Charles Martig zeigt, dass aus einer tiefen Verzweiflung heraus gestaltete Filme zu einer «De-Profundis-Erfahrung» führen können. Ein herausragendes Beispiel ist der portugiesische Film «Vitalina Varela», der in Locarno den Goldenen Leoparden gewonnen hat. Eine theologische Spurensuche im aktuellen Arthouse-Kino.
Es gibt Filme, die aus einer tiefen Verzweiflung heraus ihre Geschichte erzählen und ihre eigentliche Form entwickeln. Aus dem Leiden an der Welt und den ungerechten Verhältnissen entsteht beim Zuschauen das starke Bedürfnis, einen religiösen Ausweg zu suchen. Die Sehnsucht nach Erlösung ist zum Greifen nahe, auch wenn sich diese in der Filmhandlung nicht einstellt. Diese ästhetische Form lässt sich als sogenannter «De-Profundis-Film» bezeichnen. Solche Filme sind durchaus im Kino anzutreffen; vor allem auch im Arthouse-Kino. Bekannte Beispiele dafür sind Clint Eastwood in «Gran Torino» oder Pedro Almodóvar mit seinem berühmten Werk «Todo sobre mi madre». Auf Anhieb wäre auch Paul Schraders «First Reformed» dazu zu zählen.
Die Sehnsucht nach Erlösung ist zum Greifen nahe.
Im Internationalen Wettbewerb des 72. Locarno Film Festival gab es mehrere Filme, die sich mit dem bekannten Psalm 130 eröffnen liessen: «De profundis clamavi ad te, Domine» (Aus der Tiefe rufe ich zu Dir, Herr). Der portugiesische Regisseur Pedro Costa zeigte in seinem Film «Vitalina Varela» eine leidende Figur, die in der Nachfolge Christi steht. Vitalina ist eine Frau aus den Kapverden, die lange Jahrzehnte darauf gewartet hat, nach Lissabon zu fliegen und dort ihren Mann zu treffen. Sie kommt jedoch drei Tage zu spät und die Beerdigung hat bereits stattgefunden.
Symbolisch wird hier ein silbernes Kreuz aufgehoben, das im Dreck der Strasse liegt. In einem ausdruckstarken Spiel von dunklen Szenen und schön ausgeleuchteten Gesichtern erleben wir eine Form, die sich dem beinahe vollständigen Stillstand annähert. Vitalina Varela ist sowohl der Name der echten Darstellerin als auch der Titel des Films. Es ist ihre Geschichte, die sie verkörpert. So erhält der Film eine authentische Kraft. In ihrer Verzweiflung bleibt Vitalina stark in ihrem würdevollen Ausdruck.
eine Form, die sich dem beinahe vollständigen Stillstand annähert
Als Ganzes liesse sich der Film als Prozession und Trauerprozess deuten. Aus dem dunklen Gesicht und den hellen Augen der Hauptfigur Vitalina flackern sowohl Trauer über als auch würdevoller Widerstand gegen die Ungerechtigkeit der herrschenden Verhältnisse. Eine christusähnliche Figur zeichnet sich auf der Leinwand ab, eine weibliche Christus-Konfiguration. Neben ihr wirkt der katholische Priester, der im Trailer des Films kurz von hinten gezeigt wird, schwach und gebeugt. Seine Gemeinde ist bereits lange verloren gegangen oder ausgewandert. In der Kapelle gibt es nur noch leere Stühle. Vitalina scheint die einzige Gläubige zu sein, die mit ihm betet.
Hoffnungszeichen sind die kurzen Szenen, in denen Vitalina ihr Haus in den Kapverden baut: eine Art Flashback oder auch utopische Blicke in die Zukunft? Das silberne Kreuz deutet darauf hin, dass sie die religiöse Hoffnung auf einen Durchbruch noch nicht aufgegeben hat. – Das haben sowohl die Ökumenische Jury als auch die Internationale Jury erkannt und entsprechend mit Auszeichnungen am Filmfestival gewürdigt: dem Goldenen Leoparden für den besten Film, die Auszeichnung für die beste Hauptdarstellerin und eine lobende Erwähnung der ökumenischen Jury.
