtlich: „Mann“), der sich auf eine Prüfung in Bibelkunde vorbereitet, an eine Novizen, der eine Psalmodie übt oder an einen Juden beim Studium der Tora. „Religiöse Texte, die tatsächlich gelesen werden“ und der christliche Glaube – beides hat derzeit im allgemeinen Bewusstsein nicht sehr viel miteinander zu tun. Und das bevorstehende Lutherjahr oder die Neuausgaben von Lutherbibel und Einheitsübersetzung werden daran wohl auch nicht viel ändern.
Die zweite oben zitierte Variante des Verses nach der Einheitsübersetzung klingt gewohnt kirchlich und ein bisschen langweilig. Sie wirkt lebensfremd, weil sie für die meisten weit weg ist von der eigenen Erfahrung. Sie ist sprachlich korrekt, aber sie provoziert nicht zur inneren Auseinandersetzung.
Die dritte Variante ist losgelöst vom biblischen Gesamttext religiös schwer einzuordnen. Sie könnte auch ein Zitat aus einem Lebensratgeber oder einer psychologischen Kolumne sein. Dennoch trifft sie die Erfahrung vieler Menschen, die eben oft wirklich einen Satz oder ein Leitmotiv in sich tragen, das ihr Leben begleitet.
Die großen Herausforderungen im Umgang mit biblischen Texten
Bibeltexte sind offene Kunstwerke. Ihre Interpretation ist abhängig von Frauen und Männern mit deren je individuellen Erfahrungen, Lebensumständen und Interessen. Logischerweise kann also kein Text von sich aus Wahrheit oder Autorität beanspruchen. Eine Leserin oder ein Leser allerdings kann einen Text als wahr und normgebend für sich wählen und ihn zum „heiligen Text“ bestimmen. Diese Wahl und ihre Kriterien können (müssen aber nicht!) Ergebnis eines bewussten Prozesses sein.
Jede Bibellektüre bestätigt – gewollt oder ungewollt – eine pluralisierende Hermeneutik: Der biblische Kanon wird als reichhaltige Bibliothek voller Theologien wahrgenommen. Es macht nichts, wenn diese schon innerhalb eines einzigen Buches miteinander im Wettstreit stehen. Weder Gottes- noch Menschenbilder sind einheitlich. Viele vermeintlich historisch erzählte Ereignisse sind bei genauerem Hinsehen „nur“ als theologische Aussagen verständlich (z.B. die Erzählungen von der Eroberung des Landes Israel, die Volkszählung des Lukas, der Ort der Geburt Jesu). Selbst zentrale Glaubensinhalte wie der Tod Jesu am Kreuz werden bereits biblisch unterschiedlich gedeutet (Prophetenschicksal, Sühne, Opfertod…).
Im Blick auf die Textgrundlage der Bibel verschärft sich diese Unsicherheit noch. Wer hat entschieden, welche Bücher in welcher Textfassung kanonisch wurden? Im ersten Teil der Bibel setzen wir auf eine mittelalterliche hebräische Handschrift (Codex Leningradensis 1008 n. Chr.) als die Textgrundlage. Im Neuen Testament verlassen wir uns auf die Rekonstruktion einer Textfassung aus einer Vielzahl antiker Handschriften. Die wissenschaftlichen Ausgaben des Nestle-Aland oder der Hebräischen Bibel machen dies in den Anmerkungen kenntlich, für normale Leser_innen von Übersetzungen ist dies meist kaum erkennbar. Den Bibeltext gibt es nicht.
Die Machtlosigkeit des Autors über den eigenen Text – auch für die Bibel gilt das.
