Dialoge mit Andersglaubenden sind als Entwicklungspotential zu sehen: Christoph Gellner über inspirierende Impulse von drei aktuellen Buchneuerscheinungen.
Inspiriert von Hannah Arendts «Denken ohne Geländer» plädiert Wolfgang Beck für eine (Pastoral-) Theologie, die sich «nicht auf ein Verwalten des Gewussten»[1] beschränkt, vielmehr sich kulturell sensibel und intellektuell neugierig, ja, risikofreudig auf gegenwartsreligiöse Aushandlungsprozesse einlässt.
Wichtiger theologischer Vordenker ist Michel de Certeau, der angesichts der Pluralisierung des Religiösen in der (Post-) Moderne christlichen Glauben nicht als gesichertes Gebilde zu repetierender Glaubenswahrheiten sieht, sondern die Such- und Dialogbereitschaft betont, «den eigenen Glauben durch die Kontexte der Gegenwartsgesellschaft nicht nur anfragen, sondern verunsichern zu lassen». Für christliche Spiritualität liegt darin ein Potential innovativer Veränderung: durch «heilsame Verunsicherungen» finde sie zu «zeitgenössischer Solidarität» (Beck 143).
Neuentdeckungen im Dialog
Das entspricht dem Neuverständnis von Pastoral des Zweiten Vatikanischen Konzils: Mit dem resonanten Sich-Einlassen auf christliche Zeitgenoss:innenschaft kommt ein Verständnis von Verkündigung an ein Ende, das auf «Einbahnstraßenkommunikation» beruht und Kirche in einer lediglich monologisch belehrend-doktrinären Rolle sieht. Als dialogisch-lernende Kirche spricht sie dagegen ihrem Außen für sich selbst konstitutive Bedeutung zu und begibt sich auf einen riskanten dynamischen Entwicklungsweg offener und gegenwartssensibler Aushandlungsprozesse.
In die Haltung gemeinsamen Suchens wechseln.
Becks perspektivenreiche Habilitationsschrift führt neben der christlich-konfessionellen Ökumene interreligiöse Dialog- und Lernprozesse als Praxis- und Risikofeld an – darauf beschränke ich mich in diesem Beitrag –, um zentrale Glaubenseinsichten zur Diskussion zu stellen und dabei von der wissend-belehrenden, sicheren Position in die Haltung gemeinsamen Suchens zu wechseln.
Die von ihm favorisierte komparative Theologie will nicht ganze Religionssysteme in ein theologisches Verhältnis setzen, sondern bewusst mikrologisch-dialogisch «kreative Irritationen eingeschliffener Wahrnehmungsmuster und neue Verstehenszugänge zu Inhalten des eigenen Glaubens»[2] ermöglichen. Beck bezeichnet sie «als Ernstfall ekklesiologischer Vulnerabilität» (164), macht sie doch ernst mit der lernend-entdeckenden Grundhaltung des Konzils, statt sich von den anderen Religionen abzusetzen, sich ihnen dialogisch zuzuwenden, ja, Heiliges und Wahres als von Gott kommend auch ausserhalb der Kirche anzuerkennen (Religionenerklärung Nostra aetate 2).
Komparative Theologie
Gastfreundschaft für die mögliche Wahrheit der Anderen, wie sie Francis X. Clooney und Klaus von Stosch fordern, mutet Christ:innen zu, sich von «überraschend neuen Perspektiven auf die eigenen Glaubenstraditionen irritieren und zu neuerlichen Lernprozessen anregen zu lassen» (Beck 315).
Das Eigene ist nicht einfach der sichere, vertraute Fels.
Mit der «Bereitschaft, Begründungszusammenhänge des eigenen Religionskontexts auszusetzen», setzt komparative Theologie «die Haltung der Risikofreude als ‘gefährliches Potential zur Veränderung’ voraus» (170), zitiert Beck Norbert Hintersteiner. Dabei geht es nicht nur darum, liebgewonnene Traditionen als zeit- und kulturbedingt relativieren zu lassen, vielmehr darum, «sich selbst im Zentrum der eigenen Sicherheiten im Bewusstsein der Unverfügbarkeit Gottes verunsichern zu lassen und Korrekturen, Revisionen der eigenen Gottesrede zu suchen» (Beck 310f.).