Vom Ende der Welt
Als «De-Profundis-Film» lässt sich auch der Schweizer Beitrag «O Fim do Mundo» bezeichnen, der bereits im Titel das Ende der Welt in sich trägt. Dieser Schweizer Film spielt ebenfalls in Lissabon und stellt einen jungen Mann in den Mittelpunkt, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde und nun seinen Platz in der Welt sucht. Eine Liebesgeschichte entwickelt sich. Doch die Verstrickung in die Kriminalität ist dermassen gross, dass er nicht entkommen kann.
Der Regisseur Basil da Cunha zeigt seine gefallenen Figuren vollständig überhöht in einer komplexen Humanität. Er fängt ihre Schönheit ein, obwohl sie sich mit Worten und Taten auf furchtbaren Abwegen befinden. Der Film ist gerahmt von einer Taufe am Anfang und einer Totenprozession am Schluss. Auch der junge Mörder fügt sich in diese Prozession ein. Gibt es unter diesen sozialen Bedingungen eine Form der Erlösung? Eine Frage, die nur aus einem theologischen Blickwinkel beantwortet werden kann.
Camille – eine Fotoreporterin in Afrika
Auch die Menschen in der Zentralafrikanischen Republik sind dem Tod geweiht. Die kriegerischen Auseinandersetzungen führen in eine permanente Spirale von Gewalt und Gegengewalt. In diesem Kontext arbeitet die junge Fotografin Camille Lepage. Sie gibt sich voll und ganz in ihren Beruf hinein, kann Fotostrecken an die französische Presse verkaufen und macht sich in Paris einen Namen. Doch sie kehrt immer wieder zurück nach Zentralafrika. Sie hat hier Menschen kennengelernt, mit denen sie nicht nur als professionelle Fotografin zusammenlebt. Es ist eine Form der Compassion, die Camille erlebt. Persönliche Beziehungen führen dazu, dass sie Soldaten in ihrem Kampf begleitet, dabei deren Leben und Sterben dokumentiert. Camille ist glücklich, aber auch an Leib und Leben gefährdet. Sie entscheidet sich zwischen einer erfolgreichen Berufskarriere als Fotografin und der menschlichen Zuwendung zu den afrikanischen Protagonisten. Anstatt in den nächsten Krisenherd, die Ukraine, reist sie zurück nach Afrika. Sie wird nicht mehr zurückkehren.
Der Film von Boris Lojkine gewann in Locarno auf der Piazza Grande den Publikumspreis. Sowohl engagiert als auch mitfühlend vermittelt der Regisseur das Bild einer radikal Liebenden. Camille Lepage ging in ihrem Fotoberuf auf und hat sich für ein höheres Ziel geopfert. Die filmische Hommage stellt Fragen an die Zuschauenden, die nicht auf Anhieb zu beantworten sind: Womit ist diese Form der Compassion zu erklären? Welche Motivation hat Camille für ihr Engagement gehabt? Wie weit ging ihre Faszination für das Land und die Menschen in Zentralafrika? Im Wissen um den potentiellen Tod auf dem Kriegsfeld hat die Protagonistin in Afrika gelebt, gearbeitet und gelitten. Der Film ist eine moderne Martyriums-Geschichte: An die Stelle der religiösen Symbolik tritt das humanistische feu sacré.
«Maternal» – Mutterliebe in vielen Facetten
Was ist die Heilige Familie: ein Modell, ein Symbol oder ein verlorenes Ideal? In einem argentinischen Kloster betreibt ein Frauenorden aus Italien ein Heim für alleinerziehende Mütter mit Kindern. Die beiden jungen Frauen Lu und Fati sind durch ihre Schwangerschaft plötzlich mit dem Ernst des Lebens konfrontiert, obwohl sie noch Teenager sind. Die Schwestern unterstützen sie mit allem was sie brauchen. Vor allem sind es die kleinen Kinder, die betreut werden müssen. Die junge Schwester Paola trifft in der Eröffnung von «Maternal» im Kloster ein. Sie steht kurz vor ihren ewigen Gelübden. Angesichts der sozial fragilen Situation der Frauen im Heim engagiert sie sich stark für die Kinder.
