Mit Rassismus wollen wir nichts zu tun haben, schon gar nicht in der Kirche. Im Interview erzählt Sarah Vecera, warum aus dieser Haltung neue Verletzungen erwachsen und wie Kirche wirklich ein sicherer Ort für People of Colour werden könnte.
Feinschwarz: Woran liegt es, dass wir eine weiße Kirche sind? Was macht es so schwer, sich innerhalb der Kirche mit vorhandenem Rassismus auseinandersetzen?
Vecera: Interessant ist ja erst mal zu fragen: wen bezeichnen wir eigentlich als Kirche? Wir haben immer die sogenannten Volkskirchen vor Augen. Denken wir dagegen an Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, dann ist unsere Kirche ja gar nicht so weiß. Und auch global gesehen: die weltweite Kirche besteht zu 70% aus People of Colour (PoC). Aber die Entscheidungsmacht liegt auch in der globalen Kirche häufig in den Händen von Weißen. Auch in Deutschland sind internationale Gemeinden nicht so privilegiert wie die Volkskirchen. Wir nehmen sie institutionell raus, aber auch in unseren Köpfen, wenn wir uns Kirche vorstellen.
Die geschichtlichen Gründe dafür gehen zurück bis in die Kolonialzeit. Und da können wir uns als Kirche weder für die Vergangenheit noch für die Gegenwart davon freisprechen. Gleichzeitig wird Rassismus in Deutschland moralisch unheimlich hoch aufgeladen. Damit wollen wir nichts zu tun haben. Weil wir uns in der Schule – und das ist ja auch richtig – viel mit der NS-Zeit beschäftigen, lernen wir, dass Rassismus mit einer Absicht verbunden ist und dass es das seit 1945 nur noch als Einzelfall – den Nazi – gibt. Zu denen zählen wir uns aber nicht, weil wir uns in der Kirche doch für PoC hier und in der Welt engagieren. Wenn wir uns das rassistische System anschauen, dann betrachten wir es von außen.
Wir betrachten das rassistische System von außen.
Erst seit dem Mord an George Floyd und der aufkommenden blacklivesmatter-Bewegung im letzten Jahr beschäftigen wir uns in der Breite der Gesellschaft mit einem anderen Rassismus-Begriff: Wir erkennen an, dass wir alle rassistisch geprägt wurden und dass die weiße Dominanzgesellschaft aufrechterhalten wird in institutionellem Rassismus und Alltagsrassismus.
Die Schwierigkeit, in der Kirche über Rassismus zu reden hängt aber vielleicht auch damit zusammen, dass wir als Protestanten doch auch an Werkgerechtigkeit glauben. Wir predigen zwar die Gnade, aber wir könnten ganz anders über Rassismus sprechen, wenn wir anerkennen würden, dass wir – genau wie von anderen Unrechtsstrukturen: patriarchalen, kapitalistischen – rassistisch geprägt wurden und dass wir da erst einmal nichts dafür können. Wir profitieren in vielerlei Hinsicht von diesen Strukturen. Auch ich profitiere vom Kapitalismus, weil ich – auch als Frau und PoC – in einem der reichsten Länder der Welt und als Akademikerin viele Privilegien habe und auf Kosten anderer lebe. Aber wir denken irgendwie, die Gnade braucht man nur für ganz schlimme, absichtliche Dinge, die wir selber nicht machen.
Wir denken: Gnade braucht man nur für ganz schlimme Dinge
Welche Konsequenzen hat das? Wo wird es unbequem?
Wenn ich im Ruhrgebiet durch die Innenstadt gehe, dann sehe ich ganz andere Menschen als in der Kirche. Dort sehe ich sie höchstens als Hilfsbedürftige: Kinder in den kirchlichen Kindergärten, Geflüchtete, Menschen auf Spendenplakaten und die, die wir in unsere Fürbitten einschließen. Das sind die Menschen, denen wir helfen wollen. Aber wenn sie mit am Tisch sitzen und mitbestimmen wollen, wird es schwieriger. Ordinationen und theologische Abschlüsse aus dem Ausland werden nicht anerkannt, auch wenn einige wenige Landeskirchen das – wohl auch wegen Pfarrer:innenmangel – inzwischen öffnen. Es sind kaum PoCs in ehren- und hauptamtlichen Leitungsgremien der beiden großen Volkskirchen vertreten. Dort sitzen aber die Menschen, nach deren Blick, Sicht und Perspektive auf diese Welt und unsere Gesellschaft Kirche gestaltet wird. Wen sprechen wir an? Wie sprechen wir? Wem gegenüber sind wir einladend? Wem gegenüber sind wir – unbewusst – nicht einladend? Wenn ich als Schwarze Person in die Kirche komme und ich sehe nur weiße Personen, dann weiß ich nicht, ob ich hier auch willkommen bin.