Das Eigene ist nicht einfach der sichere, vertraute Fels, vielmehr geht es um ein Neuverstehen des vermeintlich Vertrauten: im Dialog mit Fremdem sollen einlinige Glaubensgewissheiten überwunden werden, um die Wahrheit meines Glaubens im Licht des Glaubens der Anderen[3] neu offenzulegen.
Muhammad – Prophet auch für Christ:innen?
Konkretisieren wir das an den ‘Gretchenfragen’ des christlich-muslimischen Dialogs: Ist der Koran allenfalls ein Wort Gottes und Muhammad ein Prophet auch für Christen? Nostra aetate schweigt zur Person und Bedeutung Muhammads, in ihrer preisgekrönten Tübinger Dissertation vergleicht Elisabeth Migge Antwortversuche christlicher Theologen der Gegenwart. Während etwa für Christian Troll aufgrund der Aussagen des Korans zur Trinität und zum Kreuzestod Jesu Muhammad von vornherein keinesfalls christlich als Prophet anerkannt werden kann, ermöglicht die komparative Theologie Klaus von Stosch «eine offenere Haltung im Umgang mit der koranischen Kritik»[4] an der Vergöttlichung Jesu, um dennoch lernbereit in einen Dialog mit Muslimen hineinzugehen.
Wieweit ist das, was im Koran über Jesus wie über Christen geschrieben steht, situativ bedingt oder prinzipiell gültig?
Gewiss, christlich ist auch für Stosch der Endgültigkeits- und Überbietungsanspruch Muhammads als «Siegel der Propheten» genauso zurückzuweisen «wie Muslime sich nicht damit einverstanden erklären können, dass in Christus Gott in definitiver und einmaliger Weise sein Wesen offenbar gemacht hat. Aber genauso wie Muslime Jesus dennoch als Propheten und Wort Gottes anerkennen, sollten sich Christen zumindest für die Möglichkeit öffnen, die Besonderheit Muhammads und seine prophetische Sendung zu würdigen» (Migge 184).
In Frage steht dabei, wieweit das, was im Koran über Jesus wie über Christen geschrieben steht, situativ bedingt oder prinzipiell gültig ist. Neue historisch-diachrone Verstehenszugänge der jüngsten Koranforschung, insbesondere das von Angelika Neuwirth freigelegte polyphon-dramatische Religionsgespräch mit Anderen und über andere Religionen zur Zeit des Propheten, das sich im heiligen Buch der Muslime widerspiegelt[5], eröffnen aufschlussreiche neue Dialogmöglichkeiten, die der Differenziertheit des damaligen wie des heutigen Christentums Rechnung tragen.
Komparative Theologie versteht sich als kollaborative Theologie aus interreligiösem Dialog.
Komparative Theologie versteht sich als kollaborative Theologie aus interreligiösem Dialog, Muslime sind selbst daran beteiligt, welche Antwort christlicherseits gegeben werden kann: Im Verweis auf die Ansätze einer kontextuellen Koraninterpretation ist für Stosch offen, ob der Koran «dem richtig verstandenen christlichen Glauben in Trinitätslehre und Christologie direkt widerspricht. Sollte von muslimischer Seite der Qur’an so neu gelesen werden, dass er sich nicht in ein kontradiktorisches Verhältnis zum christlichen Glauben setzt, eröffnet sich für die christliche Theologie ein Weg, wie man den Qur’an als eine vom Christentum unterschiedene Form von Offenbarung anerkennen kann, ohne dadurch den eigenen Geltungsansprüchen untreu zu werden.» (Migge 193f.)
Selbstkritisch erkennt Stosch in der koranischen Kritik ein Potenzial, um daraus zu lernen: Man dürfe auch «aus christlicher Sicht der koranischen Warnung vor bestimmten Formen der Trinitätstheologie eine bleibende Wahrheit zubilligen» (Migge 201), das betrifft nicht nur Fehlformen marianisch-tritheistischer Frömmigkeit im spätantiken Christentum der arabischen Halbinsel. Stoschs Fazit? «Einstweilen können wir jedenfalls festhalten, dass die koranischen Einsprüche gegen den trinitarisch strukturierten Glauben der Christen vielleicht eher innere Gefährdungen des christlichen Glaubens warnend vor Augen stellen wollen, als dass sie den Kern des Christentums zurückweisen» (278).
