Die gegenwärtige kirchliche Praxis des Karsamstags besteht in einem liturgischen Stillhalten und damit in einem Aushalten des Todes Christi. Ottmar Fuchs fragt, ob es nicht auch eine eigene rituelle Vergegenwärtigung des Karsamstags geben könnte: Was wäre, wenn…?
Es war 1990, bei einem längeren Aufenthalt in einigen Pfarreien in Mittelengland. Bei einer abendlichen Runde spricht mich ein beteiligter Priester an: „Unsere Leute haben zu viel Angst vor Gott. Wir sind selbst daran schuld mit unserer moralisierenden Verkündigung, die am Ende mit der Hölle drohen muss. Wir müssen heute ganz anders von Gottes unermesslicher Liebe reden, die immer größer ist und niemals aufhört.“ Ich antworte ihm, indem ich von einem lateinischen Manuskript erzähle, das ich ein paar Tage zuvor in der alten John-Rylands-Bibliothek in Manchester gesehen habe, etwa aus dem ersten Jahrtausend nach Christus, betitelt mit „Exulted-Rolle“, mit dem Hinweis, vom Diakon am Karsamstag vorgetragen zu werden. Neben dem Text, ihn unterbrechend, eine ebenso einfache beeindruckende bunte Zeichnung des Höllenabstiegs Christi, wie er mit kräftiger Hand den ersten Menschen aus der Unterwelt heraufzieht, wie dieser wiederum mit seiner anderen freien Hand den Nachbarn links von ihm ergreift und mitzieht, wie dieser seinerseits mit seinem Nachbarn das gleiche tut, und so fort bis zum letzten Insassen. Mein Gesprächspartner strahlt übers ganze Gesicht: „Genau das ist es, was ich meine!“
Prozession aus der Hölle
Ca. tausend Jahre später bringt Hans Urs von Balthasar ein ähnlich hoffnungsvolles Bild. Es geht um „den vergessenen und beiseite geschobenen Artikel ‚Abgestiegen zu der Hölle'“ des Glaubensbekenntnisses (Joseph Ratzinger). Christus stirbt am Karfreitag nicht nur den irdischen, sondern am Karsamstag auch den „ewigen“ Tod. Ganz im Sinne der Einsicht des Kirchenvaters Origenes: „Jeder Ort hat Jesus Christus nötig.“ Auch die Hölle also. Nichts mehr gibt es außerhalb der Herrschaft Gottes, nichts mehr gibt es getrennt von ihm, auch nicht mehr die Hölle. Damit leuchtet von Balthasar in die höllischste Tiefe des Todes in denen hinein, die ihn mit ihren eigenen tödlichen Taten betrieben haben. Christus erleidet im Tod nicht nur die isolierteste Einsamkeit und Ohnmacht. Er wird von Gott nicht nur zur Einsamkeit und Ohnmacht gemacht. Sondern es gilt zudem: Obwohl selbst ohne Sünde, wird Christus von Gott „zur Sünde gemacht“ (vgl. 2 Kor 5,21). So erlebt er an sich selbst, was die schlimmsten Sünder und Sünderinnen erleben. „Christus ging … zu diesen ‚Geistern‘, deren Gefängnis in der Unterwelt liegend gedacht ist, aber nicht, um ihnen … ihre ewige Verdammnis zu verkünden, sondern das Evangelium oder seinen universalen Sieg.“ Denn Christus steigt hinab bis zu den am Höllentrichter zuunterst Begrabenen, „um in Prozession alle zum Vater hin herauszuführen“ (von Balthasar).
Erfahrung von unerschöpflicher Liebe und Freiheit
An diesem letzten Ende der Hölle unterfasst Christus jede menschliche Verlorenheit, auch die letzte des ungeliebtesten, gehasstesten und sündigsten Menschen. Trotz seiner Unschuld gilt Jesus als der schlimmste Täter und erträgt dessen Schicksal. In dieser Stellvertretung, nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Täter, steigt er in den tiefsten Kreis der Hölle und unterbietet die abgründige Verlorenheit auch des schlimmsten Menschen.
