Benita Meißner stellt eine Ausstellung zur vielleicht ikonischsten Gegenwartserfahrung vor: Riskante Zonen des Dazwischen und was daraus entstehen könnte.
Die Deutsche Gesellschaft für christliche Kunst widmet alle neun Präsentationen des Jahres 2024 einem einzigen Thema: ‚Dazwischensein‘ – das kann ein Gedanke, Zustand oder auch ein Gefühl sein, es ist auf jeden Fall symptomatisch für eine Vielzahl an Themen, die die heutige Gesellschaft beschäftigen. Wir wollen Dazwischensein als Möglichkeit begreifen, mehr zu sehen und uns darauf einzulassen. Auf welche Weise kann ein Ausstellungsraum auf die Entwicklungen einer Gesellschaft reagieren? Wie entsteht ein einladendes Umfeld, sodass Menschen ins Gespräch kommen, neue Ideen und Perspektiven entwickelt werden können oder man einfach nur ein wenig die Seele baumeln lassen kann?
Dazwischensein als Möglichkeit begreifen
Ein Schwerpunkt der Ausstellungsreihe widmet sich dem Thema ‚Grenzgänge. Religion in den Alpen‘. Die Alpen bilden einen besonderen Ort, der einerseits Orientierung, Geborgenheit und Rückzug zur Kontemplation wie Selbstfindung bietet, andererseits durch Lawinen, Unwetter und Überschwemmungen die Existenz des Menschen besonders fragil macht und gefährdet. Bergwelten oder die Polargebiete machen das Spannungsfeld, das zwischen Unkontrollierbarem und Kontrollierbarem existiert, besonders deutlich. Wie kann das Anthropozän durch ein neues Miteinander, vielleicht in Form des Chthuluzän wie es Donna Haraway beschreibt, abgelöst werden? Die beiden Schweizer Künstlerinnen Andrea Wolfensberger (*1961 in Zürich) und Sandra Boeschenstein (*1967 in Zürich) nähern sich in ihrem künstlerischen Beitrag in der vierten und siebten Setzung diesen Themen an.
Grenzgänge. Religion in den Alpen
Neben der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt widmen sich die Künstler*innen im Besonderen Themen der menschlichen Innenwelt und gesellschaftlicher Konventionen. Dazwischensein kann einen Übungsweg oder eine Form der Meditation beschreiben, die das bewusste Eintreten in den Zustand des Nichtwissens beinhaltet und das Wahrnehmen, Erfahren und Betrachten von Situationen, ohne sie sofort in Kategorien einzuteilen oder zu definieren. Obwohl Denken und Fühlen unterschiedliche Aspekte unserer Erfahrung repräsentieren, sind sie eng miteinander verbunden und haben eine komplexe Wechselwirkung. In diesem Dazwischensein entsteht ein gehaltvoller Zustand, der es uns möglich macht, die Welt und unseren Platz darin besser zu verstehen und der unser Handeln informiert.
Bettina Khano (*1972 in Hamburg) nähert sich in ihrem Beitrag für den ersten Möglichkeitsraum dem Thema ‚Denken und Fühlen‘ an. Sie beschreibt, dass sie sich bei der Konzeption der Werke auf ihre Intuition und das Agieren der Hände konzentriert hat, um das Rationale in den Hintergrund treten zu lassen. Bestimmte Regionen unseres Gehirns sind mit kognitiven Funktionen verbunden, während andere mit emotionalen Prozessen in Verbindung stehen. In vielen Situationen arbeiten Denkprozesse und emotionale Reaktionen Hand in Hand, um menschliches Verhalten zu formen. Daher ist eine ganzheitliche Betrachtung dieser Aspekte oft sinnvoll. Das Sehen und Fühlen wird von der Künstlerin absichtlich in unterschiedliche Richtungen gelenkt: das was wir sehen erscheint vertraut, ist es aber nicht, es entsteht ein wahrnehmbarer Widerspruch. Die einzelnen Objekte sind alle figürlich und haben doch etwas Abstraktes. Es ist wie ein Ende oder auch ein Anfang, ein Dazwischen eben, in dem so viel Potenzial liegt.
Das was wir sehen erscheint vertraut, ist es aber nicht
Individuen navigieren auch immer zwischen verschiedenen Identitäten, wie zum Beispiel Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischer Zugehörigkeit oder auch religiöser Überzeugung und beruflicher Identität – und vereinen darin Widersprüchliches oder bewegen sich im Transit. Ein weiteres Dazwischensein beschreibt die Phase des Erwachsenwerdens: eine Zeit des Wandels, der Unsicherheit und der Suche nach der Identität. Im Dazwischen versuchen viele Menschen eine Balance zwischen ihrer Vergangenheit als Kind und den Herausforderungen des Erwachsenenlebens zu finden.