Wenn PoCs mit am Tisch sitzen und mitbestimmen wollen, wird es schwieriger.
Und die wenigen PoCs in unserer Kirche machen sehr schmerzhafte Erfahrungen: etwa dass Leute beim Abendmahl nach ihnen nicht mehr aus dem Kelch trinken. Oder dass der Schwarzen Pfarrerin beim Trauergespräch erst einmal die Tür vor der Nase zugeschlagen wird: „Was wollen Sie hier, wir kaufen nichts!“. Und wenn sie dann erklärt, dass sie die Pfarrerin ist, darf sie sich erst mal anhören, dass es der Vater „ja nicht so mit Schwarzen hatte“. Sie muss dann in der Seelsorge-Rolle bleiben und findet nirgendwo Supervision oder Support, um solche Erfahrungen aufzuarbeiten. Stattdessen trifft sie auf Menschen in ihrer weißen Kirche, die dann sagen: „So schlimm war das ja auch nicht und die haben ja auch am Ende gesagt, dass es ja vielleicht ganz schön ist, wenn der Vater jetzt von einer Schwarzen beerdigt wird.“ Echte Gefühle werden immer wieder geleugnet und negiert. Dann hören PoCs irgendwann auf, Rassismus anzusprechen, mit dem sie von Gemeindemitgliedern oder Kolleg:innen konfrontiert werden, sondern lächeln nur noch. Oder sie gehen irgendwann.
Viele Schwarze Menschen, die in der weißen Mehrheitskirche aufgewachsen sind, haben schon als Kind ganz häufig gehört: „Gott liebt alle Kinder“ und hatten das Gefühl, dass ihnen das besonders häufig gesagt werden musste. Für sie wurden ja auch extra Lieder geschrieben: „schwarze, gelbe, rote – Gott hat sie alle lieb.“ Kinder sind ja auch nicht dumm, die merken so was. Das zieht sich aber durch, dass Menschen willkommen geheißen werden und man sich als sicherer Ort wähnt. Und dann geschieht in diesem Ort Verletzung, die dann auch noch negiert und nicht anerkannt wird. Das ist kaum zu verarbeiten. Zumal wir auch keine qualifizierten Anlaufstellen haben.
Wir haben keine qualifizierten Anlaufstellen für Rassismuserfahrungen.
Wenn man das so anspricht, sagen Menschen oft: ja, aber wir bemühen uns doch! Wie könnte Kirche wirklich ein sicherer Ort werden?
Das erste ist vielleicht: wir reden nicht über Einzelfälle und davon, dass manches gut Gemeinte schlecht rüberkommt. Das rassistische System steckt so tief in uns drin, dass wir uns eine rassismusfreie Welt nicht vorstellen können – auch ich als Aktivistin kann das nicht. Das ist aber nicht schlimm, weil ich als Christin daran gewöhnt bin, an etwas zu glauben und auf etwas zu hoffen, das meine Vorstellungskraft übersteigt. Damit beende ich jede Predigt, dass der Friede der höher ist als alle Vernunft unsere Herzen und Sinne bewahren möge.
Wir reden nicht über Einzelfälle, sondern ein jahrhundertealtes System.
Und wie bei der Unverfügbarkeit Gottes kann ich mir bewusst machen, dass ich es nicht erfassen werde, mich aber jeden Tag bemühen kann, es zu verstehen. Diese Diskrepanz erzeugt vielleicht eine gewisse Demut, in der ich mich nicht beschuldigt fühle, sondern versuche, ein sehr altes System zu dekonstruieren.
Wie können wir das angehen?