Selten hat ein Film das Thema der Mutterliebe so differenziert durchgespielt. Es erscheint das Bild der Heiligen Familie, das eine alte Nonne den Kindern zeigt und in ihrer Katechese darlegt. Der kleine dreijährige Junge von Fati entwickelt daraus sein eigene Kinder-Theologie. Nach der Geburt des zweiten unehelichen Kindes von Fati, es ist ein Mädchen, krabbelt der kleine Junge aufs Bett zur Mutter und meint: «Jetzt sind wir eine Heilige Familie.» Die Männer sind in diesem Film vollständig abwesend. Väter übernehmen überhaupt keine Verantwortung. Doch der Dreijährige imaginiert sich als Josef in das Bild der Heiligen Familie hinein. Das ist liebevoll komisch wie auch theologisch anregend.
Die Herausforderung des Films ist jedoch die Bedürftigkeit und Zerbrechlichkeit sowohl der jungen Mütter als auch ihrer Kinder. Hier versuchen die Schwestern einen Halt zu geben. Dabei geht die junge Schwester Paola auf eine Gratwanderung: Als Lu aus dem Heim verschwindet und untertaucht, nimmt sie die Mutterrolle für deren kleines Mädchen an. Das Gitterbett wird in die Zelle von Schwester Paola gezügelt, die Spielsachen ebenso. Sie gibt sich der Rolle vollständig hin. Die bedingungslose Liebe von Schwester Paola wirkt überraschend vielschichtig. Wieviel selbstlose Liebe ist hier im Spiel? Wie gross ist das Eigeninteresse der jungen Schwester? Ist das nicht eine Grenzverletzung? Der Film spielt in den Bildern zwischen der «Madonna mit Kind» und der abgründigen Möglichkeit einer Kindesentführung. Diese Ambivalenz erzeugt erzählerische Spannung und ästhetische Vieldeutigkeit.
universale Bedeutung von Mutterliebe
Damit gelingt es der jungen Regisseurin Maura Delpero, die universale Bedeutung von Mutterliebe sowohl spirituell als auch leibhaftig konkret durchzuspielen. Der liebende Blick der Filmmacherin auf dieses religiöse und soziale Drama ist in jeder Einstellung spürbar. Die Ökumenische Jury von Locarno verlieh diesem Film ihren Preis. Sie hält dazu in ihrer Begründung fest: «Dabei wirft die Regisseurin einen tiefen, liebevollen Blick in einen konfliktreichen Mikrokosmos, in dem vielfältige Stimmen und vielschichtige soziale, politische und spirituelle Aspekte zum Vorschein kommen – im Ringen um die Wahrheit. Der mit hoher ästhetischer Kompetenz gestaltete Film wirft dringende universelle und moralische Fragen auf.»
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Charles Martig ist Direktor des Katholischen Medienzentrums und Filmjournalist der Redaktion kath.ch.
Beitragsbild: Camille, Regie: Boris Lojkine; © Locarno Film Festival
Links
Preise der Ökumenischen Jury am 72. Locarno Film Festival
https://www.inter-film.org/de/festivals/festival-du-film-locarno/72-locarno-film-festival#
«Camille», Frankreich 2019, Regie: Boris Lojkine
https://www.locarnofestival.ch/pardo/program/archive/2019/film.html?fid=1116344&eid=72
«Camille» im Verleih von Trigon-Film: https://www.trigon-film.org/de/movies/Camille
«Maternal», Italien / Portugal 2019, Regie: Maura Delpero
https://www.locarnofestival.ch/pardo/program/archive/2019/film.html?fid=1117915&eid=72
«O Film do Mundo», Schweiz 2019, Regie: Basil Da Cunha
https://www.locarnofestival.ch/pardo/program/archive/2019/film.html?fid=1112801&eid=72
«Vitalina Varela», Portugal 2019, Regie: Pedro Costa
https://www.locarnofestival.ch/pardo/program/archive/2019/film.html?fid=1119330&eid=72