Wenn also der Text unsicher ist und zudem eine Vielzahl von Auslegungen möglich, stellt sich natürlich die Frage: Wer übernimmt die Verantwortung für die Wirkung eines Textes? Ja, Bibeltexte können gefährlich sein. Immer dann, wenn Menschen Kriterien für ihr Denken, Fühlen und Handeln aus ihnen beziehen. Gleichzeitig bleiben sie wirkungslos, wenn Menschen eben das nicht tun, also ohne relevante Beziehung zum Text ihr Leben gestalten. Wie aber kann ein solche Beziehung aussehen? Martin Walser hat auf die Frage eines Journalisten, ob es ihn nicht nervt, wenn andere seine Texte interpretieren, geantwortet: „Was sie lesen, ist sowieso ihr Text.“ Damit hat er einerseits die Verantwortung an die Lesenden delegiert, andererseits aber auch die Machtlosigkeit des Autors über die Deutung des eigenen Textes akzeptiert.
Wie entstehen nun Kriterien zur verantwortungsvollen Auslegung? Welche Lektüre ist in einer Gemeinschaft möglich, welche nicht? Es ist bekannt: Jede Form kirchlicher Setzung solcher Kriterien wirkt nicht mehr automatisch normgebend. Die meisten Kirchenmitglieder wollen selbst entscheiden, welche Moral oder theologischen Inhalte ins eigene religiöse Weltbild passen und welche nicht. Wie also werden biblische Texte zu religiös bedeutsamen Texten? Wie und auf welche Weise können Sie „Gottes Wort“ sein, bleiben oder werden? Das geschieht wohl nur auf der Basis subjektiver, bewusst vorgenommener Entscheidungen. Entweder kann man die fundamentalistische Haltung einnehmen, dass die Bibel Gottes Wort ist – und sich das auch auf alle Inhalte erstreckt. Oder man steht staunend (oder zweifelnd) vor all den Widersprüchen und fragt sich, wie oder was ist hier die Mitte, das Zentrum und die Botschaft?
Bibeltheologische Expertokratie
Um etwas festeren Boden zu gewinnen, entstand die Einteilung in überzeitliche Wahrheiten und zeit- und kontextbedingte biblische Aussagen. Damit konnte Sachkritik geübt und zwischen „Menschenwort und Gotteswort“ differenziert werden. Die Schattenseite der Betonung der historischen Kritik war lange kaum wahrnehmbar, ist aber heute als andauernde Angewiesenheit auf Expertenwissen in jeder Form von Bibellektüre spürbar. Ein ungebrochener Zugang zum Text ist für viele Menschen kaum möglich. Vielleicht liegt hier auch eine der Ursachen des irgendwie ständig mitlaufenden schlechten Gewissens nicht nur vieler Profis in der Pastoral. Die Bibel macht immer unsicher, man hätte mehr studieren sollen, man weiß nicht genug etc.
Hierzu gesellt sich die Herausforderung, einen so offenen Text innerhalb einer hierarchisch und dogmatisch strukturierten Kirche zu lesen. Vielleicht auch deshalb ist es für viele leichter, nicht zu viel Aufmerksamkeit auf diese Texte zu richten.
Den biblischen Glauben oder gar das biblische Gemeindekonzept gibt es einfach nicht.
Das ist auch der Grund, weshalb sich in kirchlichen Umstrukturierungs-prozessen in der Regel kein pastorales Konzept dezidiert „biblisch“ nennt. Ich bin weit davon entfernt, dies zu bedauern. Denn es bedeutet, dass sich keine Instanz mit einer bestimmten Lektüre und dem vorstrukturierten Bild einer biblisch fundierten Gemeinde oder Ortskirche durchsetzen kann.
Wenn sich in der bibelpastoralen Landschaft etwas abzeichnet, dann eine Verschiebung von der Frage: „Wie oder was ist in der Bibel wahr?“ hin zu den Fragen: „Wie lebe ich mein Leben?“, „Wie kann ich Gottes Stimme hören?“, „Wie hilft mir dabei die Bibel?“ Wachsenden Zulauf haben biblische Angebote, die Frauen und Männer darin unterstützen, die eigene Gottesbeziehung zu vertiefen: in einem Bibliolog, mit Lectio Divina oder in einer sonstigen Gruppe, die sensibel das eigene Leben und die Botschaften der Bibel miteinander in Beziehung bringen kann.