Rassismus geht ja mit Eurozentrismus einher. Wenn wir kontextuelle Theologie definieren, dann sind das zum Beispiel immer andere Kontexte. Aber unsere Perspektive wird nicht als Kontext wahrgenommen, das ist der Standard, die Norm, daran wird alles gemessen. Das fängt in der Theologie an, aber es ist auch die Art, wie wir Gottesdienst feiern, wie wir trauern oder Feste feiern. Das eigene als Standard zu verstehen, haben natürlich alle Menschen dieser Welt ein Stück weit in sich. In Europa können wir uns aber nicht davon frei machen, dass wir eine Geschichte im Gepäck haben, die das problematisch macht.
Unsere europäische Perspektive wird nicht als Kontext wahrgenommen, sondern als Standard.
Wir könnten uns fragen: Wie können wir explizit PoCs einladen in unsere Kirche, in Gemeinden und in Ehren- und Hauptamt? Nicht als Erfüllung von Quoten, sondern weil wir wirklich daran glauben, dass andere Perspektiven uns helfen, unsere Gesellschaft besser in den Blick zu nehmen. 25% der Menschen in Deutschland haben Migrationshintergrund, bei den Kindern unter fünf Jahren sind es 40%. Das sind natürlich nicht alles PoCs, aber das ist eine Lebenswirklichkeit, die wir in unserer Volkskirche nicht im Blick haben. Selbst in allen Debatten um sinkende Mitgliedszahlen sind wir wenig selbstkritisch antirassistisch unterwegs. Viele sagen, aber wir sind doch einladend und das ist alles ganz schön und nett bei uns. Schön und nett ist es aber oft nur für weiße Mittelschichtsmenschen.
Das können wir auch ändern, wenn wir Dinge anders darstellen. Ganz praktisch: In Kinderbibeln begegnen uns selbst Jesus und alle Figuren als weiß und eurozentrisch. Das führt dann letztlich dazu, dass man sich den lieben Gott auch als männlich und weiß vorstellt. Biblische Figuren waren aber in der Mehrheit PoCs. Mit einer neuen, rassismus-sensiblen Kinderbibel[1] wollen wir das ändern.
Sie haben ja im Frühjahr eine Quote für PoC in kirchlichen Gremien gefordert. Welche Hoffnung stand hinter dieser Forderung? Wie wurde darauf reagiert?
Eine häufige Reaktion war, dass eine Quote alleine nichts bringt. Dem würde ich auch zustimmen. Im schlimmsten Fall holen wir Menschen in unsere Gremien, aber sie fühlen sich nicht sicher, ihre Meinung und Perspektive offen einzufordern. Da gehört viel mehr dazu. Wir müssen etwa viel mehr Antirassismustrainings in der Kirche ermöglichen – an der Gemeindebasis, unter Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen auf allen Ebenen. Selbst wenn in Büchern und den großen Medien jetzt von kritischem Weißsein gesprochen wird, werden viele Menschen nicht mitgenommen und wissen nicht, was das bedeutet.
Eigentlich hätte Kirche eine Fürsorgepflicht…
Wir tauschen uns mit einer Gruppe von PoCs innerhalb der Kirche einmal im Monat per Zoom aus. Als wir vor einem Jahr angefangen haben, dachten wir, dass wir ganz viel Aktionen machen, sichtbar werden. Aber eigentlich kehren wir fast jeden Monat einen Scherbenhaufen weg, weil wir da erstmals einen Raum haben um offen darüber zu sprechen, wo Schmerz zugefügt worden ist. Eigentlich hätte Kirche eine Fürsorgepflicht gehabt, uns diesen Raum zu geben. Nicht weil Kirche uns als Opfer von Rassismus sieht. Menschen, die immer wieder Rassismus erleben, Mikroaggressionen ausgesetzt sind, die sind ganz schön stark, deshalb ist es besser von Überlebenden zu sprechen (Audrey Lorde). Da bringt es nichts, wenn die weiße Mehrheitskirche kommt und sagt, wir kümmern uns um euch. Es müsste um Empowerment-Räume gehen. Und Kirche müsste dafür sorgen, dass weiße Menschen sensibilisiert werden, ihre eigene Sozialisation reflektieren. Das ist auch schmerzhaft, wenn man die eigene rassistische Sozialisation wahrnimmt, obwohl man sich doch sehr für Gerechtigkeit einsetzt. Dieser Schmerz sollte auch seelsorgerlich wahrgenommen werden, denn weiße Menschen haben es sich auch nicht ausgesucht, als weiße Menschen in diese Welt hineingeboren zu sein. Es hilft nicht, den Schmerz von Weißen und Schwarzen gegeneinander auszuspielen.