Bei alledem bleibt die Frage nach der Freiheit des sündigen Menschen. Könnte er nicht trotzdem Nein sagen und in der Hölle bleiben? Über diese Möglichkeit hinaus darf der christliche Glaube hoffen, dass niemand angesichts des ihm bzw. ihr zur eigenen Verlorenheit auf Augenhöhe begegnenden Gottessohnes Nein sagen „kann“: in einer für uns unvorstellbaren Erfahrung von unerschöpflicher Liebe und Freiheit. Beides wird die Sünder und Sünderinnen im Gericht für die Liebe und damit die Reue öffnen. Hans Urs von Balthasar hat dies unübertroffen formuliert: „Hier wäre vielleicht zu erwägen, dass Gott den Nein-Sager sicherlich nicht durch seine Allmacht überwältigt, seine Verschlossenheit gleichsam gewalttätig aufknackt, dass aber der in Ohnmacht rein auf sich selbst Bezogene doch wohl nicht umhin kann, einen noch Ohnmächtigeren ’neben sich‘ wahrzunehmen, der ihm die Absolutheit seiner Einsamkeit streitig macht.“ So erfüllt sich, dass Christus am Kreuz alle an sich ziehen wird (vgl. Joh 11,32), dass Gott alles in allem sein wird (vgl. 1 Kor 15,28), dass das Böse, der Teufel und die Hölle in ihrer von Gott abgespalteten, zerstörerischen und nichtsnutzigen Form überholt sind.
Liebe treibt Gerechtigkeit
Die Hölle gilt als Ort, wo nichts mehr wieder gutgemacht werden kann, wo es keinen Reueschmerz gibt, wo der totale Liebes- und damit Lebenstod, die totale Isolation herrschen. Keine ewigen Höllenstrafen außerhalb des Gottesbezugs sind je für die „Wiedergutmachung“ genug, weil in einer solchen Hölle, getrennt von Gott, die Menschen gar nicht bereuen können, was sie getan haben. Ein solches Sich-hinein-begeben in den Reueschmerz ist nur möglich im Lebenszusammenhang mit Gott und denen, denen Leid zugefügt wurde. Angesichts ihrer Wunden leidet der Mensch, der Leid zugefügt hat. Angesichts der unendlichen Barmherzigkeit verschärft sich der Schmerz. Solche Reue ist nicht die Bedingung der Rettung, sondern ist ihre Auswirkung. Gott bestraft nicht mit Liebesentzug, sondern seine unerschöpfliche Versöhnung ermöglicht einen Schmerz, der in seiner Wucht weit über ein liebloses Strafleiden hinausgeht. Das Erlösungswerk besteht also darin, dass wir von einem verdammten und verdammenden Höllenleiden weg zu einer Sühne in Beziehung zu den Betroffenen und mit Gott befreit sind.
Gott an seiner verwundbarsten Stelle
Am Kreuz begegnet uns der tote Gott an unserer verwundbarsten Stelle, verwundbar in dem Sinn, dass das menschliche Leben nicht nur an wunderbare Freude, sondern auch an unvorstellbares Leid gebunden ist. Und zugleich begegnet uns Gott im Kreuz an unserer bösesten Stelle, an der grauenvollsten, und hält auch diese am eigenen Leib aus. Derart zum Opfer und derart zum Täter gemacht reicht Christus nicht nur in den tiefsten Kreis der Hölle von Leiderfahrung, sondern auch in den tiefsten Kreis der Hölle von Leidzufügung. Und darin reicht Christus auch in die Abgründe unserer Seele. Derart trifft zu, dass Christus nicht nur für alle Menschen gestorben ist, sondern immer auch für den ganzen Menschen. In der Seele gibt es den Raum der Gutheit und göttlicher Ahnung. In der Seele gibt es aber auch den Raum höllischer Unterwelt, mit dem Trieb zu verletzen und zu zerstören.
Im Horizont der Rechtferigungsgnade
Im Lutherjahr darf an Luthers Rechtfertigungstheologie erinnert werden: die Werke haben nicht die Macht, dass die Menschen das Heil verlieren, wohl aber die Macht, dass sie das Heil unterschiedlich erfahren. Und zwar keine geringfügige, wofür Texte wie die Weltgerichtsrede Mt 25 stehen (ich war krank, und du hast mich besucht). Denn gerade weil die Liebe Gottes universal allen Menschen gilt, gewinnen darin die guten bzw. schlechten Werke ihr geradezu maßloses Gewicht, weil sie in der Gnade und durch sie den Gegensatz zwischen Leiderfahrung und Leidzufügung in der unendlichen Tiefe Gottes selbst verankern und offenlegen.
Vom Jüngsten Gericht her formuliert: Weil die Menschen, die Leid zugefügt haben, sich mit der dann unblockiert erfahrenen Liebe Gottes gerettet und zugleich konfrontiert sehen, erfahren sie einen Schmerz, der bis in die Ewigkeit der göttlichen Liebe hineinreicht. Dies ist eine Rechtfertigungsgnade, die nicht Böses ungeahndet rechtfertigt, eben weil sie den Gegensatz zwischen Gut und Böse unendlich vertieft, was sich in den gegensätzlichen Reaktionsweisen zwischen Schmerz und Freude (auch abwechselnd in einer Person) auf diese Gnade widerspiegelt. So gilt: verurteilt und gerettet zugleich, mit den entsprechenden Auswirkungen bei den Menschen.