«die Grenze zwischen wahr und falsch verläuft heute nicht mehr einfach zwischen Christentum und anderen Religionen, sondern, zum Teil mindestens, innerhalb der jeweiligen Religionen»
So sieht auch Hans Küng Muhammad – in Parallele zu den Propheten Israels – als «ein prophetisches Korrektiv, welches die Christen an die Einzigkeit Gottes erinnert» (Migge 284). Auf der Basis «wechselseitiger Information, wechselseitiger Diskussion und wechselseitiger Transformation» (215) geht es Küng um eine «maximale theologische Öffnung» (281): «die Grenze zwischen wahr und falsch verläuft heute auch nach christlichem Verständnis nicht mehr einfach zwischen Christentum und den anderen Religionen, sondern, zum Teil mindestens, innerhalb der jeweiligen Religionen» (216).
Gott glauben: jüdisch christlich muslimisch
Weiterführende Überlegungen zum Glauben an Gott den Einen-Einzigen in jüdischer, christlicher und muslimischer Perspektive bietet der Neutestamentler Hubert Frankemölle in «Gott glauben: jüdisch christlich muslimisch»[6]. Die materialreiche Fülle dieses Buches lässt sich in drei Thesen bündeln:
- Die offizielle Theologie christlicher Kirchen lebt «im Sprachhaus der hellenistisch-philosophischen Sprache, die Menschen im 21. Jahrhundert in der Regel nicht verstehen» (469). Die interreligiöse Kommunikationssituation verschärft noch die riskante Herausforderung einer angemessenen Übersetzung der «alten» Texte, vor der heute auch muslimische Theolog:innen im Westen stehen.
- Die hermeneutische Schlüsselfrage dabei ist: «Sind Christen bereit, das ontische, philosophisch begründete Gottesbild der Konzilien und der späteren Jahrhunderte im Licht der biblischen Entwicklungen zu interpretieren?» (597) Die «hellenistischen Transformationen in den Gottesbildern des Neuen Testaments», die Frankemölle rekonstruiert, bleiben zwar im Kontext des biblischen Monotheismus, dennoch ist darüber kein Einverständnis mit Muslimen und Juden zu erwarten. Viel wäre erreicht, im Dialog «ein angemessenes Verständnis der Differenzen» (384) zu erzielen.
- Dass Papst Franziskus in «Fratelli tutti», der ersten Enzyklika, die aufgrund einer interreligiösen Begegnung entstand, bei aller Verschiedenheit des Glaubens zum «interreligiösen Gebet zu dem einen Gott» (601) einlädt und es bei seinem Besuch in Sarajewo 2015 praktizierte, unterstreicht die Bedeutung geteilter Spiritualität[7], ja, einer von Gott selbst getragenen Gebetsgemeinschaft.
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Christoph Gellner, Dr. theol., ist Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts TBI in Zürich und Lehrbeauftragter an der Universität Fribourg.
Bild: Hermann Traub auf Pixabay
[1]Wolfgang Beck: Ohne Geländer. Pastoraltheologische Fundierungen einer risikofreudigen Ekklesiogenese (Theologie im Dazwischen. Grenzüberschreitende Studien Bd. 3), Grünewald: Ostfildern 2022, 174.
[2]Reinhold Bernhardt: Inter-religio. Das Christentum in Beziehung zu anderen Religionen (Beiträge zu einer Theologie der Religionen Bd. 16), TVZ: Zürich 2019, 398.
[3]Christoph Gellner: Der Glaube der Anderen. Christsein inmitten der Weltreligionen, Patmos: Ostfildern 2008.
[4]Elisabeth Migge: Mohammed – ein Prophet auch für Christen? Eine kritische Auseinandersetzung mit neueren christlich-theologischen Positionen (Theologie des Zusammenlebens Christliche und muslimische Beiträge Bd. 3), Grünewald: Ostfildern 2022, 280; dazu eingehend Christoph Gellner: Komparative Religionstheologie im Praxistest. Klaus von Stoschs christlich-theologische Würdigung des Islam, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 102 (2018) 248-260.
[5]Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Insel: Berlin 2010; Karl-Josef Kuschel: Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch, Patmos: Ostfildern 2017.
[6]Hubert Frankemölle: Gott glauben – jüdisch, christlich, muslimisch. Herder: Freiburg u.a. 2021.
[7]Mit Verweis auf Charles de Foucauld, Christian de Chergé, Paolo Dall’Oglio u.a. vgl. Christoph Gellner: Geteilte Spiritualität – Herzstück der Begegnung von Christen und Muslimen, in: Geist und Leben 93 (2020) 176–184.