Und wie ist es mit der Ebene von Kirchenleitung und Verwaltung?
Ich glaube, dass Bewegungen von unten sehr viel verändert haben, in der Gesellschaft und in der Kirche. Natürlich wäre das schön, wenn Kirchenleitende beschließen, Ressourcen zur Verfügung zu stellen: zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte der Missions- und Kolonialzeit, der Entwicklung anderer Programme und Empowerment, für personelle Ressourcen. Aber wir sollten die Bewusstseinsänderungen an der Basis nicht unterschätzen. Es ist ein Marathon, kein Sprint.
Es ist ein Marathon, kein Sprint.
Wenn ich mir meine Kinder anschaue, dann sehe ich, was sich schon geändert hat – was sie für Bücher im Schrank haben, welche Dinge angesprochen werden, die in meiner Kindheit nie angesprochen wurden. Dann hoffe ich, dass sie im Erwachsenenalter nicht mehr so viel verlernen müssen, wie ich. Und das können wir ja nicht nur mit eigenen Kindern tun, sondern auch mit Patenkindern und in Kitas. Da haben wir als Kirche, zweitgrößter Arbeitgeber in Deutschland, viel Macht. Gerade gibt es etwa viele studentische Bewegungen, die sich für mehr Diversität in der Lehre einsetzen und die Repräsentation von PoC Theolog:innen.[2] Da bin ich schon sehr hoffnungsvoll.
Ich glaube auch, dass wir als Kirche eigentlich großes Potential haben. Schon die Idee von Kirche war ja mehr als eine monokulturelle Gemeinschaft. Adam und Eva sind weder Hebräer:innen noch Ägypter:innen, noch haben sie eine Hautfarbe. In den zehn Geboten stellt sich Gott als jemand dar, der:die durch den Exodus befreit und aus Unterdrückung herausführt. Paulus schreibt an Gemeinden, die sich durch unterschiedliche Perspektiven auszeichnen und wo es auch immer wieder knallt. Und für Paulus war ja nicht die Lösung, dass man sich spaltet. Morgens um 10 Uhr feiert die weiße Gemeinde und nachmittags um 15 Uhr die afrikanische und ihr geht euch aus dem Weg. So war Gemeinde niemals gedacht.
Wir haben als Kirche so viel Einfluss und sind so privilegiert.
Wir haben als Kirche so viel Einfluss und sind so privilegiert: wir haben Einfluss in der Gesellschaft, wir haben immer noch viele Mitglieder und Mitarbeitende, wir prägen viele Menschen. Wir haben den Traum von einer Kirche aus der Bibel im Gepäck, der es eigentlich ermöglichen sollte, und wir haben den Glauben an etwas, das wir uns nicht vorstellen können und trotzdem hoffen wir und arbeiten für das Reich Gottes. Es ist viel Potential da, wir müssen es nur richtig anpacken.
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Sarah Vecera, Theologin und Religionspädagogin, ist stellv. Leiterin der Region Deutschland der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) und Prädikantin der Evangelischen Kirche im Rheinland. Auf instagram postet sie über Alltagsrassismus und antirassistische Initiativen in der evangelischen Kirche.
Interview: Dr. Kerstin Menzel, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Praktische Theologie der Universität Leipzig
Initiativen und Termine
Netzwerk antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie (narrt)
Termine für Studientage (etwa am 30.10. in Wuppertal und am 2.11. in Villigst/Schwerte) auf der Seite der Vereinten Evangelischen Mission
PoC, die Interesse an dem monatlichen Vernetzungstreffen haben, können sich gern bei Sarah Vecera anmelden.
Die Großschreibung von Schwarz und die Kursivierung von weiß markieren, dass es bei beiden Begriffen um mehr als Hautfarben geht, nämlich um sozial konstruierte Zuschreibungen und damit verbundene gesellschaftspolitische Machtpositionen.
[1] Die Kinderbibel ist ein Gemeinschaftsprojekt der EKiR, der EKvW, dem Institut für Ev.Theologie (TU Dortmund), dem Religionspädagogischen Institut beim Evangelischen Oberkirchenrat der Ev.Landeskirche in Baden und der Vereinten Evangelischen Mission.
[2] Etwa in Leipzig #theoversity, in Hamburg decolonize theology, in Göttingen die Basisgruppe The*logie.