Gnadendynamik
Und der Reueschmerz der Übeltäter und Übeltäterinnen wird in unvorstellbarer Weise dem Schmerz „entsprechen“, den sie zugefügt haben. Aber nicht als von außen auferlegte Strafe, sondern weil es ihnen zutiefst leid tut. Das „Entsprechen“ meint nicht eine gleichgewichtige „ausgleichende“ Gerechtigkeit. Es ist vielmehr eine Entsprechung, die der Gnadendynamik des unerschöpflichen Übermaßes an göttlicher Liebe entspricht, wo alle Vergleichbarkeit aufhört, wo das angesichts der Opfer des eigenen Handelns „nachträglich“ geschenkte Mitleiden in eine für uns unvorstellbare Verbindung von Schmerz und Seligkeit hineingetrieben wird, die gar nicht aufhören will. Die verrückte österliche Vorstellung der „felix culpa“, der „glücklichen Schuld“, mag dafür eine Spur sein. Es ist ein Segen, derart mit der eigenen Vergangenheit und den Betroffenen ins Gute zu kommen.
Abstieg in die Untiefen Gottes?
Man kann im Karsamstag auch so etwas sehen wie ein Hinabsteigen Christi in die „höllische“ Untiefe Gottes, wie eine Sühne Christi für jene unerklärliche abgründig-dunkle „Tatenlosigkeit“ Gottes, wie sie durch die Menschen leidvoll erfahren wird, für den aus unserer Perspektive (wie auch sonst) jedenfalls dunklen Teil Gottes, der als Gottverlassenheit bereits Ursache der Klage Jesu am Kreuz ist: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15, 34). Denn wenn von Gottverlassenheit die Rede ist, dann heißt das zugleich, dass von der Erfahrung der Menschen her Gott selbst verlassen hat, insofern er noch etwas mit uns zu tun hat, wenn er nichts Rettendes tut. Obgleich er es, so ist zu unterstellen, von seiner Allmacht her tun könnte, wodurch er „indirekt“ als „Täter“ erscheint.
Dann bringt die am Kreuz geschriene, eschatologisch weitergetriebene und mit dem verwundeten Auferstandenen in Gott selbst vertretene Klage Christi jene Differenz zum Ausdruck, die Christus um der Menschen willen „gegen“ den Vater treibt, so dass er in seiner Gottverlassenheit jene Anteile Gottvaters in gewisser Weise absühnt, die bei den Menschen als dunkel und destruktiv erfahren wurden und werden. Darin käme zum Ausdruck, dass auch in Gott selbst dieses Nichteingreifen des Schöpfers nicht einfach resonanz- und wirkungslos bleibt. Nur ein unendlicher Heiliger Geist der Liebe kann trinitarisch diese schärfste Differenz, die es vom Menschen aus gibt, zusammenhalten, sodass Gott-Vater und Gott-Sohn nicht ins Unendliche auseinanderfallen.
Göttliche Empathie
Sühne heißt, mit der eigenen Existenz auszutragen und gutzumachen, was man selbst oder was andere anderen zugefügt haben. Tatsächlich bringt die Bibel die Vorstellung eines Gottes, den es reut, dass er Leid zulässt und zugelassen hat. Ps 106,45: „Und er sah ihre Not an, da er ihre Klage hörte, und gedachte an seinen Bund, den er mit ihnen gemacht hatte; und es reute ihn nach seiner großen Güte…“ Es gibt einen Verursachungs- und Schuldzusammenhang: Auch in Psalm 106 reut Gott, was er selbst verursacht hat, was er verschuldet hat, nämlich seinen Zorn gegenüber seinem Volk. So kann man mit einiger Vorsicht sagen, dass Gott in seinem Mitleid für das von ihm beim Volk verursachte Leid Sühne leistet.
Über die Reue hinaus betont die Sühne den Tatanteil einer Wiedergutmachung, die Mühe, Opfer und Leid mit sich bringt. Gibt es ein solches Sühnebedürfnis in Gott selber, insofern ihn die dunklen Erfahrungen seiner Wirklichkeit in der Geschichte der Menschen in Christus so betreffen, dass er dies in Christus als eigenen Sühneanteil (ein anderes Wort ist mir in diesem Zusammenhang nicht verfügbar) ausleidet, einem Sühneanteil, der den Menschen als göttliche Empathie zugute kommt, und der in das verheißene Sühnewerk der Rettung der Verlorenen mündet?
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