Simona Andrioletti (*1990 in Bergamo) greift in ihrer künstlerischen Arbeit komplexe soziale Dynamiken und Phänomene auf. Ihre Setzung für den zweiten Möglichkeitsraum besteht aus zwölf unterschiedlichen Wolldecken mit Motiven in die sich die Besucher*innen wickeln können, um auf den eigens dafür entworfenen Sitzgelegenheiten zu verweilen. Die gestrickten Motive auf den Decken stehen deutlich im Kontrast zum Gefühl von Wärme und Geborgenheit der Merinowolle. Andrioletti spannt einen großen Bogen von der griechischen Mythologie bis in die Gegenwart und greift bekannte sexuellen Übergriffe der Geschichte, wie Apollo und Daphne, auf. Das aktuellste Beispiel zeigt Italiener*innen in Bologna, die unter dem Aufruf ,Non una di meno‘ sich den argentinischen Demonstrationen anschließen, die seit 2015 gegen Femizide in ihrem Land auf den Straßen stattfinden. Sie setzt Sprache und Kunst als Dokumentations- und Kommunikationsmittel ein, um in aktuelle Debatten einzutauchen und ein breites Publikum für diese Themen zu sensibilisieren.
Historische sexuelle Übergriffe auf Merinowolle
Den dritten Möglichkeitsraum des Jahresprogramms bespielt der Berliner Künstler Viron Erol Vert (*1975 in Varel). Er begreift Raum als Entität und Körper, in dem Themen wie Migration und Adaption verhandelt werden können. Er lädt dazu ein, den DG Kunstraum als vollkommen neuen Ort zu erfahren. In seiner künstlerischen Praxis hinterfragt und untersucht Vert verschiedene Aspekte und Sichtweisen auf das Eigene und das Fremde. In seinen Arbeiten, die vom Zustand und der Atmosphäre des Dazwischensein geprägt sind, verwebt der Künstler verschiedene Kulturen, Materialien, Sprachen, Ausdrucksformen und auch Lebensauffassungen zu einer hybriden, komplementären Identität. Dies erwächst aus seiner eigenen interkulturellen Familie und Umgebung, da er zwischen Deutschland, der Türkei und Griechenland aufgewachsen ist.
Kunst hat das Potential uns ins Ungewisse zu leiten
Der Ausstellungsraum wird von der Intervention ‚Hemdchen´ von Bettina Khano in den Möglichkeitsraum und einen Diskursraum aufgeteilt. Die vorhangähnliche Installation wird sich im Laufe des Jahres in variierenden Formationen präsentieren. Der neu entstandene Diskursraum lädt mit seinen Sitzmöbeln ein, sich mit dem kuratierten Filmprogramm das die Themen der Möglichkeitsräume aufgreift (Filme u.a. von Thomas Bratzke, Lion Bischof, Franziska Cusminus, Empfangshalle, Philipp Gufler, Manaf Halbouni, Manuela Illera, Karen Irmer, Sven Johne, Yulia Lokshina, Judith Neunhäuserer, Nnenna Onuoha, Sonya Schönberger) oder dem wechselnden Buchangebot auseinanderzusetzen. In diesem Raum laden wir auch zu den Künstler*innengesprächen mit jeweils einem*r Geisteswissenschaftler*in ein.
Die Kunst hat das Potential uns ins Ungewisse zu leiten und Fragen aufzuwerfen. Wir freuen uns auf viele spannende Begegnungen, um dem großen Thema Dazwischensein näher zu kommen.
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Dott. Benita Meißner (geb. in Berlin) ist seit 2015 Geschäftsführerin und Kuratorin des DG Kunstraums der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst in München. Sie hat in Venedig von 1995 bis 2000 am IUAV Architekturgeschichte und Denkmalpflege studiert. Von 2000 bis 2014 widmete sie sich der Vermittlung von zeitgenössischer Kunst an verschiedenen Orten zwischen Berlin und München. Ihre Tätigkeit zielt darauf ab mit dem Ausstellungsraum eine interdisziplinäre Werkstatt zu schaffen, damit sich interessierte Menschen durch Kunst aber auch Architektur, Musik, Theologie oder Philosophie, zu den Themen unserer Zeit austauschen können und inspiriert werden.
Foto: Gerald von Foris
Bild: Ausstellungsansicht Dazwischensein 1, Bettina Khano, DG Kunstraum 2024 (Foto: Gerald von Foris)
Zum Jahresprogramm ist der Kalender ‚Dazwischensein-Möglichkeitsräume 2024‘ im Taschenbuchformat erhältlich.
Manaf Halbouni ist auch Gespächspartner beim Kongress „250 Jahre zwischendrin: Pastoraltheologie feiert Jubiläum“ im September 2024 in Berlin.