Wo in kirchlichen Leitungsgremien der Wille vorhanden ist, institutionell eine offene Lektüre der Bibel zu fördern, bieten sich ohne große Neuplanung verschiedene Möglichkeiten an – und eben das geschieht derzeit in einigen Bistümern: Es werden die Personalschlüssel für Bibelpastoral erhöht, Hauptamtliche werden ernsthaft zu biblischen Fortbildungen und Exerzitien verpflichtet, es gibt konzeptionelle Freiheit in der Gestaltung der Pastoral vor Ort. Noch entscheidender aber ist die Art und Weise, mit der öffentlich über die eigene Bibellektüre gesprochen wird, zu welchem Zweck Bibeltexte zitiert werden und wie sehr die Vielfalt von Interpretationen wertgeschätzt wird. Dient die Bibel dazu, die eigene Position zu legitimieren und das mit Macht durchzusetzen? Oder geht es um das Teilen von biblischen Entdeckungen beim eigenen Lesen?
Die Aufgabe von Bibelpastoral: eine Begegnung mit Gott schaffen, die der Text auslöst.
Neben dieser individuellen oder gemeinschaftlichen Lektüre stehen bisweilen sehr unverbunden die wissenschaftliche Exegese und die liturgische Lesung. Oft ist das Verhältnis zueinander von Abgrenzung bestimmt und wenig kooperativ. Eine weitere strukturelle Aufgabe von Bibelpastoral ist also, dafür zu sorgen, dass alle drei Dimensionen intensiv aufeinander bezogen werden. Das sollte spielerisch geschehen; ein Spiel, in dem es nicht um Siegen oder Verlieren geht, sondern darum, im gemeinsamem Tun, Versuchen und Entdecken Gottes Wort vernehmbar zu machen. Wie in einem Spiel muss man Allianzen bilden, Entscheidungen treffen, Erwartungen enttäuschen, eigene Ideen verfolgen oder aufgeben.
Bibelpastoral kann also mit verschiedenen Zugängen, mit Sachwissen, in liturgischer Feier und persönlicher Erschließung dazu beitragen, einen Raum zu schaffen, in dem dank des Textes Begegnung mit Gott möglich wird. Bibel lesen kann heißen, mich berühren zu lassen, von den Erzählungen über Gott, der das Leben erfunden hat (Gen 1,1); vielleicht zu staunen über die Vielfalt menschlicher Lebenswege; etwa mich motivieren zu lassen von der Aussage, dass der Reichtum Christi noch nicht erschienen ist (Eph 3,8); oder mich anfragen zu lassen von der Zusage, dass den Armen das Reich Gottes gehört (Lk 6,20) und den Trost zu spüren, weil alle Tränen abgewischt werden (Off 21,4). Bibel lesen kann gleichzeitig auch dazu führen, „Nein“ zu sagen zu lebensfeindlichen Gottes- oder Menschenbildern – oder sich für eine gerechte Weltordnung einzusetzen. Egal ob man das dann immer mit biblischen Verweisen unterlegt.
Genau darin zeigt sich, dass das Wort nicht leer zurück kehrt (Jes 55,11). Es füllt sich mit Bedeutung. Bei Jesaja wird das Wort mit Regen verglichen, der auf die Erde fällt und nach vielen Verwandlungen zu Brot wird, das nährt. Aber das dauert und seine Gestalt hat sich gänzlich verändert. Wenn das Wort durch die Erde in die Pflanzen und schließlich irgendwann gereift, gemahlen und gebacken als Brot in den Menschen wandert, dann nährt und wirkt es.
Die im Fach Altes Testament promovierte Theologin Katrin Brockmöller ist seit 2014 Direktorin des Katholischen Bibelwerks e.V. in Stuttgart, das auch die Aufgaben einer bibelpastoralen Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz übernimmt.
Bild: Wilfried Giesers Giesers / pixelio.de